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Der Unternehmer Hugo Stinnes war einer der bedeutendsten deutschen Großindustriellen der ausgehenden Kaiserzeit und der ersten Jahre der Weimarer Republik. Er schuf einen der größten Konzerne Deutschlands und Europas, ein Konglomerat, das nicht nur Bergwerke und Unternehmen der Eisen- und Stahlerzeugung und -verarbeitung, sondern auch Schifffahrts- und Handelsunternehmen sowie weitere Aktivitäten des Tertiären Sektors umfasste. Auch die innovative Unternehmenskonzeption der Rheinisch Westfälisches Elektrizitätswerk AG (RWE) beruhte wesentlich auf Ideen von Stinnes. Als informeller Sprecher der Industriellen wurde Stinnes in den wirtschaftspolitischen Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften während der Revolution von 1918/1919 zum exponiertesten Vertreter der Arbeitgeberseite, dem es gelang, mit den Gewerkschaften ein Abkommen zur Regelung der künftigen Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auszuhandeln, das zur Pazifizierung der höchst unruhigen sozialen Situation in Deutschland beitrug. Auch danach engagierte er sich in der Wirtschafts-, Außenwirtschafts- und Sozialpolitik. Der Ausbau seines Konzerns in den Jahren nach dem Kriegsende 1918 war nur durch die Aufnahme fremden Kapitals in – für die Zeitverhältnisse – sehr großem Umfang möglich. Der Erfolg dieser Strategie trug Stinnes den Ruf eines Inflationsgewinnlers ein. Sein zunächst profitabler Mischkonzern überdauerte ihn nur kurz, weil seine Erben, mit den Umständen der sogenannten Stabilisierungskrise von 1924/25 konfrontiert, falsche Entscheidungen trafen.
Hugo Stinnes wurde am 12.2.1870 als Sohn des Industriellen Hermann Hugo Stinnes (1842–1887) und seiner Ehefrau Adeline Stinnes geborene Coupienne (1844–1925) in Mülheim an der Ruhr geboren und war evangelischer Konfession. Er und seine drei Geschwister bildeten die dritte Generation einer Mülheimer Unternehmerfamilie, deren Aktivitäten mit der Gründung eines Unternehmens für Kohlenhandel und Schifffahrt durch Mathias Stinnes (1790–1845) im Jahr 1808 ihren Anfang genommen hatten. Als Mathias Stinnes 1845 starb, war er Eigentümer lukrativer Bergwerke im Raum Essen und der bedeutendste Reeder an der Ruhr sowie am Rhein zwischen Koblenz und Amsterdam. Mathias’ Söhne und sein Schwiegersohn bewahrten und mehrten den Bergwerksbesitz. Mathias’ Enkel Hugo Stinnes ging nach dem Abitur am Mülheimer Realgymnasium bei der Koblenzer Eisenhandlung Carl Spaeter in die Kaufmannslehre, arbeitete dann für einige Monate in der Mülheimer Zeche Ver. Wiesche – über wie unter Tage – und besuchte danach für ein Jahr (1889/1890) die Technische Hochschule in Charlottenburg (heute Berlin). 1890 brach er das Studium ab und trat als Prokurist in die Leitung der Bergbaubetriebe der Familie ein, an deren Spitze sein Vetter Gerhard Küchen jun. (1861–1932) stand.
1892 gründete Stinnes mit finanzieller Unterstützung seiner Mutter, die ihre Anteile aus der Firma Math. Stinnes zurückzog, ein Einzelunternehmen, das seinen Namen trug; zugleich übernahm er die technische Leitung der Bergbaubetriebe der Familie, deren Gesamtleitung in der Hand Küchens blieb. Das Einzelunternehmen Hugo Stinnes wurde 1903 in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt. Es betrieb zunächst den lukrativen Kohlenhandel, entwickelte sich aber schon bald zu einem Handels- und Schifffahrtskonzern mit eigener Flotte und handelte außer mit Kohle und Kohleprodukten auch mit Eisen und Stahl. 1893 erfolgte eine weitere Gründung; die Kohlen-Aufbereitungs-Anstalt GmbH in Straßburg belieferte unter anderem die Schweizer Eisenbahnen mit Kohle. 1914 hatte die Hugo Stinnes GmbH rund 60 Tochterunternehmen. Inländische Niederlassungen waren in Berlin, Hamburg, Mannheim und Straßburg; Auslandsvertretungen existierten in der Schweiz, in Großbritannien, Italien, Dänemark, Schweden, Russland und den Vereinigten Staaten.

Hugo Stinnes (1870-1924), 1890er.
1895 heiratete Stinnes Clara Wagenknecht (1872–1973), die Tochter eines vermögenden Überseekaufmanns; aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor. Hugo Stinnes, der im Haus Delle 38 in Mülheim aufgewachsen war, baute Ende der 1890–er Jahre an der nahegelegenen Schlossstrasse ein relativ schlichtes Wohnhaus. Später wurde noch ein Bauerngut im Broich-Speldorfer Wald, genannt Haus Rott, erworben, das zur Erholung dienen sollte. Im Gegensatz zu einigen anderen Ruhr-Industriellen der Kaiserzeit legte Stinnes nicht viel Wert auf äußeren Glanz – auch als Lenker des größten Konzerns Europas seit 1920 bezeichnete er sich stets nur als „Kaufmann aus Mülheim“ – und überließ seiner gesellschaftlich ambitionierteren Frau bestimmte Aufgaben der sozialen Repräsentation. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war der Bau einer großen Villa beim Haus Rott geplant, der jedoch unterblieb. Nach dem Krieg erwarb Stinnes Häuser in Berlin und Hamburg; Hauptwohnsitz der Familie wurde auf Wunsch der Ehefrau neben Mülheim das 1916 wegen seiner Holzungen erworbene Schlossgut Weisskollm in der Oberlausitz.
In den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg baute Stinnes einen Konzern auf, der Unternehmen und Beteiligungen im Bergbau, in der Eisen- und Stahlindustrie, im weltweiten Handel und in der Elektrizitätswirtschaft umfasste. Mit zwei anderen Mülheimer Industriellen, den Brüdern August (1842–1926) und Joseph Thyssen (1844–1915), sowie dem Mülheimer Bankier Leo Hanau (1852-1927) gründete Stinnes am 23.5.1898 die Aktien-Gesellschaft Mülheimer Bergwerksverein (MBV), die 1898/1899 Stinnes’ Plan verwirklichte, die technisch veralteten, ständig von Wassereinbrüchen bedrohten Mülheimer Zechen Rosenblumendelle, Wiesche und Humboldt und die Zeche Ver. Hagenbeck in Essen betriebswirtschaftlich zusammenzuschließen. Investitionen in die Modernisierung der bestehenden Anlagen und die Abteufe weiterer Schächte führten zu einer erheblichen Steigerung der Förderung.
Im Frühjahr 1898 eröffnete sich Stinnes ein weiteres Betätigungsfeld. Die Elektrizitäts-AG vorm. W. Lahmeyer & Co. (EAG) in Frankfurt am Main und befreundete Unternehmen, die am 25.4.1898 die Rheinisch Westfälisches Elektrizitätswerk AG (RWE) mit Sitz in Essen gründeten, beriefen ihn in den ersten Aufsichtsrat des RWE. Stinnes ging es zunächst darum, durch Kohlelieferungen an das RWE den Absatz seiner Zechen zu stabilisieren. Das RWE baute seine „Stammzentrale“ neben der alten Stinnes-Zeche Victoria Mathias nördlich der Essener Altstadt; hier ging 1899 die erste Dampf-Wechselstrommaschine in Betrieb, die Strom für Verbraucher im Stadtgebiet von Essen erzeugte. Während der Energiepreiskrise von 1902 haben Stinnes und Thyssen mit Hilfe der Deutschen Bank, der Dresdner Bank und der Disconto-Gesellschaft gemeinsam den Mehrheitsanteil der EAG am Aktienkapital des RWE erworben, dessen Gesellschafter Stinnes zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates wählten. Stinnes wurde zum strategischen Kopf des RWE, das auf der Grundlage von Stein- und Braunkohle schon vor dem Ersten Weltkrieg seine Kraftwerkskapazitäten in beispiellosem Umfang ausbaute und Stromlieferverträge mit Städten und Gemeinden des westlichen Ruhrgebietes, des Niederrheins, des Bergischen Landes und des Raums Köln–Bonn sowie mit Nahverkehrsunternehmen abschloss. Seit 1905 konnten sich die Städte und Gemeinden, die vom RWE mit Strom versorgt wurden, am Aktienkapital beteiligen (zuerst Essen, Mülheim und Gelsenkirchen). Das RWE wurde zum größten Stromversorger Deutschlands. Stinnes’ Projekt, es auch zu einem regionalen Gasversorger zu machen, scheiterte wegen Differenzen mit August Thyssen, der selbst in die Gas-Fernversorgung einsteigen wollte und dabei größere Erfolge erzielen konnte als das RWE, dessen relativ kleines Gasleitungsnetz später von der Ruhrgas AG übernommen wurde.

Hugo Stinnes (1870-1924) mit seiner Frau Clara Stinnes (1872-1973), geb. Wagenknecht, auf dem Weg zum Reichstag, ca. 1920.
1901 hob Stinnes nach dem Erwerb von Anteilen an Montanunternehmen im Ruhrgebiet und in Luxemburg mit Hilfe der Bank für Handel und Industrie ein Eisen- und Stahlunternehmen aus der Taufe, die Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten-Aktiengesellschaft (kurz Deutsch-Lux genannt), womit ein neues Kapitel seiner unternehmerischen Laufbahn begann. Deutsch-Lux wuchs in den folgenden Jahren durch Fusionen und Zukäufe zu einem der größten vertikal organisierten Montanunternehmen Deutschlands und hatte 1910 ein Aktienkapital von 100 Millionen Mark. Die bedeutendsten, beide durch Fusion vollzogenen Akquisitionen von Deutsch-Lux waren die AG Bergwerks-Verein Friedrich Wilhelms-Hütte in Mülheim (1905) und die 1872 gegründete Dortmunder Union AG für Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie (1910). Mit der Union kam der Ingenieur Albert Vögler (1877–1945) mit Stinnes in Verbindung; dieser überaus fähige Manager wurde Vorstandsmitglied von Deutsch-Lux und Stinnes’ wichtigster Helfer im Bereich der Montanindustrie.
Da der Stinnes-Konzern in vielen europäischen Ländern, besonders in Großbritannien, aktiv war, sah Hugo Stinnes die nach 1910 heraufziehende Gefahr eines Krieges der großen Mächte mit Sorge und äußerte im politischen Raum mehrfach Warnungen vor den Folgen eines Krieges. Nach Kriegsbeginn stellte Stinnes wie andere Industrielle die Fertigung seiner Unternehmen teilweise von Friedens- auf Kriegserzeugnisse um; Deutsch-Lux wurde mit seinen Werken zu einem der größten deutschen Produzenten von Munition (Granaten). Mit anderen Industriellen forderte er im Interesse der dauernden Sicherung einer ausreichenden Zufuhr an hochwertigen Erzen für die deutsche Montanindustrie unter anderem die Annexion der Erzregion von Longwy-Briey und die Kontrolle über die Erzvorkommen in der Normandie. Stinnes teilte weitgehend die Forderungen und Ziele des Alldeutschen Verbandes und seit 1917 der neu gegründeten Vaterlandspartei. Wie andere deutsche Industrielle befürwortete er den Zwangseinsatz arbeits-loser belgischer Arbeiter in der deutschen Kriegsindustrie, die dem Kriegsrecht zuwiderlief.
Gegen Ende des Krieges wurde Stinnes als einer der bedeutendsten Industriellen der deutschen Eisen- und Stahlindustrie zu einem Wortführer der Arbeitgeberseite in den Auseinandersetzungen um die künftige Wirtschaftsverfassung des Deutschen Reiches. Stinnes führte die Vertreter der Arbeitgeber in den Verhandlungen mit den Gewerkschaften über die Gestaltung der künftigen Arbeitsbeziehungen. Am 15. November 1918 unterzeichnete er neben dem Vorsitzenden der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Carl Legien (1861–1920) das Abkommen über die Bildung einer „Zentralarbeitsgemeinschaft für den Interessenausgleich mit den Gewerkschaften“ („Stinnes-Legien-Abkommen“), das die Einführung des Achtstunden-Arbeitstages und eines Tarifsystems sowie die Entwicklung eines kollektiven Arbeitsrechtes vorsah. Das Abkommen trug erheblich dazu bei, dass der revolutionäre Elan des Herbstes 1918 und des folgenden Winters nachließ und der von der SPD geführte, größere Teil der deutschen Arbeiterschaft eine kooperative Lösung der Arbeitskonflikte bevorzugte. Später trat Stinnes vehement für eine Verlängerung der 1918/19 verkürzten Arbeitszeiten ein. In die Debatte über die Sozialisierung des Kohlenbergbaues (1918–1921), in der sich zunächst die Modelle einer Vollsozialisierung und der „Gemeinwirtschaft“ gegenüberstanden (beides wurde von den Verbänden der Bergbauunternehmer abgelehnt), führte Stinnes zusammen mit dem rheinischen Braunkohlenindustriellen Paul Silverberg die sogenannte Konzernlösung ein, bei der die Mitbestimmung der Arbeiter durch die Ausgabe von Kleinaktien gewährleistet werden sollte. Die Debatte fand im Sommer 1921 im Zusammenhang mit der Reparationsfrage ein Ende und die Sozialisierung unterblieb.

Hugo Stinnes (1870-1924) und seine Familie (es fehlt der älteste Sohn).
1919/1920 übernahm Stinnes als Sachverständiger auch öffentliche Funktionen in den Verhandlungen über die von Deutschland zu leistenden Reparationen. Er schloss sich der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei an und zog für sie 1920 in den Reichstag ein. Gegen die von ihren Kritikern als „Erfüllungspolitik“ bezeichnete Bedienung der im Versailler Vertrag festgeschriebenen, für die deutsche Volkswirtschaft nicht tragbaren Reparationsforderungen der Alliierten trat Stinnes für eine auf Gleichberechtigung beruhende wirtschaftliche Zusammenarbeit in Mittel- und Westeuropa, insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich, ein. Steinkohle von der Ruhr und Minette-Erze aus Lothringen sollten ausgetauscht werden, ein Verfahren, das die Grundlage für industrielle Projekte europäischen Zuschnitts bilden konnte. Das Konzept war unrealistisch, weil, was Stinnes nicht erkannte, in Frankreich die Wirtschaft streng der Politik untergeordnet war und blieb. Erst 1926 etablierte man mit der Internationalen Rohstoffgemeinschaft ein System der multinationalen industriellen Kooperation. Stinnes’ Versuche, über wirtschaftliche Abkommen und Projekte auch in die deutsche Außenpolitik einzugreifen, waren unter den Bedingungen der Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen seit Januar 1923 größtenteils erfolglos und wurden im Herbst 1923 von Reichskanzler Gustav Stresemann (1878-1929), seinem wichtigsten Gegner in der DVP, ganz unterbunden. Im politischen Raum engagierte sich Stinnes auch für eine forcierte Motorisierung und Automobilisierung Deutschlands, und er kritisierte, dass auf Automobile eine „Luxussteuer“ erhoben wurde.

Hugo Stinnes als Friedensengel, Karikatur zum Stinnes-Abkommen im Simplizissimus, Bildunterschirft: 'Die Zeit der Romantik ist vorbei. Der Friedensengel sieht jetzt so aus.', nach Zeichnung von E. Schilling, 1923.
Der Stinnes-Konzern verlor durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages einen Teil seiner Rohstoffquellen der Vorkriegszeit und auch Produktionsstätten; so wurden alle Besitzungen von Deutsch-Lux in Lothringen und Luxemburg enteignet oder mussten verkauft werden. Zum Ausgleich dieser Verluste, und um den Konzern weiter wachsen zu lassen, erwarb Stinnes in Deutschland und im Ausland Unternehmen der Erdölförderung und des Ölhandels, der Braunkohlenförderung, der Holzgewinnung, der Papierproduktion und der Baustoffindustrie, eine Waggonfabrik, zwei Automobilwerke, Betriebe der Metallverarbeitung, Verlage und Druckereien, sogar Filmunternehmen in Potsdam und eine Tageszeitung. Er finanzierte die Käufe überwiegend mit Bankkrediten. Leitender Gedanke war, mit dem geliehenen Kapital reale Werte zu erwerben, in dem Bewusstsein, dass die hohen Schulden durch die Inflation entwertet würden. 1920 wurde die Koholyt AG (Berlin) gegründet, eine neue Holding für die Unternehmen der Chemischen Industrie, der Holz– und der Papierindustrie, die Stinnes im Laufe der Jahre erworben hatte. Holding für die Stinnes’schen Aktivitäten im Bereich der Erdölförderung und des Erdölhandels wurde die alteingeführte Riebeck’sche Montangesellschaft in Halle an der Saale, die seit 1923 Hugo Stinnes-Riebeck-Montan- und Oelwerke AG hieß. In Karnap gründete Stinnes die Glaswerke Ruhr AG mit einer hochmodernen Fabrik, deren Energiebedarf mit Kohle aus der benachbarten Zeche Mathias Stinnes befriedigt wurde. Stinnes erwarb auch Anteile an den Banken Berliner Handelsgesellschaft und Barmer Bankverein, an Versicherungen und an der Alpine Montan-Gesellschaft in Wien. Um Geld in Immobilien anzulegen, kaufte Stinnes mehrere Luxushotels wie das Esplanade und das Fürstenberg-Carlton in Berlin, das Atlantic in Hamburg und den Nassauer Hof in Wiesbaden. 1924 umfasste der Stinnes-Konzern mehr als 4.000 direkte oder indirekte Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen; die Gesamtzahl der Konzernbeschäftigten wurde auf 600.000 geschätzt.

Cover des Buches 'Stinnes und seine Konzerne' von Paul Ufermann und Carl Hüglin, 1924.
1919 ernannte die Technische Hochschule Aachen Stinnes zum Dr.-Ing. E.h. Letzter Höhepunkt seiner unternehmerischen Laufbahn war im Oktober 1920 die Gründung der Rhein-Elbe-Union GmbH, der Holding für einen großen Montankonzern, zu dem sich zunächst Deutsch-Lux und die Gelsenkirchener Bergwerks-AG (GBAG) zusammenschlossen und in den etwas später auch der Bochumer Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation einbezogen wurde. Die Holding erhielt ihren Namen nach einer der Zechen der GBAG (Rhein-Elbe, auch Rheinelbe geschrieben) und der Dortmunder Union, dem wichtigsten Bestandteil von Deutsch-Lux. Rechtlich gesehen war dieser Konzern nur eine Interessengemeinschaft; die sie gründenden Unternehmen blieben bestehen. Albert Vögler, Leiter von Deutsch-Lux, übernahm auch bei der Rhein-Elbe-Union den Vorstandsvorsitz. Das strategische Zusammengehen von Rhein-Elbe-Union, der Siemens & Halske AG (Berlin) und der Elektrizitäts-AG vormals Schuckert & Co. (Nürnberg), die im Dezember 1920 einen Betriebsgemeinschaftsvertrag schlossen und als „Siemens-Rhein-Elbe-Schuckert-Union“ in Erscheinung traten, war nicht von langer Dauer. Hatte die Inflation den Konzernausbau begünstigt und mittelbar zu hohen Gewinnen geführt, so kam mit der „Stabilisierungskrise“, die mit dem Ende der Inflation und mit der Währungsumstellung von 1924 begann, eine hochproblematische Zeit, was jedoch auch für andere Konzerne wie Krupp und die Gutehoffnungshütte galt. Wie der Stinnes-Biograph Gerald D. Feldman schrieb, verwandelte sich die „Flucht in die Sachwerte“ vom „Rettungsanker in einen Fluch“. In seinen letzten Lebensmonaten gab Stinnes seinen Söhnen auf, alle Werte, die nicht zwingend für das Kohlen- und Schifffahrtsgeschäft notwendig waren, zu verkaufen.

Hugo Stinnes (1870-1924). (George Grantham Bain Collection/Library of Congress, Washington, D.C., Digital File Number: LC-DIG-ggbain-31075)
Seit 1923 nahm Stinnes’ Gesundheit wegen physischer und psychischer Überforderung Schaden. Von einer missglückten Gallenoperation im März 1924 erholte er sich nicht mehr nachhaltig. Infolge einer beidseitigen Lungenentzündung starb Hugo Stinnes, erst 54 Jahre alt, am 10.4.1924 in Berlin. Vier Tage später fand in Berlin eine Trauerfeier statt, an der Reichskanzler Wilhelm Marx und fast das gesamte Reichskabinett – auch Gustav Stresemann – teilnahmen; danach wurde die Urne auf dem Mülheimer Altstadtfriedhof im Familiengrab beigesetzt.
Die Allgegenwart von Stinnes im deutschen Wirtschaftsleben, seine Rolle in der Wirtschafts- und Außenpolitik, die unzähligen Käufe von Unternehmen und Beteiligungen und das für Nichtökonomen unheimliche, rasche Wachsen seines Konzerns in der Inflationszeit machten Stinnes mehr als die meisten anderen Industriellen zu einer Person des öffentlichen Interesses. Die Aufnahme von Krediten in ungewöhnlich großem Umfang, mit der er die durch die Inflation entstandenen Finanzierungsmöglichkeiten nutzte, befremdete viele, seine Auslands- und Devisengeschäfte wurden beargwöhnt. Die deutsche Presse, insbesondere die den Arbeiterparteien nahe stehenden Zeitungen, beschäftigte sich immer wieder kritisch mit ihm. Nach Stinnes’ Tod verteufelte Heinrich Mann ihn in der literarisch zweitrangigen Kurznovelle Kobes (1925) als Ausbeuter. Das ideologische Gegenstück dazu bildete der Roman Kaufmann aus Mülheim von Nathanael Jünger (1925), der Stinnes als fürsorglichen Arbeitgeber und patriotischen Kämpfer gegen die Erniedrigung Deutschlands durch den Versailler Vertrag darstellte. In dem Ruhrgebiets- und Industrieroman Union der festen Hand von Erik Reger (1931) gehört der Stinnes nachgebildete, unkonventionelle und ideenreiche Industrielle Ottokar Wirtz zu den heller gezeichneten Figuren.
Stinnes’ Witwe, der Alleinerbin, und den Söhnen Edmund Stinnes (1896–1953) und Hugo Stinnes jun. (1897–1982), die als Generalbevollmächtigte tätig waren, gelang es nicht, den großen Konzern zu erhalten; vielmehr machten sie, die letzten Ratschläge des Vaters missachtend, krasse Fehler, die zum Untergang des Konzerns führten. Auch zerstritten sie sich, was dazu führte, dass Edmund schon im Frühjahr 1925 aus der Geschäftsführung ausschied. 1925 wurde die Hugo Stinnes GmbH zahlungsunfähig. Um die Liquidität wiederherzustellen, mussten große Teile des Konzerns und die Beteiligungen an der Rhein-Elbe-Union (über Deutsch-Lux) und der RWE AG veräußert werden; die Deutsch-Lux-Aktien erwarb eine britisch-amerikanische Gruppe unter Führung des Londoner Bankhauses Schröder und der Bank Dillon, Read & Co. in New York, die RWE-Aktien der Staat Preußen. Hugo Stinnes jr. konnte die Hugo Stinnes GmbH mit den Beteiligungen am Mülheimer Bergwerksverein und an der Gewerkschaft Mathias Stinnes (Mülheim / Essen) im Juli 1926 nur mit Hilfe eines in den Vereinigten Staaten aufgenommenen Kredits in Höhe von 25 Millionen Dollar und durch die Einbringung des Unternehmens und weiterer Werte in eine amerikanische Gesellschaft, die Hugo Stinnes Corporation (Baltimore), retten, an der die Familie Stinnes mit der Hälfte der Anteile beteiligt war. Einziges verbliebenes Geschäftsfeld der Hugo Stinnes GmbH war der Kohlenhandel, der jedoch florierte und die Familie vor dem Ruin bewahrte.
Literatur
Pinner, Felix, Deutsche Wirtschaftsführer, Charlottenburg 1924, S. 11-32.
Wulf, Peter, Hugo Stinnes. Wirtschaft und Politik 1918–1924, Stuttgart 1979.
Feldman, Gerald D., Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998.
Rasch, Manfred/Feldman, Gerald D. (Hg.), August Thyssen und Hugo Stinnes. Ein Briefwechsel 1898–1922, München 2003.
Online
Plumpe, Werner, „Hugo Stinnes“, in: Neue Deutsche Biographie 25 (2013), S. 355-357. [online]

Die Trauerfeier für den Industriellen Hugo Stinnes (1870-1924), der Sarg wurde von Bergknappen und Schiffs-Offizieren getragen, April 1924. (Bundesarchiv, Bild 102-00366 / CC-BY-SA 3.0)
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Kanther, Michael A., Hugo Stinnes, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hugo-stinnes/DE-2086/lido/5b44737625ada9.17678279 (abgerufen am 06.02.2025)
Veröffentlicht am 04.11.2018, zuletzt geändert am 04.05.2020