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Ungeachtet der seit 1555 im Augsburger Religionsfrieden reichsrechtlich zementierten konfessionellen Teilung in ein altgläubig-katholisches und ein protestantisches Lager – Reformierte wie Calvinisten und Zwinglianer blieben vom Friedensvertrag ausgenommen – gingen die Bemühungen um die Einheit der Kirche in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts durchaus noch weiter. 1557 scheiterte zwar das letzte große Religionsgespräch in Worms, und damit ebbte auch das Bemühen der Fürsten ab, um das faktische Auseinanderbrechen der Christenheit zu verhindern. In Gelehrtenkreisen wurden die Diskussionen und Kompromissvorschläge zwischen den Konfessionen aber noch fortgesetzt und brachten die Gedanken der Irenik, vom griechischen Wort „eirene“ für „Frieden“, hervor, zu deren frühen prominenten Vertretern der flämische Theologe und Humanist Georg Cassander gehörte.
Geboren wurde Cassander am 24.8.1513 in Pittem, auf halbem Wege zwischen Brügge und Gent. Sein Name verweist außerdem auf den kleinen Küstenort Cadzand an der Westerscheldemündung. Er wuchs in einfachen Verhältnissen auf, die ihm gleichwohl den Schulbesuch mit anschließendem Studium in Löwen, in dieser Zeit eines der herausragenden intellektuellen Zentren und Hochburg des Humanismus, ermöglichten. 1532 erwarb er hier nach dem Philosophiestudium den Magistergrad und brachte erste Lehrbücher für das Trivium, das Grundstudium der sieben freien Künste also mit den Disziplinen Grammatik, Dialektik und Rhetorik, heraus.
Mit diesen Kompendien für Studienanfänger erwarb sich Cassander einen guten Ruf, der ihm auch einige erste Dozentenstellen einbrachte: so lehrte er etwa Mitte der 1530er Jahre in Gent, wo er unter anderem Jan van Utenhove (1516/1520-1560) unterrichte, der später als reformierter Theologe wirkte und beispielsweise das Neue Testament ins Niederländische übertrug. Seit spätestens 1541 vertrat Cassander dann die Studia humaniora in Brügge – bemerkenswerterweise also nicht an einer Universität, sondern als freier Lehrer in einer nach dem Weggang des burgundischen Hofes im Niedergang begriffenen alten Handelsmetropole. Er galt als liberal und geriet deshalb recht bald in Konflikt mit der immer noch scholastisch geprägten Geistlichkeit, umso mehr, als dass er sich wohl schon in Brügge auch theologischen Studien zuwandte und zu befürchten stand, er könne die Stadt womöglich für die Reformation öffnen wollen.
Cassander trug die Auseinandersetzungen jedoch nicht offen aus, sondern verließ Brügge nach wenigen Jahren, um mit Cornelius Wouters (1512-1578) auf Reisen zu gehen. Der gleichaltrige Philologe Wouters profitierte von reichen Einkünften aus seiner Stiftsherrnpfründe an der Kirche St. Donation in Brügge und wurde für Cassander damit nicht nur zum gelehrten Freund, sondern auch zum Mäzen, denn Cassanders finanzielle Verhältnisse blieben zeitlebens begrenzt.
Auf der Reise trafen die beiden so illustre Persönlichkeiten wie Martin Bucer, Johannes a Lasco (1499-1560), Heinrich Bullinger (1504-1575) und Philipp Melanchthon (1497-1560) – allesamt Lutheraner oder sogar Reformierte, mit denen Cassander den intellektuellen Dialog suchte. 1544 erreichten Cassander und Wouters Köln, wo sie sich an der theologischen Fakultät immatrikulierten und im Hause des Grafen Hermann von Neuenahr (1520-1578), ebenfalls ein offener Anhänger der neuen Lehre, wohnten. 1546 zogen die beiden weiter nach Heidelberg, der Hauptstadt der calvinistischen Kurpfalz, und setzten ihre theologischen dort fort.
Fast schon erstaunlich also erscheint es nicht nur, dass Cassander bei so viel offenkundigem Interesse an den Reformatoren auf der altgläubigen Seite blieb, sondern auch, dass er bald schon zu den bekanntesten katholischen Theologen zählte, dessen Rat auch von höchster Stelle sehr geschätzt wurde. Kaiser Ferdinand I. (1503-1564), später auch der Kölner Erzbischof Friedrich von Wied und vor allem auch Herzog Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg suchten Cassanders Rat. Wilhelm war es, der unter den großen Reichsfürsten am stärksten auf eine „via media“, einen dritten Weg zwischen Katholizismus und Protestantismus drängte und sich dabei vor allem auf die Lehre des Erasmus von Rotterdam (1466/69-1536) stütze.
Trotz schlechter Gesundheit bereiste Cassander daher im Auftrag Wilhelms dessen niederrheinisches Herzogtum und machte sich hier vor allem durch die Gründung einer Lateinschule in Duisburg verdient. 1559 plante der Herzog in Düsseldorf ein neues, großes Religionsgespräch, bei dem Cassander die führende Rolle übernehmen sollte. Seine stärker werdenden Gichtanfälle ließen ihn jedoch die Teilnahme absagen, der Kongress kam in der Folge auch nicht zustande. Ebenfalls ablehnen musste Cassander eine Einladung Kaiser Ferdinands nach Wien, um mit ihm über eine mögliche Öffnung der altgläubigen Partei durch die Zulassung von Laienkelch und Priesterehe zu sprechen. Er erhielt stattdessen den von Ferdinands Nachfolger Maximilian II. (1527-1576) erneuerten Auftrag, ein schriftliches Gutachten zu erstellen.
Dieser „Consultatio de articulis religionis inter catholicos et protestantes controversis“ überschriebene Text darf als Cassanders Hauptwerk und Summe seiner irenischen Lehre verstanden werden. Hierin baute er auf einigen früheren, anonym verfassten Studien auf, in denen er unter anderem vorschlug, kirchliche Dogmen in fundamentale und nicht-fundamentale zu unterscheiden und das Primat des Papsttums zwar anzuerkennen, jedoch lediglich als von Menschen selbst erwähltes und nicht durch direkte Abstammung von Petrus. In der Lehre zielte er auf den „consensus universalis antiquitatis“, also die gemeinsame Anerkennung der Kirchenlehrer bis zu Papst Gregor I. (um 540-604). Sowohl Erzbischof Friedrich, der das Gutachten nach Wien übermittelte, als auch Kaiser Maximilian zeigten sich zufrieden mit Cassanders Arbeit und schlugen erneut ein direktes Zusammentreffen vor, das nun aber sowohl wegen der anhaltenden Gichtanfälle Cassanders wie auch des sich anbahnenden zweiten Türkenkriegs infolge des Aufstandes des siebenbürgischen Fürsten Johann Sigismund Zápolya (1540-1571), der Maximilians Aufmerksamkeit an anderer Stelle erforderte, wiederum nicht stattfand.
Cassander blieb in seinen letzten Lebensjahren in Köln, wo er schon seit 1549 überwiegend gelebt hatte. Hier appellierte er im Prozess gegen die Wiedertäufer an das Gericht, die Angeklagten milde zu behandeln und statt des Schwertes das Wort walten zu lassen. Er musste jedoch erleben, dass statt einer Annäherung der Konfessionsparteien der Graben stetig tiefer wurde. Auch seine eigenen Vorschläge wurden immer weniger gehört und von beiden Seiten nicht nur politisch, sondern auch ideologisch abgelehnt. Immerhin gewann die von den Jesuiten – die Cassander ihrer Unnachgiebigkeit wegen strikt ablehnte – getragene katholische Gegenreformation, aber auch die 1580 in die Konkordienformel mündende konfessionstheoretische Abgrenzung der protestantischen Seite wachsenden Einfluss auf die beiden Lager, und mit dem Sterben der „Friedensgeneration“ unter den deutschen Fürsten war das Tor für einen offenen Glaubenskampf aufgestoßen.
Das musste Cassander allerdings nicht mehr erleben. Er starb am 3.2.1566. Seine Ruf war aber wohl noch so bedeutend, dass die katholische Geistlichkeit unter Führung des Pfarrers von St. Kolumba, Sebastian Novimola (1500-1579) versuchte, ihm ein Bekenntnis für ihre Sache und damit gegen sein lebenslanges Bemühen und Maß und Mitte abzubringen. Ob er es gegeben hat, ist umstritten; seine Grabstelle jedenfalls, die er im Familiengrab der Familie Sudermann in der Minoritenkirche fand, wurde, nachdem Wouters die „Consultatio“ veröffentlicht hatte und dieselbe 1577 auf den römischen Index verbotener Schriften gekommen war, unkenntlich gemacht.
Werke (Auswahl)
Hymni Ecclesiastici, 1556.
Liturgica de ritu et ordine Dominicae coenae celebrandae, 1558.
Preces Ecclesiasticae, 1560.
De officio pii ac publicae tranquillitatis vere amantis viri in hoc religionis dissidio, 1561.
De sacra communion in utraque panis et vini specie, 1564.
Consultatio de articulis religionis inter catholicos et protestantes controversis, 1564.
Literatur
Bautz, Friedrich Wilhelm, Art. „Cassander, Georg“, in: Bautz Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band 1, 2. Auflage, Hamm 1990, Sp. 949-950.
Bröder, Paula, Georg Cassanders Vermittlungsversuch zwischen Protestanten und Katholiken, Diss. Marburg 1932.
Dolan, John Patrick, The Influence of Erasmus, Witzel and Cassander in the church ordinances and reform proposals of the United Duchees of Cleve during the middle decades of the 16th century, Münster 1957.
Gaschick, Daniel, Witzelt Cassander? Der Briefwechsel zwischen Georg Cassander (1513-1566) u. Georg Witzel (1501-1573), in: Kirchengeschichte - Frömmigkeitsgeschichte – Landesgeschichte, Remscheid 2008, S. 97-114.
Nolte, Maria, Georgius Cassander en zijn oecumenisch streven, Diss. Nijmegen 1951.
Ten Doornkaat-Koolman, Jacobus, Jan Utenhoves Besuch bei Heinrich Bullinger im Jahre 1549, in: Zwingliana 14 (1976), S. 263-173.
Online
Cassander, Georg, in: Controversia et Confessio, hg. Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz. [Online]
Ennen, Leonard, „Cassander, Georg“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 4 (1876), S. 59-61. [Online]
Haaß, Robert, „Cassander, Georg“, in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 166. [Online]
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Bock, Martin, Georg Cassander, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/georg-cassander-/DE-2086/lido/57c68b776c5800.83424459 (abgerufen am 10.10.2024)