Zu den Kapiteln
Karl Joseph Kardinal Schulte durchlief in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine beispielhafte kirchenhierarchische Karriere – mit 38 Jahren wurde er 1910 Bischof von Paderborn, 1920 Erzbischof von Köln und ein Jahr später noch nicht einmal 50-jährig Kardinal – dennoch blieb der zurückhaltend-nüchterne Sauerländer in dem exponierten Hirtenamt in der rheinischen Metropole weitaus weniger im Gedächtnis haften als etwa sein Nachfolger Joseph Kardinal Frings. Doch hatte wohl kaum ein Kölner Oberhirte unter derart schwierigen politischen Rahmenbedingungen zu regieren wie dieser Kölner Erzbischof in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg bis in die ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs.
Schulte wurde am 14.9.1871 auf Haus Valbert bei Ödingen (heute Lennestadt) im Kreis Meschede (heute Kreis Olpe) als Sohn des Gutspächters Oswald Schulte und dessen Ehefrau Antonetta, geborene Schlünder, in der ländlichen Abgeschiedenheit des Sauerlandes geboren und verlebte dort eine wohl glückliche wie prägende frühe Kindheit. Aufgrund einer neuen Tätigkeit des Vaters in der Verwaltung der Krupp-Werke siedelte die Familie am Beginn der Schulzeit des Sohnes nach Essen, in die pulsierende Metropole des Ruhrgebietes, über. Der Schüler des Essener Burg-Gymnasiums erlebte dort den Aufschwung dieses wichtigen westdeutschen Industriereviers in den ersten Jahren des gerade gegründeten Kaiserreiches unmittelbar mit. Sein Religionslehrer Antonius Fischer - der einer seiner Vorgänger auf dem Kölner Bischofsstuhl werden sollte (Episkopat 1902-1912) - mahnte die soziale Frage als eine zunehmend wichtige für die katholische Kirche an. Und tatsächlich erlebte der Gymnasiast Schulte viele kirchliche Initiativen, die in diese Richtung wiesen, wie etwa die Gründung des „Volksvereins für das katholische Deutschland“ (1890) oder die Enzyklika „Rerum Novarum“ Papst Leos XIII. (Pontifikat 1878-1903), die 1891 erschien - in dem Jahr, in dem Schulte sein Abitur ablegte.
Anschließend begann Schulte das Studium der Theologie an der Universität Bonn und belegte weit mehr Fachgebiete als es der theologische Lehrplan vorschrieb – philosophische, historische und kunsthistorische Themen fanden ebenfalls sein Interesse. Den ersten und wahrscheinlich einzigen Bruch in seiner Vita erlebte der junge Student ausgerechnet in seiner Bonner Studienzeit: ein unerlaubter Wirtshausbesuch trug ihm den Verweis aus dem Collegium Albertinum, dem Theologenkonvikt der Kölner Erzdiözese in Bonn, ein, so dass er sein Studium außerhalb der Kölner Diözesangrenzen in Münster und anschließend im Paderborner Priesterseminar fortsetzen musste. Der damalige Paderborner Bischof Hubert Theophil Simar (1835-1902, 1891-1899 Bischof von Paderborn, danach bis 1902 Erzbischof von Köln) weihte Schulte schließlich am 22.3.1895 zum Priester.
In den folgenden sechs Jahren wirkte Schulte als Vikar in Witten an der Ruhr, einer Diasporagemeinde, die vom Steinkohlebergbau geprägt war. Dies sollten seine einzigen Erfahrungen in der praktischen Seelsorge bleiben, denn der neue Paderborner Bischof Wilhelm Schneider (1847-1909, Episkopat 1900-1909) berief Schulte 1901 als Repetent an das Theologenkonvikt der Bischofsstadt und 1903 in gleicher Stellung an das dortige Priesterseminar. Es zeichnete sich eine mögliche wissenschaftliche Karriere ab, denn Schulte wurde ebenfalls 1903 in Tübingen zum Dr. theol. mit einer Arbeit über „Theodoret von Cyrus als Apologet“ promoviert und 1905 zum Professor für Apologetik und Kirchenrecht an der Theologisch-Philosophischen Lehranstalt in Paderborn ernannt. 1909 gehörte er zu den Mitbegründern der Zeitschrift „Theologie und Glaube“, als mit dem Tod von Bischof Schneider der bischöfliche Stuhl in Paderborn vakant wurde. Überraschend fiel am 30.11.1909 die Wahl des Domkapitels einstimmig auf den 38-jährigen Schulte, der nach der päpstlichen Bestätigung im Februar am 19.3.1910 von seinem ehemaligen Religionslehrer Antonius Kardinal Fischer im Paderborner Dom zum Bischof geweiht wurde. Am 12.4.1910 ernannte ihn der Heilige Stuhl zudem zum Administrator des Apostolischen Vikariats Anhalt.
Schon früh zeichnete sich ab, dass der Stil des neuen Bischofs bei aller innerdiözesanen Tat- und Schaffenskraft nie auf allzu vordergründige und öffentlichkeitswirksame Aktivitäten aus war – im Gegenteil: durch seine ausgleichende, Schärfen vermeidende Art erntete er bei kirchlichen wie auch staatlichen Stellen Wohlwollen und empfahl sich auch deshalb schon früh für hohe und noch höhere kirchliche Ämter. In seine Paderborner Amtszeit fielen enorme politische wie innerkirchliche Auseinandersetzungen: der Erste Weltkrieg und der Höhepunkt des Antimodernistenstreits in den Pontifikatsjahren Papst Pius X. (Pontifikat 1903-1914), der sich im deutschen Katholizismus in den Vorkriegsjahren beispielsweise am sogenannten Gewerkschaftsstreit ablesen ließ. Der stärker sozial-katholisch orientierte und von Köln her geprägte Katholizismus im Westen trat eher für überkonfessionelle, christliche Gewerkschaften ein, der bis 1914 amtierende Breslauer Kardinal Georg von Kopp (1837-1914, seit 1887 Fürstbischof von Breslau) verteidigte vehement die rein konfessionelle Gegenposition. Der sozialpolitisch eingestellte Kölner Erzbischof Fischer fand bis zu seinem Tod 1912 seinen Paderborner Kollegen und Schüler Schulte an seiner Seite und nur mit Mühe konnte Schulte bereits 1912 eine vielen Entscheidungsträgern nur allzu naheliegende Berufung auf den Kölner Bischofsstuhl noch abwehren.
Während des Ersten Weltkrieges machte Schulte durch eine Kriegsgefangenenhilfe über die Grenzen seiner Diözese hinaus von sich reden. Mittels eines Suchdienstes ließen sich tausende Soldaten aller Nationen ermitteln, die anschließende Fürsorge für die Kriegsgefangenen brachte Schulte hohe Anerkennung ein. Damit entsprach er vor allem den Intentionen des neuen Papstes Benedikt XV. (Pontifikat 1914-1922), der auf den Paderborner Oberhirten aufmerksam wurde. Als Kardinal Fischers Nachfolger Felix Kardinal von Hartmann ein Jahr nach dem Ende des verlorenen Ersten Weltkrieges plötzlich starb, lief die Nachfolge endgültig auf Schulte zu und trotz innerer persönlicher Widerstände nahm Schulte den Ruf nach Köln an, getreu seinem bischöflichen Wahlspruch „In obsequium Christi“, zum gehorsamen Dienst an Christus.
Nach der fast einstimmigen Wahl durch das Kölner Metropolitankapitel am 15.1.1920 und der päpstlichen Bestätigung Anfang März ergriff der einstmals in Ungnade aus dem Erzbistum entlassene Bonner Konviktsstudent Karl Joseph Schulte am 25.3.1920 Besitz von der Kölner Erzdiözese und erhielt ein knappes Jahr später am 7.3.1921 von Papst Benedikt XV. den Kardinalshut.
Ein in erster Linie guter Seelsorger für seine Diözese zu sein, war für den neuen Erzbischof eines seiner wichtigsten Anliegen – dies hatte schon für seine Paderborner Bischofsjahre gegolten. Viele Aktivitäten in den 21 Jahren seines Wirkens in Köln zeugen davon: Schulte hielt regelmäßige Treffen mit den Dechanten ab, die Dekanate selbst wurden verkleinert und neu eingeteilt, zwei Diözesansynoden fanden statt (1922, 1937), 1921 wurde das Historische Archiv des Erzbistums Köln begründet und 1930 ein neues Gesang- und Gebetbuch herausgegeben. Die Verlegung des Kölner Priesterseminars in das abgeschiedene Bensberg (heute Bergisch Gladbach) 1929 wurde jedoch nicht als eine geschickte Maßnahme angesehen und von Kardinal Frings 1958 wieder rückgängig gemacht.
Im Kölner Erzbistum lebten schon damals die meisten Katholiken im Reich, so dass es für Schulte aus ebenso seelsorglichen Gründen keinen unwillkommenen Schritt bedeutete, dass das Konkordat Preußens mit dem Heiligen Stuhl von 1929 die Errichtung der Kölner Suffragandiözese Aachen vorsah, was zu einer Verkleinerung der Katholikenzahl im Erzbistum um eine Million führte. Köln hatte mit 2,4 Millionen danach immer noch die meisten Katholiken und neuer Aachener Bischof wurde mit dem bisherigen Kölner Generalvikar Joseph Vogt ohnehin ein Vertrauter Schultes.
Über seine seelsorglichen Ambitionen hinaus fiel Schulte nach dem Ende der Hohenzollern-Monarchie auch als betont standfest auf, was die Vertretung nationaler Interessen in der durchaus fragilen Weimarer Demokratie betraf. Den Kurs der katholischen Zentrumspartei unterstützte Schulte bis 1933 mit einigen Abstrichen. Anders als sein Münchener Amtsbruder Michael Kardinal von Faulhaber (1869-1952, seit 1917 Erzbischof von München und Freising, 1921 Kardinal), der noch lange Zeit der Monarchie nachtrauerte, nahm Schulte die Republik im Grunde nüchtern und emotionslos an, entpuppte sich aber als durchaus entschiedener Gegner einer Loslösung des Rheinlandes von Preußen. Separatistische Bewegungen, die in der frühen Weimarer Republik am Rhein hohe Konjunktur hatten, lehnte er strikt ab. Stattdessen ließ er das Domgeläut mit der „Deutschen Glocke vom Rhein“ – der weltweit größten freischwingenden Glocke – wieder vervollständigen.
Problematisch wirkten sich für Schultes Kölner Jahre zwei Einschränkungen aus, die mit fortschreitender Amtsdauer, die seit 1933 in die Jahre des Dritten Reiches fiel, sein Erscheinungsbild bereits in der damaligen Öffentlichkeit und stärker noch in der Geschichte letztlich auch negativ beeinflussten: Schultes westfälisch-sauerländisch geprägte Mentalität war im Gegensatz zu seinen Jahren in Paderborn nicht vereinbar mit der rheinischen. Schon seine absurde Idee in den frühen 1920er Jahren, den Karneval in Köln unterbinden zu wollen, musste bei seinen Zeitgenossen höchst befremdlich wirken. Die introvertiert-stille Art Schultes, der sich nicht nur zur Karnevalszeit lieber aus der Öffentlichkeit zurückzog, wurde deutlich virulenter, als ab 1927 ein schweres Herzleiden auftrat, von dem er sich nie erholen sollte. Für einen mutigen öffentlichen Auftritt wider das nationalsozialistische System beispielsweise im Stile seines Münsteraner Kollegen im Bischofsamt, Clemens August Graf von Galen (1878-1946, seit 1933 Bischof von Münster, 1946 Kardinal), brachte Schulte von seiner Persönlichkeit her keine Voraussetzung mit, wenngleich er die NS-Ideologie stets klar abgelehnt hat.
Schulte blieb nach der Machtergreifung 1933 misstrauisch gegenüber der nationalsozialistischen Weltanschauung, doch fiel es ihm schwer, staatlichen Autoritäten gegenüber den staatsbürgerlichen Gehorsam zu verweigern. Auch innerhalb des deutschen Episkopats nahm er eine zurückhaltende Position ein und bildete mit dem Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz Adolf Kardinal Bertram (1859-1945, seit 1914 Fürsterzbischof von Breslau, 1919 Kardinal), den er noch von dessen Hildesheimer Bischofsjahren (1906-1914) gut kannte, eine eher defensive Linie gegenüber dem Hitlerregime, anders als etwa die Bischöfe Galen oder Graf von Preysing (1880-1950, seit 1935 Bischof von Berlin, 1946 Kardinal). Hierbei spielten auch die Rücksicht auf Klerus und Gläubige seiner Erzdiözese, die er nicht unnötigen Spannungen ausgesetzt sehen wollte, ebenso eine Rolle wie die Einsicht, im Grunde chancen- und machtlos einer staatlichen Oberherrschaft gegenüberzustehen. Eine persönliche Begegnung mit Adolf Hitler (1889-1945) am 7.2.1934 hatte diesen Eindruck bei Schulte zusätzlich verstärkt.
Ein vielleicht gnädiges Schicksal ersparte Schulte, das NS-Regime und den Zweiten Weltkrieg bis zum Ende ertragen zu müssen – während eines schweren Bombenangriffs auf die Kölner Innenstadt starb er knapp 70-jährig in der Nacht zum 11.3.1941 an akutem Herzversagen. Am 17.3.1941 wurde er in der Bischofsgruft des Kölner Domes beigesetzt.
Bis heute steht Karl Joseph Kardinal Schulte in der kirchengeschichtlichen Betrachtung im Schatten seiner beiden über die Grenzen der Kölner Erzdiözese weit hinausragenden Nachfolger Frings und Höffner; auch eine wissenschaftliche Monographie über sein Leben und Wirken sucht man noch vergebens. Doch wird man bei hintergründigerer Recherche sich nicht wundern dürfen, auch etliche positive Stimmen seiner unmittelbaren Zeitgenossen über sein Wirken einfangen zu können: so übermittelt etwa der Schulte eng vertraute römische Zentrumspressekorrespondent Edmund Raitz von Frentz einen Ausspruch Papst Pius’ XI. (Pontifikat 1922-1939), der Schultes abwägende Urteilsfähigkeit hochschätzte und ihn von allen deutschen Bischöfen „il più prudente di tutti“, also den klügsten von allen nannte.[1]
Die Stadt Paderborn verlieh ihm 1920 nach seiner Ernennung zum Erzbischof von Köln die Ehrenbürgerwürde. Seinen Namen trägt das von ihm gegründete ehemalige Priesterseminar in Bergisch Gladbach-Bensberg, heute Tagungszentrum der Erzdiözese (Kardinal Schulte Haus). In Bergisch Gladbach ist auch eine Straße nach ihm benannt.
Werke
Theodoret von Cyrus als Apologet, Diss. theol. Tübingen 1903.
Literatur
Hegel, Eduard, Das Erzbistum Köln zwischen der Restauration des 19. Jahrhunderts und der Restauration des 20. Jahrhunderts. 1815-1962 (Geschichte des Erzbistums Köln 5), Köln 1987.
Hehl, Ulrich von, Katholische Kirche und Nationalsozialismus im Erzbistum Köln 1933–1945, Mainz 1977.
Hehl, Ulrich von, Karl Joseph Kardinal Schulte. In: Rheinische Lebensbilder 10 (2001), S. 61-73.
In Obsequium Christi. Gedenkausstellung des Historischen Archivs des Erzbistums Köln zum 50. Todestag von Karl Joseph Kardinal Schulte am 10. März 1991, Köln 1991.
Stasiewski, Bernhard, Die Stellung Karl Joseph Kardinal Schultes zum Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Verteidigung der Ämter und Stände der Kirche im Erzbistum Köln. In: Corsten, Wilhelm/Frotz, Augustinus/Linden, Peter (Hg.),Die Kirche und ihre Ämter und Stände. Festschrift für Kardinal Frings, Köln 1960, S. 570-599.
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Burtscheidt, Andreas, Karl Joseph Schulte, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/karl-joseph-schulte/DE-2086/lido/57c94abb4e2c52.34276323 (abgerufen am 10.12.2024)