Zu den Kapiteln
Graf Hermann von Neuenahr war eine der einflussreichsten Persönlichkeiten Kurkölns im 16. Jahrhundert. Sein Biograph Heiner Faulenbach nannte ihn die „markanteste Gestalt unter den deutschen Grafen“, der römische Nuntius Bartolomeo Portia (1525-1578) berichtete, es gebe „kein[en] gefährerlichere[n] [sic] Häretiker in ganz Deutschland“. Hermann verkörperte einen im 16. Jahrhundert langsam aussterbenden Typus des Adligen: ohne im Kurfürstentum mit einem formellen Amt am oder Mandat ausgestattet gewesen zu sein, nahm er alleine aufgrund seines Status, vor allem aber aufgrund seiner Persönlichkeit und seines ausgedehnten familiären und politischen Netzwerks erheblichen Einfluss auf die Politik im Erzstift. Und auch sein Erbe sollte noch weit über seinen Tod hinaus für ein hohes Konfliktpotential sorgen.
Hermann wurde am 28.10.1520 geboren. Als Sohn des kurkölnischen Erbhofmeisters, Graf Wilhelm II. von Neuenahr (1497-1552), und der Gräfin Anna von Wied (1500-1528) gehörte er nicht nur zum erzstiftischen Grafenkollegium, das neben Domkapitel, Rittern und Städten eine mächtige Landstandschaft bildete, sondern verfügte auch über ein ausgezeichnetes familiäres Netzwerk in der Region, das ihm zu seiner überaus einflussreichen Rolle verhalf. Über seine Großmutter, Walburga von Manderscheid (1460-1526), der Ehefrau des Grafen Wilhelm I. von Manderscheid (1433-1499), war Neuenahr mit der mächtigen und weit verzweigten Eifeldynastie verwandt. Seine Mutter, beiläufig eine Nichte des Erzbischofs Hermann von Wied, brachte als Erbteil die niederrheinische Grafschaft Moers mit.
Hermanns gleichnamiger Onkel (1482-1530) zählte zu den führenden intellektuellen Köpfen Kurkölns. Durch seine Übersetzungen und Umdichtungen antiker Schriften und biblischer Psalmen genoss er den Ruf eines anerkannten klassischen Gelehrten. Als einer der wenigen adligen Domherren seiner Zeit hatte er intensive humanistische Studien unter anderem bei Johannes Caesarius (1468-1550) absolviert und unterhielt enge Kontakte etwa zu Erasmus von Rotterdam (1465-1536), Ulrich von Hutten (1488-1523) oder Johann von Vlatten (1498-1562). An der Ausbildung seines Neffen nahm er offenbar intensiv Anteil und begründete dessen erasmianische Geisteshaltung mit. Über den konkreten Verlauf seiner Ausbildung ist jedoch nichts bekannt. Möglicherweise hielt er sich zu Studienzwecken auch in Frankreich auf, jedenfalls fielen immer wieder seine hervorragenden Sprachkenntnisse auf. Erst 1535/1536 erscheint er als Vertreter des Kölner Erzbischofs bei den Verhandlungen zwischen Kurköln und Jülich-Kleve über Fragen der Kirchenreform. Von 1542 bis 1544 diente er in der kaiserlichen Armee und begleitete Karl V. (Regierungszeit 1519-1556) in seinem dritten Feldzug gegen den französischen König Franz I. (1494-1547). Später reiste er mit dem Kaiser auch nach Nijmegen und Brüssel, wo er seine höfischen Umgangsformen vervollkommnete.
Nach dem Tod des Vaters trat Hermann im Jahr 1552 die Regierung an. Neben Sicherungsmaßnahmen gegen die regelmäßigen Überflutungen des Rheines galt sein Hauptaugenmerk der Durchführung der Reformation, die sein Vater bereits begonnen hatte. Für die Landesherren des 16. Jahrhunderts bedeutete die Reformation vor allem auch die politische Möglichkeit, Kirchengüter einzuziehen und als Landesbischof vielfältige Einflussmöglichkeiten auf die Untertanen zu gewinnen. Wilhelm II. war dabei eher vorsichtig vorgegangen, und auch Hermanns Kirchenpolitik war eher moderat, wenn auch zielstrebiger und gründlicher. So nahm er beispielsweise die Säkularisation mehrerer Klöster vor, ein Schritt, vor dem sein Vater noch zurückgeschreckt war und der Hermann die eingangs zitierte harsche Kritik Portias einbrachte. 1560/1561 erließ er für die Grafschaft Moers und seine Herrschaft Bedburg eine lutherisch-melanchthonische Kirchenordnung, die in der Tradition seines Großonkels Hermann von Wied und dessen gescheiterten Reformationsversuches im Erzstift stand. Schon dieses Bemühen hatte Hermann als junger Mann unterstützt und über die Familie seiner Frau, Magdalena von Nassau-Dillenburg (1522-1567), die er 1538 geheiratet hatte, beeinflusst.
Obwohl er sich damit öffentlich zur Confessio Augustana bekannte, blieb Hermann zeitlebens in kaiserlichen Diensten und ein wichtiger Berater insbesondere Maximilians II. (Regierungszeit 1562-1576), der wohl insgeheim selbst zum Protestantismus neigte und nur der politischen Ordnung halber katholisch blieb. In dessen Auftrag nahm er etwa an den Reichstagen zu Speyer im Jahr 1570 sowie in Regensburg im Jahr 1576 teil, erfüllte aber vor allem wichtige Aufgaben als Kommissar im Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis. In dieser Funktion hatte er es auch immer wieder mit dem weit über das eigentliche Erzstift hinaus verstreuten Grundbesitz des Erzbischofs und des Kölner Domkapitels zu tun und pflegte von daher intensive Kontakte in die Führungszirkel des Kurfürstentums. Dass er diese zur Durchsetzung eigener Interessen nutzte, gehört beinahe selbstverständlich zum Wesen des frühneuzeitlichen Adligen. So soll Hermann etwa 1562 die Wahl Friedrichs von Wied zum Kölner Erzbischof forciert haben; die gelegentlich zu lesende Begründung, Hermanns Engagement in dieser Sache sei auf Friedrichs angebliche evangelische Gesinnung zurückzuführen, erscheint jedoch nicht zutreffend. Vielmehr war Wied ein Onkel Hermanns von Neuenahr, was zum einen die Rolle verwandtschaftlicher Verflechtungen für adliges Handeln in der Frühen Neuzeit unterstreicht. Zum anderen wird im Gesamtzusammenhang deutlich, dass die Rolle der Konfession zumindest als trennendes Element im 16. Jahrhundert schwächer war als von der Forschung lange Zeit angenommen.
Über Hermanns eigene Religiosität gibt ein Zitat des spanischen Hofpredigers Lorenzo de Villavicencio (1501-1581) Aufschluss: „Wenn er mit Katholiken verkehrt, ist er in Worten und Taten ein Lutheraner, und wenn er mit Lutheranern verkehrt, ist er in gleicher Weise Katholik, und wenn er betrunken ist, glaubt er weder an Gott noch an den Teufel.“ Die Bewahrung größtmöglicher konfessioneller Neutralität nach außen sollte die Handlungsspielräume des stets vom benachbarten spanischen-niederländischen und damit katholisch-protestantischen Konflikt bedrohten Territoriums offen halten. Gleichzeitig wird die innere Ungebundenheit, ja vielleicht sogar ein im emotionalen Sinn religiöses Desinteresse deutlich, wie es bei vielen seiner Standesgenossen auch in den kirchlichen Gremien wie den Domkapiteln anzutreffen war.
Die konfessionelle Dimension freilich gab bei einer späteren Bischofswahl durchaus den Ausschlag für Hermanns energisches Eingreifen. Als Salentin von Isenburg als Kurfürst und Erzbischof resignierte, setzte Neuenahr alles daran, den Herzog Ernst von Bayern als Nachfolger zu verhindern. Schwer von der Gicht geplagt, ließ er sich mehrfach auf einer Sänfte ins Domkapitel tragen und rang den Kapitularen die Wahl des zwar katholischen, aber libertär gesinnten Gebhard Truchsess von Waldburg mit einer Stimme Mehrheit ab. Die aus dessen zweitem kurkölnischen Reformationsversuch 1582/1583 resultierenden Verstrickungen und Auseinandersetzungen erlebte Hermann nicht mehr. Er starb am 12.10.1578. Da seine Ehe kinderlos geblieben war, ging sein nicht unerhebliches Erbe an seine Schwester Walburga (1522-1600) und deren zweiten Ehemann Adolf von Neuenahr (1554-1589), einen Verwandten aus einer anderen Seitenlinie von Hermanns eigenem Geschlecht. Dieser starb 1589 im Laufe des Kölnischen Krieges als niederländischer Statthalter, weshalb die Generalstaaten bis zum Ende des Konfliktes die Interessen seiner Witwe vertraten und damit einen Nebenschauplatz des Kölnischen beziehungsweise Spanisch-Niederländischen Krieges eröffneten.
Hermann von Neuenahr selbst gehörte jedoch sicherlich zu denjenigen Fürsten, die den Frieden im Reich trugen und am Leben hielten. Zwar war er immer wieder mit Vehemenz für die Vorrechte seines Standes eingetreten; allerdings kümmerten ihn konfessionelle Konflikte nur insofern, als wie sie diese Eigeninteressen berührten. Die Zuspitzung des Religionskonflikts in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts muss der nachfolgenden Fürstengeneration zugeschrieben werden, die bemerkenswerterweise häufig auch weniger gebildet im humanistischen Sinne war.
Literatur (Auswahl)
Becker, Thomas P., Moers im Zeitalter der Reformation, in: Wensky, Margret (Hg.), Moers. Die Geschichte der Stadt von der Frühzeit bis zur Gegenwart, Band 1, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 159-269.
Bockmühl, Peter, Hermann und Walburgis von Nuenar und der Abt Heinrich V. von Verden, in: Monatshefte für Rheinische Kirchengeschichte 4 (1910), S. 193-203.
Faulenbach, Heiner, Hermann von Neuenahr (1520-1578), in: Rheinische Lebensbilder 8 (1980), S. 105-123.
Müller, Carl, Die letzten Grafen von Neuenahr-Moers, in: Heimat-Jahrbuch für den Landkreis Ahrweiler 1965, S. 89-93.
Schneider, Andreas, Der Niederrheinisch-Westfälische Reichskreis im 16. Jahrhundert. Geschichte, Struktur und Funktion eines Verfassungsorganes des alten Reiches, Düsseldorf 1985.
Online
Altmann, Hugo, Neuenahr, Hermann der Jüngere von Neuenahr und Moers, in: NDB 19 (1999), S. 109.
Wamecke, Hans, Die Grafen von Neuenahr und die konfessionelle Gliederung im Ahrtal.
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Bock, Martin, Hermann von Neuenahr, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/hermann-von-neuenahr/DE-2086/lido/57c82cbe519835.03720710 (abgerufen am 12.12.2024)