Zu den Kapiteln
Friedrich-Wilhelm Freiherr von Sell war Rechtsanwalt, Justitiar, Verwaltungs- und Finanzdirektor und schließlich Rundfunkintendant bei den öffentlich-rechtlichen Sendern SFB, DLF, WDR und ORB. In seine Amtszeit als WDR-Intendant fielen maßgebliche strukturelle Veränderungen in der Verwaltung des Senders und vor allem die sogenannte „Regionalisierung/Dezentralisierung“. Dabei wurden die Landesstudios und Büros des WDR in NRW aufgewertet und in Hörfunk und Fernsehen die Regionalberichterstattungen ausgebaut.
Friedrich-Wilhelm Freiherr von Sell wurde am 23.1.1926 in Potsdam in eine preußische Offiziersfamilie geboren. Sein Vater, Ulrich Freiherr von Sell (1884-1945), wurde nach einer Banklehre und einer militärischen Ausbildung im Jahre 1910 im Range eines Oberleutnants Adjutant des Reichskanzlers Theodor von Bethmann-Hollweg (1856-1921, Reichskanzler 1909-1917). Außerdem fungierte er, der 1917 an der Westfront schwer verwundet wurde, als Flügeladjutant Kaiser Wilhelms II. (Regentschaft 1888-1918) und ab 1925 als Schatull-Verwalter des Hauses Hohenzollern. 1941 war er Testamentsvollstrecker Wilhelms II. Aus der engen Verbindung zum abgedankten deutschen Kaiser ergab sich, dass dieser 1926 Patenonkel von Friedrich-Wilhelm („Frie-Wi“) wurde. Von Sells Mutter Augusta von Brauchitsch (1891-1984) war in erster Ehe mit Erich Freiherr von Hornstein-Biethingen (1882-1914) verheiratet gewesen, der im Ersten Weltkrieg gefallen war. Aus dieser Ehe stammte von Sells Halbschwester, die Malerin und Dokumentarfilmerin Erika von Hornstein (1913-2005), aus der Ehe mit Ulrich von Sell die 1923 geborene Schwester Sybille.
Friedrich-Wilhelm von Sell wuchs in Berlin-Dahlem auf, wo er ab 1932 einen dreijährigen Privatunterricht genoss. Ab der Quinta besuchte er das altsprachliche Arndt-Gymnasium in Dahlem und ab 1942 die Schlossschule Salem am Bodensee. Hier legte von Sell im März 1944 das Abitur ab.
Dem NS-Regime stand die Familie von Sell ablehnend gegenüber. Sie pflegte freundschaftliche Kontakte zur „Bekennenden Kirche“ mit den Pfarrern an der Dahlemer St.-Annen-Kirche, Martin Niemöller (1892-1984) und Helmut Gollwitzer (1908-1993). Im Jahre 1971 heiratete von Sells Schwester Sibylle Pfarrer Martin Niemöller. Kontakte zum Widerstand ergaben sich auch durch die Verwandtschaft Augusta von Sells mit den Brüdern Werner (1908-1944) und Hans-Bernd von Haeften (1905-1944). Ulrich von Sell verfügte über enge Beziehungen zum Widerstand innerhalb der Militärischen Abwehr um Oberst Hans Oster (1887-1945) und Admiral Wilhelm Canaris (1887-1945). Im Szenario der Hitler-Attentäter für den Neuaufbau nach dem 20. Juli 1944 war von Sell als Verbindungsoffizier im Wehrkreis IX (Kassel) vorgesehen. Er wurde kurz nach dem fehlgeschlagenen Attentat am 23.7.1944 von der Gestapo verhaftet und befand sich bis zum 30.3.1945 in Untersuchungshaft in Berlin. Am 7.5.1945 wurde er vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verschleppt und starb am 12.11.1945 im sowjetischen Internierungslager Jamlitz-Lieberose. 1993 wurde er posthum durch die Militär-Hauptstaatsanwaltschaft Moskau rehabilitiert.
Nach dem Abitur wurde Friedrich-Wilhelm von Sell im April 1944 als Rekrut in das in Neuruppin stationierte Artillerieregiment 75 eingezogen. Anfang 1945 erfolgte die Verlegung seines Regimentes nach Jütland (Dänemark). Hier wurde von Sell im Mai 1945 im Rang eines Unterleutnants demobilisiert. Von Ende Juni-12.7.1945 befand er sich in britischer Kriegsgefangenschaft in einem Internierungslager in Heide in Holstein. Nach der Entlassung arbeitete er vier Monate als Landarbeiter auf einem holsteinischen Gutshof und kehrte Anfang November 1945 nach Berlin zurück.
Da von Sell an der Humboldt-Universität in Ostberlin keine Immatrikulationszusage erhielt, nahm er 1946 ein Studium der Philosophie und Rechtswissenschaft in der US-Zone an der Universität Erlangen auf. 1947 und 1948 führten ihn sechswöchige Stipendienaufenthalt in die Tagungsstätte nach Wilton Park (UK) und an die Universität Cambridge. 1948 wechselte von Sell nach Berlin und engagierte sich bei der Gründung der Freien Universität (FU), unter anderem als Mitglied des vorläufigen Allgemeinen Studentenausschusses (ASTA). An der FU arbeitete er neben seinem Jurastudium als Hilfskraft am Institut für politische Wissenschaft bei Karl-Dietrich Bracher (1922-2016).
Am 12.7.1950 legte er das Erste Juristische Staatsexamen ab und absolvierte sein Referendariat in der Rechtsanwaltskanzlei Ronge in Berlin sowie beim Landratsamt in Bad Schwalbach im Taunus. Am 24.2.1955 erhielt er mit dem Zweiten Staatsexamen die Zulassung als Rechtsanwalt in Berlin. Im selben Jahr begann seine Rundfunktätigkeit, zunächst von Mai 1955 bis Ende 1960 als Justitiar beim Sender Freies Berlin (SFB). Von August 1960 bis Ende 1961 folgte ein kurzes Intermezzo als Prokurist und Syndikus der „Tredefina“ (Treuhandverwaltung für das Deutsch-Niederländische Finanzabkommen) und der „Deutschen Kreditgesellschaft“ (DEKA) in Düsseldorf.
Zum 1.1.1962 ging von Sell nach Köln zum neugegründeten Deutschlandfunk (DLF), dessen erster Justitiar und Verwaltungsdirektor er wurde. Zum 1.5.1971 erfolgte der Wechsel als Verwaltungsdirektor zum Westdeutschen Rundfunk. In dieser Eigenschaft war von Sell, der 1969 in die SPD eingetreten war, zugleich Stellvertreter des Intendanten Klaus von Bismarck. Am 6.10.1975 wurde von Sell im Verwaltungsrat gegen die Stimmen der CDU-Mitglieder, die die Kandidatur des späteren ZDF-Intendanten Dieter Stolte (geboren 1934) favorisierten, mit vier zu drei Stimmen zum Intendanten gewählt und am 17. Oktober im Rundfunkrat mit der knappen Mehrheit von elf zu neun Stimmen und einer Stimmenthaltung bestätigt. Am 1.4.1976 übernahm er das Amt von Klaus von Bismarck.
Deutlich waren die Stimmenverhältnisse bei von Sells Wiederwahl am 15.9.1980, die einstimmig im Verwaltungsrat und mit einem Verhältnis von 19 Ja-Stimmen gegen zwei Nein-Stimmen im Rundfunkrat erfolgte. Am 9.12.1983 teilte von Sell den Gremien mit, dass er für eine dritte Amtszeit nicht zur Verfügung stehe. Aus gesundheitlichen Gründen schied er noch vor dem Ende seiner zweiten Amtszeit am 13.6.1985 aus dem Amt aus. Sein Nachfolger wurde der Journalist Friedrich Nowottny (geboren 1929). Während seiner beiden Amtszeiten war von Sell zwei Mal, 1978/1979 und 1980/1981, Vorsitzender der ARD.
In von Sells Amtszeit fielen maßgebliche strukturelle Veränderungen wie 1973 die Übernahme des Rundfunkgebühreneinzugs von der Deutschen Bundespost und die Gründung der Gebühreneinzugszentrale (GEZ) mit Sitz in Köln-Bocklemünd. Im Jahr 1976 wurde die von ihm initiierte Buchhaltungsreform mit der Einführung einer dezentralisierten Mittelbewirtschaft und Leistungsplanung von der Verwaltung in die Programmdirektionen zur effizienteren Bewirtschaftung der Produktionskosten umgesetzt.
Die Ära von Sell war weiter charakterisiert durch Auseinandersetzungen um die innerbetriebliche Mitbestimmung am Sender und die Definition der Position der Freien Mitarbeiter als Konsequenz einer Welle von Festanstellungsklagen von Freien Mitarbeitern. Erhitzte Debatten gab es auch um die „Ausgewogenheit“ des Programms („Rotfunk“-Kampagne), vorgetragen seitens der CDU und CSU. In deren Verlauf konnte von Sell Forderungen der politischen Parteien nach „Personalausgewogenheit“, das heißt nach politischer Einflussnahme auf die Besetzung von Spitzenpositionen im Sender im Sinne eines Parteienproporzes abwehren.
Von Sells sicher bedeutendste Strukturreform war die sogenannte „Regionalisierung/Dezentralisierung“, die er Anfang der 1980er Jahre als Strategie zur Positionierung des WDR im Kontext des sich entwickelnden dualen Systems mit privatwirtschaftlichen, kommerziellen Konkurrenzsendern plante. Im Zuge der Regionalisierung wurden die Landesstudios und Büros des WDR in NRW aufgewertet und die in Hörfunk und Fernsehen intensivierten Regionalberichterstattungen ausgebaut. Als Regionalisierungsbeauftragten berief er Claus-Hinrich Casdorff (1925-2004).
Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt wirkte von Sell zehn Jahre lang als Honorarprofessor an den Universitäten Hamburg und Siegen. Sein besonderes Interesse lag dabei auf dem Gebiet des Rundfunk- und Medienrechtes sowie der Rundfunkpolitik.
Im Mai 1989 wurde von Sell, der sich insbesondere für die Bildende Kunst des 20. Jahrhunderts interessierte, Vorsitzender der „Stiftung Kunst und Kultur e.V.“ in Bonn. Er hatte das Amt fünf Jahre inne. Im Juni 1991 wurde er Gründungsbeauftragter der Medienakademie in Hannover. Am 1.7.1991 kehrte von Sell noch einmal zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk zurück – jetzt als Gründungsbeauftragter und vom 12.Oktober bis bis Ende November 1991 als Gründungsintendant des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg (ORB) in Potsdam. In den folgenden Jahren war seine Expertise als Berater in Rundfunkfragen in Südafrika, aber auch in der Slowakei und in Ungarn, gefragt.
Friedrich-Wilhelm von Sell war Träger des Bundesverdienstkreuzes I. Klasse, das ihm am 22.8.1979 für seine Verdienste als ARD-Vorsitzender durch den Nordrhein-Westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau verliehen wurde, sowie seit dem 12.12.1986 Träger des Verdienstordens des Landes NRW.
Friedrich-Wilhelm von Sell starb am 20.10.2014. Er war in erster Ehe mit Barbara von Sell, geb. Meller (1934-2002), verheiratet, der ersten Frauenbeauftragten des Landes NRW. Aus der Ehe gingen die Kinder Philipp und Julia hervor.
Autobiographisches
Sell, Friedrich-Wilhelm von, Mehr Öffentlichkeit! Erinnerungen, Springe 2006.
Niemöller-von Sell, Sybille, Furchtbar einfach, wird gemacht, Berlin 1992.
Literatur
Herzog, Christian, Exemplarische Studie. Wirtschaftsgeschichte des WDR. Die Einführung der dezentralisierten Mittelbewirtschaftung und Leistungsplanung, in: Das Gedächtnis des Rundfunks. Die Archive der öffentlich-rechtlichen Sender und ihre Bedeutung für die Forschung, hg. von Markus Behmer, Birgit Bernard und Bettina Hasselbring, Wiesbaden 2014, S. 393-400.
Katz, Klaus, Friedrich-Wilhelm v. Sell, in: Am Puls der Zeit. 50 Jahre WDR, Band 2, Der Sender: weltweit nah dran 1956-1985, hg. von Klaus Katz [u.a.], Köln 2006, S. 41-45.
Lang, Rudolf/Witting-Nöthen, Petra, Friedrich-Wilhelm Frhr. Von Sell. Erweiterte Bibliographie, Köln 2008.
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Bernard, Birgit, Friedrich-Wilhelm Freiherr von Sell, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/friedrich-wilhelm-freiherr-von-sell-/DE-2086/lido/5c489a3d081954.23836555 (abgerufen am 19.01.2025)