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Der Rechtsanwalt Gustav Walter Heinemann (Dr. jur., Dr. rer. pol., Dr. theol.) war im öffentlichen Leben des Rheinlandes führend im Widerstand der Bekennenden Kirche gegen das NS-Regime (1934-1944), dann in der Leitung der Evangelischen Kirche im Rheinland (1945-1962). Er war Gründungsmitglied der CDU des Rheinlandes (1945-1952), erster gewählter Oberbürgermeister von Essen (1946-1949) und erster Justizminister (1947-1948) des Landes Nordrhein-Westfalen. Im Nachkriegs-Deutschland war Heinemann erster Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD, 1948-1955). Er wurde der erste Innenminister der Bundesrepublik (1949-1950). Nach seinem Übergang zur Sozialdemokratie war er Mitglied des Bundestages und des SPD-Vorstandes (1957-1969), Justizminister im Kabinett der Großen Koalition (1966-1969), schließlich dritter Präsident der Bundesrepublik Deutschland (1969-1974).
Geboren am 23.7.1899 im westfälischen Schwelm, wurde für Gustav Walter Heinemann Essen in der preußischen Rheinprovinz seit 1900 zur Heimatstadt. Er wuchs auf in einem liberalen Elternhaus: die Mutter Johanna Walter (1875-1962) stammte aus Barmen (heute Stadt Wuppertal), der Vater Otto Heinemann (1864-1944) aus dem nordhessischen Eschwege; er war als Turner groß geworden, zum Arbeitsdirektor der Krupp-Werke aufgestiegen und stets auch sozialpolitisch aktiv.
Ihr einziger Sohn wurde ein brillanter Jurist. Im Weltkrieg patriotisch bewegt, ging er nach einem Notabitur am Essener Realgymnasium 1917 zum Militärdienst nach Münster und begann dort im Herbst 1918 sein Studium. An der Universität Marburg engagierte er sich seit 1919 innerhalb der DDP (Deutsche Demokratische Partei) für die Durchsetzung und die Verteidigung der jungen Republik. Im Rahmen seines Studiums der Rechts- und Staatswissenschaften in Münster, München, Göttingen, Berlin und vor allem in Marburg erwarb er zwei Doktortitel (1922 in Marburg und 1929 in Münster) und absolvierte beide Staatsexamen mit dem Prädikat „gut".
Im Jahre 1926 begann Heinemann eine erfolgreiche berufliche Karriere: zunächst als Sozius der Kanzlei Victor Niemeyer in Essen, sodann als Justitiar und Vorstandsmitglied des Zechenkonzerns „Rheinische Stahlwerke" (1928-1949). Mit zahlreichen Publikationen auch als Fachautor im Berg- und Kassenrecht bekannt, konnte er 1936 ein „Handbuch des deutschen Bergwesens" in Angriff nehmen, und er war von 1933 bis 1939 Dozent für Bergrecht und Wirtschaftsrecht an der Universität zu Köln.
Stets umgetrieben von den Problemen seiner Zeit, hatte Gustav Heinemann in der Theologiestudentin Hilda Ordemann (1896-1979) eine verständnisvolle Partnerin gefunden, die 1926 seine Ehefrau wurde; aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor. Angeregt durch den Essener Pfarrer Friedrich Graeber (1884-1953), wurden die Heinemanns aktive Kirchgemeinde-Mitglieder und engagierten sich seit 1933 im Kampf gegen die NS-Bewegung "Deutsche Christen". Gustav Heinemann war 1934 Teilnehmer der Bekenntnis-Synoden von Barmen und gehörte dann zum Führungskreis der Bekennenden Kirche in ihrem Widerstand gegen die Kirchenpolitik des NS-Staates.
Die Zerstörung der Krupp-Stadt Essen im Bombenkrieg hatte Heinemann als Zechendirektor hautnah miterlebt. Nach Ende des Krieges gehörte er zu denen, die den Wiederaufbau eines demokratischen Deutschland zu ihrem persönlichen Anliegen machten. Schon im August 1945 wurde Heinemann in Treysa in den Rat der EKD berufen, dem er bis 1967 angehörte. Er zählte zu den Unterzeichnern des Stuttgarter Schuld-Bekenntnisses vom 19.10.1945, das er zeitlebens als „Dreh- und Angelpunkt seiner politischen Anschauung" betrachtete – damals auch als „Grundlage für eine neue nationale Gemeinschaft". Die erste gesamtdeutsche Kirchenversammlung, 1948 in Eisenach, wählte ihn zu ihrem Präsidenten, und von 1949 bis 1955 war Heinemann Präses der Synode der EKD. Der erste Evangelische Kirchentag fand im August 1950 in Essen statt, wo Heinemann bis 1949 Oberbürgermeister gewesen war. Heinemann blieb ein engagierter Protestant, auch als deutscher Delegierter auf den ökumenischen Kirchenversammlungen von 1948 bis 1961. Immer wieder meldete er sich als Christ öffentlich und publizistisch zu Wort, so dass ihm 1967 der theologische Ehrendoktor der Universität Bonn verliehen wurde.
In Essen hatte 1945 auch eine neue politische Aktivität Heinemanns ihren Ausgang genommen: Er war aktiv beteiligt an der Konstituierung der CDU, sowohl in Essen wie in der britischen Zone der ehemaligen Rheinprovinz. Seit Januar 1946 in deren Vorstand, war er im Herbst 1946 Oberbürgermeister seiner zerstörten Heimatstadt geworden. Nach der Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen gehörte Heinemann von 1947 bis 1950 zur CDU-Fraktion des ersten Landtages, und er unterstützte seinen Parteifreund Karl Arnold bei der Bildung einer großen Wiederaufbau-Koalition aus CDU, SPD und KPD, indem er 1947/1948 das NRW-Justizministerium aufbaute und leitete.
Als im Jahre 1949 ein westdeutscher Teilstaat begründet wurde, hatte sich Heinemann im öffentlichen Leben des Rheinlandes bereits fest etabliert und war zudem auf nationaler Ebene (EKD) stark engagiert. Daher lehnte er ab, für den ersten Bundestag zu kandidieren. Doch dann erreichte ihn das Angebot Konrad Adenauers, in der Bundesregierung das Innenressort zu übernehmen, und mit der Übernahme dieses Amtes veränderte sich der Rahmen seines Lebens. Heinemann sah sich nun dazu veranlasst, seine politischen Ämter in Essen und Düsseldorf, die er als Ehrenämter ausgeübt hatte, aufzugeben, sich auch von seiner Vorstandstätigkeit in den Rheinischen Stahlwerken beurlauben zu lassen, um fortan engagiert Bundespolitik zu betreiben.
Als erster Innenminister der Bundesrepublik hatte Heinemann für die Einrichtung der Bundesverwaltung und ihrer Institutionen Pionierarbeit zu leisten. Probleme ergaben sich im Umgang mit Konrad Adenauer. Der als Kanzler noch unerfahrene und ganz nach Westen orientierte Rheinländer leitete sein Kabinett autoritativ, und das forderte den gesamtdeutsch und presbyterial engagierten Protestanten Heinemann heraus. Als Adenauer nach dem Ausbruch des Koreakrieges den Westmächten eigenmächtig westdeutsche Truppen anbot, verließ Heinemann im September 1950 die Bundesregierung, und er war seitdem bekannt als der Vertreter einer Gegenposition zur Deutschland-, Ost- und Verteidigungspolitik des Bundeskanzlers. Obwohl dieser dafür sorgte, dass er innerhalb der CDU nicht mehr politisch tätig sein konnte, entschied sich Heinemann dafür, in Essen mithilfe von Diether Posser (1922-2010) eine Rechtskanzlei zu betreiben (1951-1969) und in der Bundespolitik seine alternative Position weiter zu verfolgen.
Im November 1951 gründete Heinemann zusammen mit der Zentrumspolitikerin Helene Wessel (1898-1969) einen überparteilichen Arbeitskreis, die „Notgemeinschaft für den Frieden Europas". Dieser konstituierte sich im November 1952 als „Gesamtdeutsche Volkspartei" (GVP). Bei den Bundestagswahlen 1953 gelang es der GVP nicht, Mandate für den Bundestag zu erringen, doch zahlreiche politisch Engagierte der jüngeren Generation, unter anderen Johannes Rau, Diether Posser und Erhard Eppler (geboren 1926), waren der GVP beigetreten. Nicht zuletzt um diesen eine politische Zukunft zu ermöglichen, erklärte sich Heinemann vor der Bundestagswahl 1957 dazu bereit, die GVP aufzulösen und einen Übertritt in die SPD zu empfehlen.
Im Führungskreis der SPD arbeitete man damals, im Vorfeld des Godesberger Programms, intensiv an einer Parteireform begrüßte daher den Beitritt Heinemanns, verschaffte ihm ein Mandat im dritten Bundestag und holte ihn im Mai 1958 auch in den Parteivorstand. In seiner viel beachteten Antrittsrede im Bundestag am 23.1.1958 warnte Heinemann vor einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr, und er forderte den Bundeskanzler zum Rücktritt auf: Das Ende der Ära Adenauer war eingeläutet.
Als es nach der Krise der Regierung Ludwig Erhards (Amtszeit als Bundeskanzler 1963-1966) im Herbst 1966 zur Bildung einer Großen Koalition kam, übernahm Heinemann das Justizministerium. Die drei Jahre seiner Amtszeit wurden eine Epoche intensiver Reformen, die unter anderem das politische Strafrecht, das Sexualstrafrecht, das Scheidungs- und Familienrecht sowie den Strafvollzug betrafen, und man erreichte die Aufhebung der Verjährung von Mord und NS-Verbrechen. Gegen starken Protest setzte Heinemann ein demokratisch kontrolliertes Notstandsrecht durch, und gegenüber der Studentenrevolte des Jahres 1968 fand er als einziger Minister das richtige Wort.
Mit der Wahl von Gustav Heinemann zum dritten Bundespräsidenten am 5.3.1969 begründeten SPD und FDP eine sozial-liberale Zusammenarbeit, die die Bundesrepublik verändern sollte. Heinemann sprach demonstrativ von einem Machtwechsel. Er wollte nicht Staatspräsident, sondern Bürgerpräsident sein. Seine Amtsführung zeichnete sich aus durch eine Reduzierung traditioneller Protokollformen, durch Staatsbesuche bevorzugt in die Nachbarländer, die im Weltkrieg von der Wehrmacht besetzt waren, sowie durch Mut machende Reden zum Umgang mit der deutschen Geschichte. Auf Initiative des Bundespräsidenten wurde in Rastatt 1974 eine „Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte" eingerichtet.
Einer zweiten Amtsperiode, von vielen gewünscht, verweigerte sich Heinemann, auch aus Rücksicht auf seine Frau, ohne deren solidarische Unterstützung er sein aufreibendes öffentliches Engagement nicht hätte meistern können. Er überlebte seine Amtszeit nur um zwei Jahre. Gustav Heinemann starb am 7.7.1976 in Essen; sein Grab befindet sich auf dem dortigen Parkfriedhof.
Nachlass
Nachlass Gustav W. Heinemann im Archiv der sozialen Demokratie.
Werke (Auswahl)
Archiv der sozialen Demokratie (Hg), Gustav W. Heinemann. Bibliographie, bearbeitet von Martin Lotz, Bonn 1976.
Das Recht der Kassenärzte und Kassendentisten, Berlin 1935 (4. veränderte Auflage unter dem Titel „Kassenarztrecht … zusammen mit Rolf Liebold", Berlin 1961).
Handbuch des deutschen Bergwesens, zusammen mit A. Pinkerneil, Berlin 1938.
Der Bergschaden nach preußischem Recht, Berlin 1941 (3. Auflage 1961).
Deutsche Friedenspolitik. Reden und Aufsätze, Darmstadt 1952.
Im Schnittpunkt der Zeit. Reden und Aufsätze. Mit einem Vorwort von Helmut Gollwitzer, Darmstadt 1957.
Verfehlte Deutschlandpolitik. Irreführung und Selbsttäuschung. Artikel und Reden, 3. Auflage, Frankfurt a. M. 1970.
Plädoyer für den Rechtsstaat. Rechtspolitische Reden und Aufsätze, Karlsruhe 1969.
Allen Bürgern verpflichtet. Reden des Bundespräsidenten 1969-1974, Reden und Schriften Band 1, Frankfurt am Main 1975.
Glaubensfreiheit – Bürgerfreiheit. Reden und Schriften Band 2, hg. von Diether Koch, Frankfurt am Main 1976 (2. Auflage München 1990).
Es gibt schwierige Vaterländer … Aufsätze und Reden 1919 – 1969. Reden und Schriften Band 3, Frankfurt am Main 1976, hg. von Helmut Lindemann (2. Auflage München 1988).
Unser Grundgesetz ist ein großes Angebot. Rechtspolitische Schriften, hg. von Jürgen Schmude, München 1989.
Literatur (Auswahl)
Flemming, Thomas, Gustav W. Heinemann. Ein deutscher Citoyen. Biographie, Essen 2014.
Koch, Diether (Hg.), Gustav Heinemann. Einspruch. Ermutigung für entschiedene Demokraten, Bonn 1999.
Koch, Diether, Heinemann und die Deutschlandfrage, München 1972.
Lindemann, Helmut, Gustav Heinemann. Ein Leben für die Demokratie, München 1978.
Vinke, Hermann, Gustav Heinemann, Hamburg 1979.
Schütz, Uwe, Gustav Heinemann und das Problem des Friedens im Nachkriegsdeutschland, Münster 1993.
Thierfelder, Jörg/Riemenschneider, Matthias (Hg.), Gustav Heinemann. Christ und Politiker, Karlsruhe 1999.
Treffke, Jörg, Gustav Heinemann. Wanderer zwischen den Parteien. Eine politische Biographie, Paderborn 2009.
Online
Gustav Heinemann (Biographische Information und Erläuterung des Nachlasses Heinemanns auf der Website des Archivs der sozialen Demokratie/der Friedrich-Ebert-Stiftung).
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Dann, Otto, Gustav Heinemann, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/gustav-heinemann/DE-2086/lido/57c8298d0f00b5.84597363 (abgerufen am 07.10.2024)