Zu den Kapiteln
Mit der Märchenoper „Hänsel und Gretel“ schuf Engelbert Humperdinck eine der populärsten und bis heute meistaufgeführten Opern. Es gelang ihm, nicht nur in diesem Werk eingängige Melodien mit einem kontrapunktisch dichten Satz und spätromantischer Orchestrierungskunst und Harmonik zu verknüpfen. Humperdincks „Erfolgsgeheimnis“ war es, in seiner melodischen Erfindung an die Natürlichkeit und Volkstümlichkeit, wie sie aus Wolfgang Amadeus Mozarts (1756–1791) „Zauberflöte“, Carl Maria von Webers (1786–1826) „Freischütz“ oder den Spielopern Albert Lortzings (1801–1851) bekannt sind, anzuknüpfen. In Kombination mit den anderen genannten Stilmerkmalen konnte er so eine eigenständige Opernkonzeption nach Richard Wagner (1813–1883) entwickeln, an die schließlich Richard Strauss (1864–1949) anknüpfen konnte.
Humperdinck wurde am 1.9.1854 in Siegburg geboren. Sein Vater Gustav Humperdinck (1823–1902), Rektor des Städtischen Progymnasiums in Siegburg, hatte seine Dienstwohnung, in der Sohn Engelbert zur Welt kam, im Schulgebäude, dem heutigen Siegburger Stadtmuseum. Die musikalische Begabung Engelberts ist auf die Mutter Gertrud Humperdinck, geborene Hartmann (1835–1903), zurückzuführen, die, als Tochter des Paderborner Domkapellmeisters Franz Xaver Hartmann (1794–1853), eine sängerische Ausbildung besaß.
Humperdinck besuchte die Schule in Siegburg und Paderborn, wo er 1871 seine Abiturprüfung ablegte. Mit sieben Jahren erhielt er ersten Klavierunterricht; zum musikalischen Schlüsselerlebnis wurde im Alter von 14 Jahren der Besuch der Oper „Undine“ von Albert Lortzing (1801-1851). Gemäß dem väterlichen Willen begann er nach dem Abitur zunächst eine Bauzeichnerlehre in Siegburg, stellte sich aber im April 1872 mit Erfolg der Aufnahmeprüfung am Kölner Konservatorium. Dort studierte Humperdinck bis 1876, unter anderem bei Ferdinand Hiller (1811–1885). Der Gewinn des Frankfurter Mozartstipendiums ermöglichte ihm 1877-1879 eine Fortsetzung der Ausbildung bei Franz Lachner (1803-1890) und an der Königlichen Musikschule in München bei Josef Gabriel Rheinberger (1839–1901).
Nach dem Besuch eines von Richard Wagner (1813–1883) dirigierten Kölner Werbekonzerts 1873 für die Bayreuther Festspiele wandte Humperdinck seine musikalischen Interessen zunehmend den Wagnerschen Kunstidealen zu, sah in München 1878 die geschlossene Aufführung von Wagners „Ring des Nibelungen“ und trat dem „Orden vom Gral“, einem Geheimbund junger Wagneranhänger, bei. Als Mendelssohn-Stipendiat nutzte er seinen Italien-Studienaufenthalt 1880, um am 9.3.1880 in Neapel Bekanntschaft mit Wagner zu schließen. In der Folge wirkte er als Wagners Assistent bei der Vorbereitung und Einstudierung der Uraufführung von dessen „Parsifal“ in Bayreuth (1882) mit; auch nach der „Parsifal“-Uraufführung und Wagners Tod 1883 blieben die Kontakte zwischen Humperdinck und der Wagner-Familie freundschaftlich und eng; Wagners Sohn Siegfried (1869–1930) wurde Humperdincks Kompositionsschüler.
Das Meyerbeer-Reisestipendium erlaubte ihm 1882/1883 eine Studienreise durch Frankreich, Spanien und Marokko, deren Eindrücke sich in der „Maurischen Rhapsodie“ für Orchester (1898) niederschlugen. Die Folgejahre bis 1888 sahen Humperdinck weiterhin als regelmäßigen Mitarbeiter der Bayreuther Festspiele, als „musikalischen Gesellschafter“ bei Alfred Krupp in der Villa Hügel (Essen), als Lehrer in Barcelona (am Liceo) und am Kölner Konservatorium. 1888 nahm Humperdinck eine Lektorenstelle beim Musikverlag Schott in Mainz an und konnte in dieser Position den Komponisten Hugo Wolf (1860-1903) fördern. 1890 wurde Humperdinck Lehrer am Hochschen Konservatorium in Frankfurt am Main und Kritiker der Frankfurter Zeitung. 1892 heiratete er die Siegburgerin Hedwig Taxer (1862-1916). Das Paar bekam fünf Kinder: die Töchter Edith (1894–1990), Irmgart (1896–1991), Olga (1898–1899) und Senta (1901–1991) sowie Sohn Wolfram (1893–1985), der sich als Opernregisseur und Intendant einen Namen machte.
Zur Zäsur in Humperdincks Leben wurde die Uraufführung von „Hänsel und Gretel“ unter Leitung von Richard Strauss (1864-1949) am 23.12.1893 in Weimar, die umgehend ein Welterfolg wurde. Nach „Hänsel und Gretel“ „erreichte ihn die Bitte um eine Bühnenmusik zum Märchenschauspiel „Königskinder" von Ernst Rosmer (Pseudonym für Elsa Bernstein, 1866-1949). Dafür entwickelte Humperdinck das „gebundene Melodram“, bei dem von den Schauspielern ein Sprechgesang gefordert wurde, dessen Tonhöhe mit Hilfe einer speziellen Notation aus gekreuzten Notenköpfen fixiert war – eine Technik, die sich allerdings nicht durchsetzte und erst im 20. Jahrhundert wieder verwendet wurde. Das Melodram „Königskinder“ erlebte am 23.1.1897 seine Uraufführung in München.
Im März 1897 bezog Humperdinck eine Villa in Boppard am Rhein, seine Frankfurter Stellen hatte er bereits gekündigt. Ende 1900 wurde er zum Leiter einer Meisterklasse für Komposition an die Königliche Akademie der Künste in Berlin berufen; das Bopparder „Schlösschen“ behielt er als Sommersitz bei. In Berlin entstanden unter anderem die Opern „Dornröschen“ und „Heirat wider Willen“, sowie, für Produktionen unter Max Reinhardt (1873-1943) am Deutschen Theater, eine Reihe von Bühnenmusiken vor allem zu Shakespeare-Dramen. 1905 reiste Humperdinck zur amerikanischen Erstaufführung von „Hänsel und Gretel“ an der Metropolitan Opera in New York, die am 28.12.1910 eine Neufassung der „Königskinder“, diesmal als Oper, zur glanzvollen Uraufführung brachte.
1911 wurde Humperdinck als Nachfolger von Max Bruch (1838–1920) zum Direktor der Theorie- und Kompositionsabteilung der Königlichen Hochschule für Musik in Berlin berufen. Trotz gesundheitlicher und persönlicher Rückschläge wie dem Tod seiner Gattin 1916 schuf er noch zwei Opern, „Die Marketenderin“ (1914) und „Gaudeamus“ (1919). 1920 trat er in den Ruhestand. Für das Alter plante er eine Rückkehr ins Rheinland und beabsichtigte, nach Bad Honnef umzusiedeln; er war sich seiner rheinischen Wurzeln immer bewusst geblieben. Diese sind beispielsweise in Liedern wie dem „Rheinlied“ oder „Am Rhein“, aber auch im Orchesterwerk „Die Glocke von Siegburg“ präsent.
Humperdinck starb am 27.9.1921 an einem Schlaganfall in Neustrelitz und wurde auf dem Friedhof in Stahnsdorf bei Berlin beigesetzt.
Humperdinck war in erster Linie ein Bühnen- und Vokalkomponist. Unter seinen Kompositionen ragen die sechs Opern heraus, allen voran „Hänsel und Gretel“ und „Königskinder“. Daneben stellen die Shakespeare-Schauspielmusiken einen weiteren Schwerpunkt seines Schaffens dar. Bedeutsam ist auch die Instrumentalmusik, in denen er mit neuen formalen Abläufen experimentierte: Die „Maurische Rhapsodie“ (1890), das Klavierquintett (1875) und das Streichquartett C-Dur (1920) sind im Bemühen um eine Dreisätzigkeit (statt der üblichen Viersätzigkeit) miteinander verknüpft: Hier soll sich meine Theorie der Dreisätzigkeit – in der Malerei Triptychon genannt – einmal praktisch als berechtigt erweisen; die üblichen beiden Mittelsätze – langsamer Satz und Scherzo – sind zu einem einzigen Mittelsatz verschmolzen, aber so, dass jeder von ihnen zu seinem Recht gelangt, was nur durch kontrapunktische Künste zu ermöglichen war (zitiert nach Humperdinck, Engelbert Humperdinck, 1993, S. 329).
Humperdincks Schaffen ist von zwei gegensätzlichen Einflüssen geprägt: Auf der einen Seite wurde die traditionelle, aber sorgfältige handwerkliche Konservatoriumsausbildung bei Hiller und Rheinberger zur Grundlage für eine virtuose Beherrschung des Kompositionshandwerks, die sich in der ungewöhnlich polyphonen Dichte – Humperdinck war der sicherlich am konsequentesten polyphon komponierende Musiker seiner Zeit – sowie dem filigranen, immer durchsichtigen Orchestersatz seiner Werke zeigt und den Melodiker Humperdinck auch als Kontrapunktiker von Rang und Meister der Instrumentierungskunst ausweist. Der Einfluss Richard Wagners andererseits ist vor allem in der Harmonik und den Orchesterfarben erkennbar.
Humperdincks Komponieren ist von Volksnähe gekennzeichnet. „Hänsel und Gretel“ beispielsweise zeichnet sich durch eine vom Volkslied ausgehende, in ihrer Einfachheit echt und kindlich wirkende Erfindung aus; Melodien wie „Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh“, „Brüderchen, komm tanz mit mir“, „Knusper, knusper Knäuschen“ oder „Ein Männlein steht im Walde“ wurden ihrerseits zu wahren Volksliedern. Seine Volksnähe und die Hinwendung zur Märchenoper ließen ihn einen Weg finden, aus dem Schatten des übermächtigen Vorbildes Richard Wagner herauszutreten.
Sein künstlerisches Ideal lag jedoch auf anderem Gebiet: Sollte man es für möglich halten, dass unter dem gewaltigen Stoß von Manuskripten, der mir seit ungefähr einem Jahr [seit der Uraufführung von „Hänsel und Gretel“] ins Haus geflogen ist, auch nicht eine einzige komische Oper sich befunden hat? Entweder Mord und Totschlag oder Operettenblödsinn oder gar zuckersüße Märchen! Es ist gerade, als ob wir fin-de-siècle-Menschen das Lachen Rossinis, Aubers und Lortzings ganz verlernt hätten (zitiert nach Humperdinck, Engelbert Humperdinck, S. 223-224).„Heirat wider Willen“, „Die Marketenderin“ und „Gaudeamus“ waren Humperdincks Versuche, diesen Vorstellungen zu folgen; allerdings war diesen Werken kein dauerhafter Erfolg beschieden.
Die Kunst Humperdincks beruht darin, Wagners Kunstprinzipien bewusst nicht im eigenen Werk epigonenhaft zu kopieren, dabei nicht ins Seichte zu verfallen, sondern auf höchstem kompositorischen Niveau und dem Stand der Harmonik und Orchesterkunst der Jahrhundertwende einen eigenen Tonfall zwischen „Neudeutschen“ – mit Wagner und Liszt (1811–1886) als Leitfiguren –, „Brahminen“ (wie die Anhänger der „traditionellen“ Schule genannt werden) und dem französischen Impressionismus gefunden zu haben. Sein Pech war es, dass sich ihm nach der zweiten „Königskinder“-Fassung 1910 kein gleichwertiger Opernstoff bot, sein symphonischer Ehrgeiz nach der „Maurischen Rhapsodie“ keine Inspiration fand und er sich mit Auftragswerken wie den zahlreichen Schauspielmusiken zufrieden gab.
Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts geriet Humperdincks Werk – mit Ausnahme von „Hänsel und Gretel“ – zunehmend in Vergessenheit, gelegentliche Aufführungen und Einspielungen der „Königskinder“ vermochten daran nichts zu ändern. Seit 1999 hat es sich daher die in Siegburg ansässige „Musikwerkstatt Engelbert Humperdinck“ zur Aufgabe gemacht, wissenschaftlich fundierte Neu- oder Erstausgaben nicht zugänglicher Kompositionen Humperdincks zu publizieren.
Opern
Hänsel und Gretel, 1893.
Königskinder, 1897/1910.
Dornröschen, 1902.
Heirat wider Willen, 1905.
Die Marketenderin, 1914.
Gaudeamus, 1919.
**Schauspielmusiken (Auswahl) zu
** Der Kaufmann von Venedig (Shakespeare), 1905.
Der Sturm (Shakespeare), 1907.
Was ihr wollt (Shakespeare), 1908.
Der blaue Vogel (Maeterlinck), 1910.
** Orchesterwerke (Auswahl)**
Die Glocke von Siegburg, 1879.
Humoreske, 1879.
Maurische Rhapsodie, 1898.
** Chorballaden**
Die Wallfahrt nach Kevlaar (Heine), 1878/1886.
Das Glück von Edenhall (Uhland), 1879, 1883.
Kammermusik (Auswahl)
Klavierquintett G-Dur, 1875.
Streichquartett C-Dur, 1920.
ferner Einzelsätze für Streichquartett, Violine und Klavier
Lieder und kleinere Klavierstücke, unter anderem „Tonbild zu Schillers Lied von der Glocke“, 1884
ferner geistliche und profane Chorwerke, Bearbeitungen, unter anderem von Werken Richard Wagners für verschiedene Instrumente.** **
Schriften (Auswahl)
Instrumentationslehre, 1892.
Parsifal-Skizzen, 1907.
Die Zeitlose. Modernes Traummärchen, 1921.
Quellen
Humperdinck, Eva (Hg.), Briefe und Dokumente zur Entstehungs- und Wirkungsgesschichte des Melodrams „Königskinder“, Koblenz 2003.
Literatur
Distelkamp, Bernd, „Eine innige Verschmelzung von Wort und Musik…“. Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte der Märchenoper Königskinder von Elsa Bernstein und Engelbert Humperdinck, Siegburg 2003.
Humperdinck, Wolfram, Engelbert Humperdinck. Das Leben meines Vaters, Frankfurt a. M. 1965, Neuausgabe Koblenz 1993.
Irmen, Hans-Josef, Die Odyssee des Engelbert Humperdinck. Eine biographische Dokumentation, Kall 1975.
Irmen, Hans-Josef, Thematisch-Systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke Engelbert Humperdincks (IWV), Zülpich 2005.
Online
Heussner, Horst, „Humperdinck, Engelbert“, in: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 58-59.
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Ubber, Christian, Engelbert Humperdinck, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/engelbert-humperdinck/DE-2086/lido/57c9265a97df43.67274711 (abgerufen am 06.10.2024)