Zu den Kapiteln
Ernst Lemmer war Reichstagsmitglied in der Weimarer Republik, Gegner der Nationalsozialisten, Mitgründer der CDU in Berlin, Mitglied des Deutschen Bundestages und zugleich des Abgeordnetenhauses von Berlin, unter den Bundeskanzlern Adenauer und Erhard Minister in drei verschiedenen Ressorts. Sein politisches Hauptziel war die Wiederherstellung der deutschen Einheit.
Lemmer wurde am 28.4.1898 als Sohn eines Architekten und Bauunternehmers in Remscheid geboren. Seine Heimatstadt liegt im Bergischen Land, das Lemmer in seinen Lebenserinnerungen als das „Land auf den mittelhohen Bergen zwischen Sauerland und Westerwald" beschreibt. Er beendete den Besuch des Remscheider Realgymnasiums im März 1915 vorzeitig mit dem Kriegsabitur und diente dann freiwillig bis 1918 als Soldat, zuletzt als Leutnant. Ein Neffe Lemmers, Gerd Ludwig Lemmer (geboren 1925), war von 1961-1963 Oberbürgermeister von Remscheid, von 1962-1966 Staatsminister für Bundesangelegenheiten des Landes Nordrhein-Westfalen und über viele Jahre Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags.
Im Mai 1919 begann Lemmer in Marburg ein Studium der Theologie, Geschichte und Volkswirtschaftslehre, das er im Juli 1920 in Frankfurt a.M. fortsetzte. Der liberal und demokratisch eingestellte Kopf kam mit rechtsgerichteten Studentenkorps in Konflikt und schloss sich sozial-liberalen Gewerkschaftsvertretern an. Im Mai 1922, mit 24 Jahren, brach er sein Studium ab und ging als Generalsekretär des „Freiheitlich-Nationalen Gewerkschaftsrings deutscher Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände", des Dachverbandes der liberalen Hirsch-Duncker’schen Gewerkvereine, nach Berlin; dieses Amt hatte er bis zur Auflösung der Gewerkschaften durch die Nationalsozialisten 1933 inne.
Von 1923 bis 1930 war Lemmer Reichsvorsitzender der Jugendorganisation der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), der liberalen Kraft im zersplitterten Weimarer Parteienspektrum. Schon beim Studium in Marburg hatte er sich den Studentengruppen dieser Partei angeschlossen und es rasch zum Vorsitz des Deutschen Demokratischen Studentenbundes gebracht. Im Dezember 1924 zog er mit einem Mandat der DDP im Wahlkreis Pommern in den Reichstag ein, dessen jüngstes Mitglied er damals war. Er wurde dem linken Flügel seiner Partei zugerechnet, galt als einer ihrer begabtesten und vielseitigsten Köpfe und war Sprecher seiner Fraktion für Sozial- und Jugendpolitik sowie in Gewerkschafts- und Reichswehrfragen. Von 1924 bis 1930 gehörte er dem Reichsvorstand seiner Partei an, 1929 wurde er ihr stellvertretender Vorsitzender. In der Weimarer Zeit schloss Lemmer sich auch dem „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold" an, einem überparteilichen, hauptsächlich aber aus Sozialdemokraten bestehenden Bündnis zum Schutz der jungen Republik vor ihren Feinden am rechten und linken Rand.
Mit den Liberaldemokraten ging es in der Weimarer Zeit stetig bergab. Hatten sie 1919 bei den Wahlen zur Nationalversammlung noch respektable 18,6% der Stimmen erzielt, erhielten sie, die sich 1930 in „Deutsche Staatspartei" umbenannt hatten, bei den Wahlen 1932 gerade 1% und waren nach der Reichstagswahl vom 5.3.1933 nur noch mit fünf Mitgliedern im Reichstag vertreten, die alle Hitlers Ermächtigungsgesetz vom 24.3.1933 zustimmten – Lemmer, wie er in seinen Erinnerungen bekennt, „in der törichten Hoffnung …, daß die Diktatur Hitlers durch die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage eine legale Begrenzung erfahren würde."
Mit der von den Nationalsozialisten erzwungenen Auflösung der „Staatspartei" verlor Lemmer sein Reichstagsmandat. Er wurde wegen „nationaler Unzuverlässigkeit" auch aus dem Reichsverband der deutschen Presse ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkam. Dank einer Sondergenehmigung konnte er zwischen 1933 und 1945 von Berlin aus als Deutschlandkorrespondent für ausländische Zeitungen, hauptsächlich für die „Neue Zürcher Zeitung", „L’Indépendence Belge" und den „Pester Lloyd" tätig sein; schon als Student hatte er für die DDP-nahe Frankfurter Zeitung geschrieben, und auch als Reichstagsabgeordneter hatte er sich immer intensiv journalistisch betätigt. Während der Kriegszeit hielt Lemmer über Jakob Kaiser (1888-1961), mit dem er aus der Gewerkschaftsbewegung gut bekannt war, losen Kontakt zu Widerstandskreisen.
Kurz vor Kriegsende wurde Lemmer kurzzeitig Bürgermeister seines bereits sowjetisch besetzten Wohnortes Kleinmachnow bei Berlin. An seinem 47. Geburtstag stand ein russischer Offizier vor seiner Haustür, richtete, als Lemmer sich zunächst weigerte, das angetragene Amt zu übernehmen, die Pistole auf ihn und drohte: „Du Bürgermeister – oder … tott!"
Nach dem Krieg gehörte Ernst Lemmer zu den Mitgründern der CDU in Berlin und in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Nach der Absetzung der beiden ersten Vorsitzenden Andreas Hermes (1878-1964) und Walther Schreiber (1864-1958) durch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) wurde er Ende 1945 neben Jakob Kaiser zweiter Vorsitzender der Partei. Beide mussten Ende 1947 wegen ihres Widerstandes gegen die von der SED gesteuerte Volkskongressbewegung auf Druck der SMAD von ihren Ämtern zurück treten. Beide hatten vergeblich versucht, sich dem kommunistischen Anpassungs- und Gleichschaltungsdruck zu widersetzen und die Eigenständigkeit ihrer Partei zu erhalten.
Kaiser und sein Kreis, darunter auch Lemmer, der im Mai 1949 von Kleinmachnow nach Westberlin verzog und seine Vorstandsposten in den inzwischen gleichgeschalteten Massenorganisationen Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) und Kulturbund für die demokratische Erneuerung Deutschlands aufgab, versuchten von Berlin aus, weiter auf die Geschicke der Zonen-CDU Einfluss zu nehmen. Dies erwies sich als unmöglich, und so konstituierte sich aus dem „Büro Kaiser" 1950 offiziell die Exil-CDU; sie verstand sich als einzig legaler Hauptvorstand der SBZ-CDU. Sie wurde als solcher von der 1950 in Goslar gegründeten westdeutschen CDU anerkannt und im Status einem Landesverband der CDU gleichgestellt. Lemmer war von 1950 bis 1961 stellvertretender Vorsitzender, danach bis zu seinem Tod Vorsitzender der Exil-CDU. Von 1963 bis 1970 war er auch Vorsitzender des Gesamtverbandes der Sowjetzonenflüchtlinge.
In Berlin war Lemmer von 1949 bis 1956 als Chefredakteur der Tageszeitung „Der Kurier" tätig, danach war er zehn Jahre lang ihr Herausgeber. Zugleich hatte er zahlreiche politische Ämter und Funktionen inne: Von Oktober 1946 bis 1948 war er Mitglied des brandenburgischen Landtags, danach seit Beginn der 1. Legislaturperiode im November 1951 bis 1970 Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin, wo er von 1951 bis 1956 den Fraktionsvorsitz führte. Von 1950 bis 1956 war er auch stellvertretender Landesvorsitzender, danach bis 1961 Landesvorsitzender der Berliner CDU; später wurde er ihr Ehrenvorsitzender. Von Februar 1952 bis zu seinem Tod war er als Vertreter (West-)Berlins Mitglied des Deutschen Bundestages, von Februar 1963 bis Februar 1964 auch stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU. Bei der Kandidatur um das Amt des Bundestagspräsidenten unterlag er im November 1954 nur knapp Eugen Gerstenmaier (1906-1986).
Ernst Lemmer bekleidete nacheinander zwei Ministerposten in Kabinetten Konrad Adenauers. Von November 1956 bis Oktober 1957 war er Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen, danach bis Dezember 1962 Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen. Im Februar 1964 berief ihn Ludwig Erhard (1897-1977) zum Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Er setzte sich in diesem Amt, das er bis Oktober 1965 führte, erfolgreich für die Novellierung des Lastenausgleichs- und Flüchtlingshilfegesetzes ein, das nun auch Flüchtlinge aus der DDR umfasste. Danach war er bis Oktober 1969 ehrenamtlich als Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Berlin tätig.
Adenauer und Lemmer verband ein Verhältnis gegenseitigen Respekts, doch gerieten sie in deutschlandpolitischen Fragen nicht selten aneinander. Mehr als es Adenauer opportun erschien, versuchte Lemmer in den 1950er und 1960er-Jahren immer wieder die Präsenz des Bundes in Berlin zu stärken und trat mit gesamtdeutschen Appellen und Aktivitäten hervor. So richtete er in seinem ersten Ministeramt demonstrativ von Bonn aus einen zusätzlichen Dienstsitz am Kurfürstendamm in Berlin ein, plädierte für eine gesamtdeutsche Volksabstimmung zur Frage der deutschen Einheit und für eine gesamtdeutsche Olympiamannschaft mit gemeinsamer schwarz-rot-goldener Flagge ohne staatliche Symbole. Der Dissens in diesen Fragen war aber eher einer des Weges als des Zieles: „In Wirklichkeit", so Lemmer später in seinen Memoiren über Adenauer, „hat er niemals aufgehört, an Gesamtdeutschland zu denken." Auch Ernst Lemmer hat das Bemühen um die deutsche Einheit immer als seine Lebensaufgabe verstanden.
Beachtlich sind Lemmers politische Umtriebigkeit und Ämterfülle. Die Mandate im Deutschen Bundestag und im Berliner Abgeordnetenhaus füllte er über nahezu zwei Jahrzehnte parallel aus und arbeitete in zahlreichen Ausschüssen mit. Auch sein rhetorisches Geschick in politischen Debatten und seine Volksnähe sind besonders hervorzuheben.
Ernst Lemmer starb am 18.8.1970 in Berlin an den Folgen einer Magenoperation. Er wurde in einem Ehrengrab des Landes Berlin auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof beigesetzt.
Quellen
Lemmer, Ernst, Manches war doch anders. Erinnerungen eines deutschen Demokraten, überarb. Neuauflage, München 1996.
Literatur
Hausmann, Marion, Ernst Lemmer in der SBZ (1945-1949). Der lange Weg nach Westen, in: Historisch-Politische Mitteilungen 11 (2004), S. 147-170.
Hausmann, Marion, Vom Weimarer Linksliberalen zum Christdemokraten. Ernst Lemmers politischer Weg bis 1945, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 14 (2002), S. 197-217.
Mayer, Tilman, Lemmer, Ernst, in: Udo Kempf / Hans-Georg Merz (Hg.), Kanzler und Minister 1949-1998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Wiesbaden 2001, S. 424-428.
Richter, Michael, Die Ost-CDU 1948-1952. Zwischen Widerstand und Gleichschaltung, 2. korrigierte Auflage, Düsseldorf 1991.
Online
Ernst Lemmer, Im Auftrag ihres Gewissens. Ansprache des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen Ersnt Lemmer am 20. Juli 1962 in der Bonner Beethovenhalle (Publikation der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, PDF-Datei). [Online]
Ernst-Lemmer-Institut (Hg.), Ernst Lemmer - ein Leben für die Politik, 2008 (Biographische Information auf der Website des Ernst-Lemmer-Instituts, PDF-Datei). [Online]
Luckemeyer, Ludwig, "Lemmer, Ernst", in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 187-188. [Online]
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Agethen, Manfred, Ernst Lemmer, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/ernst-lemmer/DE-2086/lido/57c93ef54f0b83.52697257 (abgerufen am 10.12.2024)