Die Phonoindustrie im Rheinland

Karsten Lehl (Düsseldorf)
Veröffentlicht am 19.08.2019, zuletzt geändert am 12.08.2020

Der Phonograph 'Eureka' von Stollwerck aus dem Jahr 1902, 2009. (Sammlung Montana Phonograph)

1. Eine merkwürdige Novität: Der Phonograph

Bis ins letz­te Vier­tel des 19. Jahr­hun­derts war es un­vor­stell­bar, dass Schall nicht ein flüch­ti­ges Phä­no­men blei­ben muss, son­dern kon­ser­viert und be­lie­big re­pro­du­ziert wer­den kann. Zwar be­müh­te sich die Phy­sik schon län­ger um ei­ne Sicht­bar­ma­chung des Schalls zu For­schungs­zwe­cken. Dar­aus die Kon­se­quenz zu zie­hen, dass ei­ne Auf­zeich­nung nur noch ei­nen win­zi­gen Schritt von der Re­pro­duk­ti­on ent­fernt lag, zog sich er­staun­lich lan­ge hin. Be­reits 1857 ent­wi­ckel­te Edouard Lé­on Scott de Martinville (1817–1879) sei­nen „Pho­ne-Au­to­gra­ph“, der über ei­nen Trich­ter den Schall auf ei­ne durch die Schwin­gungs­en­er­gie vi­brie­ren­de Mem­bran lenk­te. De­ren Be­we­gun­gen konn­ten dann auf ei­nem mit Ruß ein­ge­färb­ten Pa­pier sicht­bar ge­macht und un­ter dem Mi­kro­skop stu­diert wer­den. Der 20 Jah­re spä­ter von Tho­mas Al­va Edi­son (1847–1931) in den USA ent­wi­ckel­te „Pho­no­gra­ph“ be­dien­te sich ei­nes na­he­zu iden­ti­schen Prin­zips, ob­wohl der Er­fin­der die frü­he­ren Ver­su­che sei­nes Pa­ri­ser Kol­le­gen ver­mut­lich nicht kann­te. Edi­son je­doch drück­te die Schall­wel­len mit­tels ei­nes Me­tall­knop­fes in ei­ne Stan­ni­ol­fo­lie, die auf ei­nen ro­tie­ren­den Zy­lin­der ge­spannt war. Die so ent­ste­hen­den Ver­for­mun­gen der Fo­lie konn­ten um­ge­kehrt wie­der auf die Mem­bran über­tra­gen wer­den und so – wenn auch zu­nächst lei­se und nicht son­der­lich deut­lich – die Auf­zeich­nung wie­der in hör­ba­re Schwin­gun­gen zu­rück­ver­wan­deln. Ers­te öf­fent­li­che Vor­füh­run­gen ver­blüff­ten ein Pu­bli­kum, das auch of­fen­kun­di­ge De­fi­zi­te zu über­hö­ren be­reit war. „Wo bleibt die Ste­no­gra­phie, wenn hier die Mög­lich­keit ge­ge­ben ist, oh­ne Wei­te­res dem ge­spro­che­nen Wor­te durch das Spre­chen selbst dau­ern­de Ver­kör­pe­run­gen zu ge­ben?“, frag­te das Düs­sel­dor­fer Volks­blatt am 23.4.1878. Der Neu­heits­wert der Er­fin­dung leg­te sich je­doch schnell. In den kom­men­den Jah­ren ge­riet das ku­rio­se Ge­rät fast wie­der in Ver­ges­sen­heit. Ein 1879 für die Phy­sik-Samm­lung der Re­al­schu­le 1. Ord­nung in Mül­heim/Ruhr an­ge­schaff­ter Pho­no­graph blieb für meh­re­re Jah­re ei­ne Ein­zel­er­schei­nung im Rhein­land.

Thomas Alva Edison mit seinem Zinnfolien-Phonographen, 1878. (Library of Congress's Prints and Photographs division, digital ID cwpbh.04044)

 

Nach­dem Edi­son sich 1887 wie­der ver­stärkt mit der Tonauf­zeich­nung be­schäf­tigt hat­te, konn­te er schlie­ß­lich nach in­ten­si­ver Ar­beit ei­nen „New Im­pro­ved Pho­no­gra­ph“ prä­sen­tie­ren, der viel prä­zi­ser ar­bei­te­te als das Vor­gän­ger­mo­dell. Der Ton wur­de nun in Wachs­wal­zen ein­ge­schnit­ten und nicht mehr ein­ge­drückt, wo­durch der Klang be­deu­tend kla­rer wur­de. Auch an Mem­bran und Mo­tor war vie­les ver­bes­sert, und das neue Ge­rät er­reg­te ent­spre­chend Auf­merk­sam­keit. Edi­sons Agent Theo Wan­ge­mann (1855–1906) brach 1889 zu ei­ner sie­ben­mo­na­ti­gen Rei­se durch Eu­ro­pa auf, um nicht nur das neue Ge­rät be­kannt zu ma­chen, son­dern auch wer­be­wirk­sa­me Vor­führ-Wal­zen von be­kann­ten Per­sönlickei­ten und Mu­si­kern her­zu­stel­len. Lei­der sind nur we­ni­ge sei­ner Auf­nah­men er­hal­ten, dar­un­ter ein­ma­li­ge Ton­do­ku­men­te von Ot­to von Bis­marck (1815–1891), Graf Hel­muth von Molt­ke (1800–1891) und Jo­han­nes Brahms (1833–1897). Letz­te Sta­ti­on Wan­ge­manns kurz vor sei­ner Rück­rei­se in die USA war Köln; hier ent­stan­den Auf­nah­men der So­pra­nis­tin Jo­han­na Dietz (1867–?), ei­nes nicht si­cher zu iden­ti­fi­zie­ren­den Karl May­er ─ so­wohl der Ba­ri­ton Karl May­er (1852–1933) als auch der Bas­sist Karl Mey­er (1820–1893) wa­ren zu die­ser Zeit in Köln ak­tiv ─, des be­deu­ten­den Pia­nis­ten Ot­to Neit­zel (1852–1920) und von Mu­sik­di­rek­tor Franz Wüll­ner (1832–1902).

Thomas Edisons 'home phonograph' mit einer Wachswalze aus dem Jahr 1900. (Norman Bruderhofer / CC BY-SA 3.0)

 

2. Um 1900: Rheinische Phonoindustrie als Trendsetter

Noch ein­mal dau­er­te es ei­ni­ge Jah­re, bis die in­dus­tri­el­le Pro­duk­ti­on von Wal­zen und Pho­no­gra­phen be­gann. Die dann ein­set­zen­de Ent­wick­lung war je­doch über­aus ra­sant. Ver­mut­lich ers­ter Her­stel­ler ent­spre­chen­der Pro­duk­te in Deutsch­land war die „All­ge­mei­ne Pho­no­gra­phen-Ge­sell­schaft m. b. H.“ in Kre­feld, wie ein Pa­ten­t­an­trag aus dem Jahr 1893 na­he­legt. Trotz Kon­kur­renz aus dem In- und Aus­land konn­te die Fir­ma ih­ren Platz durch im­mer neue Kon­struk­tio­nen und Pa­ten­te ver­tei­di­gen. 1901 galt sie mit 150 Be­schäf­tig­ten als grö­ß­ter Be­trieb der Bran­che im Deut­schen Reich. Die Ge­sell­schaft war in Deutsch­land mit Ge­rä­ten und Wal­zen der Mar­ke „He­rol­d“ prä­sent und lie­fer­te auch Ge­rä­te an den eng­li­schen Kon­zern „Edi­son Bel­l“. Da­ne­ben ver­trie­ben die „Kre­fel­der“, wie sie ver­kürzt ge­nannt wur­den, Du­pli­zier­ma­schi­nen zum me­cha­ni­schen Ko­pie­ren von Wal­zen. Das war bis 1902 der ein­zi­ge Weg zur Ver­viel­fäl­ti­gung – ein ent­schei­den­der Grund, war­um die ein­fa­cher in Mas­sen her­zu­stel­len­de Schall­plat­te sich als Me­di­um schlie­ß­lich durch­setz­te, wäh­rend sie seit den 1890ern zu­nächst ein Schat­ten­da­sein ge­fris­tet hat­te.

1901 hat­te die Pho­no­in­dus­trie be­reits die ers­te Kri­se hin­ter sich. Der Ver­such im Jahr 1899, so­ge­nann­te „Gran­d“-Wal­zen mit grö­ße­rem Durch­mes­ser und da­mit bes­se­rer Ton­qua­li­tät ein­zu­füh­ren, er­wies sich auf­grund all­zu gro­ßer Zer­brech­lich­keit der Me­di­en als kost­spie­li­ger Fehl­schlag, der et­li­che Exis­ten­zen kos­te­te. Der in Kre­feld-Fi­scheln an­säs­si­ge Un­ter­neh­mer Os­kar Lam­brinck (1864–?) et­wa ver­such­te über Mo­na­te ver­geb­lich, per An­non­ce in Fach­blät­tern ei­ne „neu­wer­ti­ge Du­pli­k­at­ma­schi­ne zum Ko­pie­ren von Grand­wal­zen für Mk. 165.-“ und ei­nen Pos­ten be­spiel­ter Grand-Wal­zen zu je 1,50 Mk. „we­gen Auf­ga­be des Ge­schäfts“ zu ver­äu­ßern. Auch die „All­ge­mei­ne Pho­no­gra­phen-Ge­sell­schaft m.b.H.“ muss­te al­len Er­fol­gen zum Trotz schlie­ß­lich im Ja­nu­ar 1904 Kon­kurs an­mel­den. Ei­ni­ge im Rück­blick re­vo­lu­tio­nä­re In­no­va­tio­nen hat­ten nicht den er­hof­fen Ge­winn ein­ge­bracht. So wa­ren die ab Ok­to­ber 1902 an­ge­bo­te­nen, im Guss­ver­fah­ren her­ge­stell­ten und un­zer­brech­li­chen Zy­lin­der aus Zel­lu­loid ein Fehl­schlag, der ei­ni­ges Ka­pi­tal auf­zehr­te. Als fa­tal er­wies sich dann die In­ves­ti­ti­on gro­ßer Sum­men in das „Te­le­gra­phon“ des dä­ni­schen Phy­si­kers Val­de­mar Poul­sen (1869–1942). Die­ses Ge­rät zur ma­gne­ti­schen Auf­zeich­nung von Ton­signa­len auf Stahl­draht war ein di­rek­ter Vor­läu­fer des Ton­band­ge­räts und hät­te schon da­mals die Schallauf­zeich­nung re­vo­lu­tio­nie­ren kön­nen. Doch war der Draht mit sei­nem un­sicht­ba­ren Ma­gnet­feld wohl zu fremd­ar­tig und all­täg­lich gleich­zei­tig. Gro­ßan­ge­leg­te Wer­be­kam­pa­gnen 1902 und 1903 ver­puff­ten, und auch die Aus­la­ge­rung der Ge­schäf­te in ei­ne „Deut­sche Te­le­gra­phon A. G.“ im De­zem­ber 1903 konn­ten den Mut­ter­kon­zern nicht ret­ten. Es dau­er­te bis Ju­ni 1905, bis der Kon­kurs­ver­wal­ter die zahl­rei­chen Toch­ter­un­ter­neh­men, in­ter­na­tio­na­len Au­ßen­stän­de, Ver­pflich­tun­gen und Pa­tent­rech­te ent­wirrt hat­te. Die Res­te des Un­ter­neh­mens über­nahm der ehe­ma­li­ge Mit­ar­bei­ter Jean Len­zen. Des­sen Fir­ma „Len­zen & Co.“ stell­te ne­ben Pho­no­gra­phen und Gram­mo­pho­nen auch Werk­zeu­ge und Glücks­spiel­au­to­ma­ten her, er­lang­te aber vor al­lem durch klang­lich her­vor­ra­gen­de Schall­trich­ter der Mar­ke „Len­zo­la“ mit ei­ner Hö­he von bis zu 60 Zen­ti­me­tern Be­kannt­heit. So lie­fer­te Len­zen un­ter an­de­rem auch über meh­re­re Jah­re die Schall­ver­stär­ker für den Schwarz­wäl­der Ra­dio­bau­er SA­BA.

Artikel über die neuesten Fabrikate der Allgemeinen Phonographen-Gesellschaft m. b. H. aus Krefeld in der 'Phonographischen Zeitschrift', 1901. (Phonographische Zeitschrift, 2. Jahrgang, No. 18, Berlin, 28. August 1901, S. 213 / Bayerische Staatsbibliothek)

Telephonograph der Mix & Genest AG, Berlin, aus dem Jahr 1900. (Prometheus No.542 Berlin 1900, S.744)

 

Si­cher­lich trug auch zu­neh­men­de Kon­kur­renz zum spek­ta­ku­lä­ren Zu­sam­men­bruch des Kre­fel­der Markt­füh­rers bei. Die im Au­gust 1901 eben­falls in Kre­feld ge­grün­de­ten „In­ter­na­tio­na­len Pho­no­gra­ph­wal­zen-Wer­ke m.b.H.“ un­ter der Lei­tung von Paul Heer­mann (1868–1945), die un­be­spiel­te Wal­zen für Heim­auf­nah­men her­stell­ten, wur­den zwar be­reits im März 1902 vom grö­ße­ren Kon­zern über­nom­men. Doch in an­de­ren rhei­ni­schen Städ­ten wa­ren mäch­ti­ge Ri­va­len her­an­ge­wach­sen. Die seit min­des­tens 1899 be­ste­hen­de „‚Ex­cel­sior­werk’ Fa­brik für Fein­me­cha­nik, Gmb­H“ in Köln konn­te nicht nur mit ei­ge­nen Ge­rä­ten und Wal­zen so gu­te Um­sät­ze er­zie­len, dass 1903 ein be­deu­tend grö­ße­res Fir­men­ge­län­de am Nieh­ler Kirch­weg be­zo­gen wer­den muss­te. Sie ver­trieb auch ori­gi­na­le Edi­son-Wal­zen und Auf­nah­men der „Anglo Ita­li­an Com­mer­ce Com­pany“ aus Mai­land, de­ren künst­le­ri­sches Ni­veau weit über dem deut­scher Fa­bri­ka­te lag. Vor al­lem je­doch im De­zem­ber 1901 vor­ge­stell­te „Post­wal­zen“ tru­gen zum län­ger­fris­ti­gen Über­le­ben des Ex­cel­sior­werks bei, wel­ches erst im Zu­ge der Wirt­schafts­kri­se 1929 als ver­mut­lich letz­ter deut­scher Pho­no­gra­phen-Her­stel­ler schlie­ßen muss­te. Die Post­wal­zen wa­ren et­was kür­zer als üb­lich (um noch zum Ver­sand zu­ge­las­sen zu wer­den),wur­den in ei­nem stoß­fes­ten Holz­käst­chen ge­lie­fert und konn­ten dar­in ver­schickt wer­den. Der Be­darf hier­für war zwar nicht ge­ra­de rie­sig, doch si­cher­te sich das Un­ter­neh­men da­mit die Auf­merk­sam­keit gro­ßer Kon­zer­ne, die in der Fol­ge Ex­cel­si­or-Ma­schi­nen be­vor­zugt als Dik­tier­ge­rä­te nutz­ten.

Der Düs­sel­dor­fer Fa­bri­kant Hein­rich Com­pes (1848–1913) hin­ge­gen kon­zen­trier­te sich vor al­lem auf die Her­stel­lung be­spiel­ter Ton­trä­ger. Der Sohn ei­nes Müh­len­be­sit­zers aus Kor­schen­broich kam 1874 nach Düs­sel­dorf. Hier grün­de­te er we­nig spä­ter die „Öl­wer­ke und Ce­re­sin-Fa­brik Com­pes & Cie“. Die Ein­hei­rat in die In­dus­tri­el­len-Fa­mi­lie Po­ens­gen 1877 und die Er­nen­nung zum stell­ver­tre­ten­den Han­dels­rich­ter 1885 si­cher­ten ihm ei­ne ge­ho­be­ne ge­sell­schaft­li­che Po­si­ti­on. Com­pes war selbst an der Tonauf­zeich­nung in­ter­es­siert, wie sei­ne Mit­glied­schaft im „In­ter­na­tio­na­len Ver­ein für pho­no­gra­phi­sches Wis­sen“ be­legt. Es lag da­her für ihn na­he, in das Ge­schäft ein­zu­stei­gen, zu­mal sei­ne Fa­brik die nö­ti­gen Roh­stof­fe für die Zy­lin­der­pro­duk­ti­on lie­fern konn­te. Nach­dem Ab­schluss ei­nes Li­zenz­ver­trags mit den fran­zö­si­schen Brü­dern Pa­thé, de­ren Pro­duk­te auf dem Ge­biet der Au­dio- und Film­in­dus­trie in Frank­reich do­mi­nier­ten, grün­de­te er im No­vem­ber 1900 sein neu­es Zweig­un­ter­neh­men, das seit 1902 un­ter dem Mar­ken­na­men „Pho­no­gra­phen-Wal­zen­fa­brik ‚At­las’, Hein­rich Com­pes“ fir­mier­te. Nach Ein­füh­rung ei­nes neu ent­wi­ckel­ten Guss-Ver­fah­rens für Wal­zen aus ei­ner be­son­ders ro­bus­ten Me­tall­sei­fen-Mi­schung wur­den die „Pa­thé-At­las-Hart­guss-Wal­zen“ rasch zum deut­schen Markt­füh­rer. Das lag auch am Aus­tausch mit Frank­reich, von wo ein Ka­ta­log mit hun­der­ten von Ti­teln ein­fach über­nom­men wer­den konn­te.

Anzeige der Excelsiorwerk Fabrik für Feinmechanik aus Köln in der Zeitschrift 'Der Sprechmaschinenhändler', 1912. (Der Sprechmaschinenhändler, Beiblatt zur Fachzeitschrift 'Oesterreichische Nähmaschinen-Zeitung)

 

Doch Com­pes war zu sehr Ge­schäfts­mann, um nicht bald zu er­ken­nen, dass die Schall­plat­te schlie­ß­lich die Wal­zen vom Markt ver­drän­gen wür­de. Er wuss­te, dass für die be­son­de­ren An­for­de­run­gen des Pres­sens von Schall­plat­ten die In­fra­struk­tur an Or­ten wie Leip­zig, Ber­lin oder Han­no­ver güns­ti­ger war, die tra­di­tio­nell mit der Spiel­wa­ren- und Knopf­her­stel­lung ver­bun­den wa­ren. Com­pes be­en­de­te sei­ne Ton­trä­ger­pro­duk­ti­on 1906, so­lan­ge die Bi­lan­zen noch po­si­tiv wa­ren.

Er be­wies da­mit ei­ne un­ge­wöhn­li­che Weit­sicht und scheint tat­säch­lich der ein­zi­ge rhei­ni­sche Pho­no­gra­phen-Un­ter­neh­mer ge­we­sen zu sein, des­sen Fir­ma nicht im Kon­kurs en­de­te. Spä­tes­tens 1905 war die Ära der Mu­sik­wal­zen vor­bei – we­ni­ge Jah­re dar­auf wa­ren sie nur noch ein Ni­schen­pro­dukt, ehe sie ir­gend­wann wäh­rend des Ers­ten Welt­kriegs end­gül­tig vom Mu­sik­markt ver­schwan­den. Auch der Köl­ner Un­ter­neh­mer Karl Schrotz, der im Jahr 1903 ei­nen be­son­ders sta­bi­len, durch ei­nen Well­pap­pe-Kern ab­ge­fe­der­ten Zy­lin­der ent­wi­ckelt hat­te und die­sen un­ter der Mar­ke „Co­lo­ni­a“ of­fen­siv ver­mark­te­te, ging im Sep­tem­ber 1910 in Li­qui­da­ti­on.

3. Rheinische Schallplatten im Deutschen Reich

Im Ge­gen­satz zur Pho­no­gra­phen­bran­che, für die das Rhein­land ein Zen­trum bil­de­te, das der zen­tra­len Ber­li­ner In­dus­trie min­des­tens eben­bür­tig war, blie­ben die Schall­plat­te und die da­zu­ge­hö­ri­ge Wie­der­ga­be­tech­nik hier über Jahr­zehn­te ei­ne Rand­bran­che. Bis zum po­li­ti­schen Neu­be­ginn 1949 ge­lang es hier kaum ei­ner Fir­ma, ent­spre­chen­de Wa­ren her­zu­stel­len, die be­züg­lich Preis oder Qua­li­tät kon­kur­renz­fä­hig wa­ren.

Die Leerwalze 'Edison Blank' zur Selbstaufnahme daheim, hergestellt ca. 1900. (Norman Bruderhofer / CC BY-SA 3.0)

 

Aus­ge­rech­net der Süß­wa­ren­her­stel­ler Stoll­werck in Köln war es, der 1903 ein neu­ar­ti­ges und kon­kur­renz­lo­ses Pro­dukt auf den Markt brach­te: Schall­plat­ten aus Scho­ko­la­de. Die­se hat­ten bei ei­nem Durch­mes­ser von acht Zen­ti­me­tern ei­ne Spiel­zeit von ei­ner Mi­nu­te und wa­ren nur we­ni­ge Ma­le ab­spiel­bar, be­vor die fei­ne Schall­ril­le zer­stört war – da­für konn­ten sie hin­ter­her noch ge­ges­sen wer­den. Al­ter­na­tiv wur­den die glei­chen Plat­ten aus ei­nem zu­nächst wi­der­stands­fä­hi­ge­ren Kunst­wachs „Kar­bin“ an­ge­bo­ten (her­ge­stellt von der „Ad­ler Pho­no­graph-Com­pa­gnie m.b.H.“ in Ber­lin), wel­ches sich al­ler­dings bald als an­fäl­lig für Schim­mel er­wies. Im Jahr 1904 ka­men da­her neue Plat­ten hin­zu, die dies­mal aus Hart­wachs auf ei­nem Holz­kern be­stan­den. Dies führ­te wie­der­um da­zu, dass die Plat­ten, so­bald sie nur ein we­nig feucht wur­den, auf­quol­len und die Ober­flä­che ab­platz­te. Auch wa­ren die spe­zi­el­len Spiel­zeug-Gram­mo­pho­ne aus Blech von min­de­rer Qua­li­tät, schwank­ten in der Ge­schwin­dig­keit und wa­ren da­mit für die Mu­sik­wie­der­ga­be nur schlecht zu ge­brau­chen – al­les in al­lem ei­ne be­trächt­li­che Lis­te von Mi­nus­punk­ten. Die führ­te dann auch da­zu, dass al­len An­fangs­er­fol­gen zum Trotz die Stoll­werck-Plat­ten nach 1904 vom Markt ver­schwan­den.

Tat­säch­lich soll­ten dies die ein­zi­gen Schall­plat­ten blei­ben, die bis zum En­de des Zwei­ten Welt­kriegs im Rhein­land in­dus­tri­ell her­ge­stellt wur­den. Den­noch gab es zahl­rei­che Un­ter­neh­mer, die im Pho­no­ge­schäft ihr Glück ver­such­ten. Sie lie­ßen die be­nö­tig­te Wa­re von an­de­ren Fir­men lie­fern, die teils mit der Her­stel­lung von Schall­plat­ten für Gro­ß­ab­neh­mer min­des­tens eben­so gu­te Ge­schäf­te mach­ten wie mit ih­ren ei­ge­nen Mar­ken. Wohl füh­rend auf die­sem Ge­biet war die „Ver­ei­nig­te Schall­plat­ten-Wer­ke GmbH Ja­nus-Mi­ner­va“, die ab 1908 zu­nächst von Han­no­ver, dann von Ber­lin aus auch Plat­ten für zahl­rei­che rhei­ni­sche Un­ter­neh­men lie­fer­te. Auch ei­ne der be­rüch­tigts­ten Markt­er­schei­nun­gen der Zeit, wel­che die deut­schen Händ­ler in Auf­ruhr ver­setz­te, ge­hör­te zu den Ja­nus-Mi­ner­va-Kun­den: Die „Deut­sche Chro­no­phon Ge­sell­schaft m.b.H.“ 1907 in Darm­stadt ge­grün­det, ver­such­ten sich die Ge­schäfts­füh­rer an ei­nem neu­en Ver­mark­tungs-Mo­dell: So­fern Kun­den sich zum Kauf ei­ner be­stimm­ten Zahl von Chro­no­phon-Plat­ten in­ner­halb ei­nes Jah­res ver­pflich­te­ten, wur­de ih­nen das Gram­mo­phon zum Ab­hö­ren ge­schenkt. Da vie­le Ab­neh­mer ih­re Ver­pflich­tun­gen nicht ein­hiel­ten und der Ge­winn knapp kal­ku­liert war, ge­riet die Fir­ma bald in Zah­lungs­schwie­rig­kei­ten. Als Re­ak­ti­on hier­auf wur­de nun ein gro­ßer Teil des Deut­schen Rei­ches mit klei­nen, schein­bar un­ab­hän­gi­gen Gmb­Hs über­zo­gen, die ent­spre­chend Schul­den an­häuf­ten und im pas­sen­den Mo­ment Kon­kurs an­mel­de­ten, nur um dann in der Nach­bar­schaft neu ge­grün­det zu wer­den. So be­stan­den gleich­zei­tig oder nach­ein­an­der Fir­men in Düs­sel­dorf, El­ber­feld (heu­te Stadt Wup­per­tal), Es­sen, Köln und Marxloh-Ham­born (heu­te Stadt Duis­burg). Als En­de 1910 das ge­ra­de­zu ma­fiö­se Chro­no­phon-Kon­strukt end­gül­tig vor dem Ru­in stand, wa­ren be­reits et­li­che se­riö­se­re Händ­ler und Fir­men zum Op­fer von de­ren Schleu­der­prei­sen und un­be­zahl­ten Rech­nun­gen ge­wor­den.

Auch die Ja­nus-Mi­ner­va-Wer­ke hat­ten (wie na­he­zu al­le deut­schen Her­stel­ler) ei­ni­ges Ka­pi­tal dank der Chro­no­phon ein­ge­bü­ßt, doch ge­lang es, den Ver­lust durch an­de­re Kun­den auf­zu­fan­gen. Ne­ben der Pres­sung von Schall­plat­ten mit spe­zi­el­len Kun­de­ne­ti­ket­ten war die Fir­ma auch markt­füh­rend in der Her­stel­lung so­ge­nann­ter Gros­sis­ten-Plat­ten, die et­wa zwi­schen 1908 und 1916 weit ver­brei­tet wa­ren. Hier­bei han­del­te es sich um Wa­re, die ab Werk oh­ne Fir­men­auf­druck ge­lie­fert wur­de. Da­für lie­ßen die Eti­ket­ten aber un­be­druck­ten Raum, wo grö­ße­re Händ­ler mit­hil­fe von Auf­kle­bern ei­nen ei­ge­nen Fir­men­na­men an­brin­gen konn­ten. Auf die­se Wei­se war es sol­chen Ge­schäf­ten oder Ver­trie­ben mög­lich, durch ge­ziel­te Vor­aus­wahl von Ti­teln aus dem im­mer un­über­schau­ba­rer wer­den­den Re­per­toire ein ei­ge­nes Pro­fil zu ge­win­nen.

Ein ty­pi­scher Ver­tre­ter die­ser Pra­xis war Adolf Ehr­lich (1865–1935). Zu­nächst ab 1892 als Gei­gen­bau­er tä­tig, ver­leg­te er sich spä­ter auf den Han­del mit Mu­sik­in­stru­men­ten und war bis 1910 Lei­ter der Chro­no­phon-Fi­lia­le in Marxloh. Im Ok­to­ber die­ses Jah­res er­warb er dann vom Kon­kurs­ver­wal­ter die Chro­no­phon-Wer­te in Marxloh und Köln. Hier­aus bau­te er ei­nen Han­del mit Mu­sik- und Haus­halts­ge­gen­stän­den auf, der um 1914 auch an­ony­me Ja­nus-Plat­ten als „Ehr­lichs Mu­sik-Re­cor­d“ im An­ge­bot hat­te. Die In­fla­ti­on der frü­hen 1920er Jah­re führ­te zum En­de sei­nes Un­ter­neh­mens. Bis zu sei­nem Tod 1935 war Ehr­lich of­fen­bar nicht mehr im Mu­sik­han­del tä­tig. Eben­falls in Köln war Jo­sef Hör­kens ak­tiv: Er bot zu­nächst Ja­nus-Pro­duk­te un­ter dem Na­men „Rhein­per­le“ an und war in den 1930er Jah­ren noch ein­mal mit „Co­lo­ni­a“-Plat­ten prä­sent, die so­gar mit ei­nem ei­ge­nen Eti­kett durch die Schall­plat­ten­in­dus­trie Ot­to Stah­mann – Bril­lant AG in Ber­lin her­ge­stellt wur­den. Da­mit ge­hört Hör­kens zu den we­ni­gen Händ­lern, de­nen der Auf­stieg vom Gros­sis­ten-Auf­kle­ber zur ei­ge­nen Schall­plat­te ge­lang. Die auf sei­nem La­bel ver­trie­be­nen Auf­nah­men schei­nen je­doch (so­weit be­kannt) aus dem Ka­ta­log der Fir­ma über­nom­men wor­den zu sein.

Ei­ni­ge an­de­re, ri­si­ko­freu­di­ge Händ­ler je­doch ga­ben ei­ge­ne Auf­nah­men bei den pres­sen­den Fir­men in Auf­trag, die sie dann (mehr oder we­ni­ger) ex­klu­siv ver­trie­ben. So ent­stan­den im Auf­tra­ge des Ober­hau­se­ner Händ­lers A. Wo­sik min­des­tens drei Se­ri­en von Auf­nah­men pol­ni­scher Berg­ar­bei­ter-En­sem­bles aus dem Ruhr­ge­biet, die wert­vol­le frü­he Zeug­nis­se der Kul­tur von Ar­beits­mi­gran­ten in Deutsch­land dar­stel­len. Wo­sik ver­trieb die­se Ti­tel un­ter sei­nem Mar­ken­na­men „Es­to­ni­a“; ers­te Auf­nah­men der Ja­nus-Mi­ner­va für Wo­sik er­schie­nen noch mit ei­nem eher schmuck­lo­sen La­bel-Auf­kle­ber. Für spä­te­re Auf­nah­men leis­te­te sich Wo­sik ein ei­gens ent­wor­fe­nes Eti­kett, das ei­nen pol­ni­schen Ad­ler zeigt. Ei­ne wei­te­re Se­rie gab Wo­sik of­fen­bar bei der „Be­ka-Re­cord AG“ in Auf­trag. Die­se al­ler­dings stell­te die Auf­nah­men auch der Ber­li­ner „Bel­la-Re­cor­d“ zur Ver­fü­gung, die die Auf­nah­men dann so­wohl in Po­len als auch viel­leicht in Deutsch­land ver­trieb; ob dies mit oder oh­ne Wis­sen Wo­siks ge­schah, muss der­zeit of­fen blei­ben, da über bei­de Un­ter­neh­men nur we­nig be­kannt ist. Ei­ne Ak­ti­vi­tät Wo­siks nach Kriegs­en­de lässt sich mo­men­tan nicht nach­wei­sen. Es ist nicht un­wahr­schein­lich, dass er eben­so wie vie­le an­de­re 1918 in die neu ge­grün­de­te Re­pu­blik Po­len (r)emi­grier­te.

Län­ger währ­te die Tä­tig­keit des Düs­sel­dor­fers Paul Poll­mann, des­sen Han­del min­des­tens von 1907 bis 1933 exis­tier­te. Sei­ne „Deutsch-Ame­ri­ka­ni­sche Gram­mo­phon- und Pho­no­gra­phen-Nie­der­la­ge“ führ­te ne­ben Ab­spiel­ge­rä­ten und Auf­nah­men der in­ter­na­tio­na­len Mar­ken Gram­mo­phon, Ode­on, Zo­no­phon und Jum­bo auch ei­ge­ne Händ­ler­plat­ten. Ers­te Ver­öf­fent­li­chun­gen von hu­mo­ris­ti­schen Sze­nen in rhei­ni­scher Mund­art, Mär­schen und Wal­zern tra­gen noch das ty­pi­sche dun­kel­grü­ne, an­ony­me Ja­nus-La­bel. Doch wa­ren die­se of­fen­bar so er­folg­reich, dass sie nun den um­ge­kehr­ten Weg gin­gen und zum Teil spä­ter auf re­gu­lä­ren Ja­nus-Plat­ten zu fin­den wa­ren. Poll­mann selbst ließ bald für sei­ne Se­rie ein lie­be­voll ge­zeich­ne­tes Eti­kett ent­wer­fen, das sicht­lich rhei­ni­sche Ge­müt­lich­keit und Bier­se­lig­keit ver­ström­te. Die­ses wur­de in den 1920er Jah­ren noch ein­mal mo­di­fi­ziert, als Poll­mann ei­ne spä­te­re Se­rie von Auf­nah­men bei der Ber­li­ner „Carl Lind­ström AG“ in Auf­trag gab: Ja­nus-Mi­ner­va hat­te den Weg­fall des Aus­lands­ge­schäf­tes im Krieg nicht durch­hal­ten kön­nen und war seit 1917 nicht mehr ak­tiv. Nun tru­gen die Plat­ten al­ler­dings kei­nen Hin­weis auf Poll­mann mehr, son­dern wur­den un­ter dem Na­men „Düs­sel­dor­fer Ori­gi­nal-Plat­te“ zum be­lieb­ten Sou­ve­nir, so dass glück­li­che Samm­ler ei­ne sol­che Plat­te auch heu­te noch auf man­chem in­ter­na­tio­na­len Floh­markt fin­den kön­nen.

Das Phä­no­men der Gros­sis­ten-Plat­ten hat­te schon wäh­rend des Krie­ges stark ab­ge­nom­men. In den 1920er Jah­ren schlie­ß­lich ver­schwand es fast voll­stän­dig. Vor al­lem die zu­neh­men­de Ver­brei­tung des Rund­funks dürf­te hier­für ver­ant­wort­lich sein: Die gro­ßen Ton­trä­ger­her­stel­ler er­kann­ten bald, dass das Ra­dio nicht un­be­dingt exis­tenz­be­dro­hend wirk­te, son­dern auch ein star­ker Wer­be­part­ner sein konn­te. Bald wur­den Ver­trä­ge zur Be­mus­te­rung mit neu­en Auf­nah­men ge­schlos­sen. Um­ge­kehrt wur­de es in den im­mer zahl­rei­che­ren Sen­dun­gen mit Schall­plat­ten-Mu­sik üb­lich, ne­ben den Ti­teln und In­ter­pre­ten auch die Her­stel­ler­fir­ma und oft so­gar die Be­stell­num­mer ei­ner ge­ra­de ge­spiel­ten Auf­nah­me zu nen­nen. Dies hat­te zur Fol­ge, dass Kun­den im Han­del im­mer mehr nach ih­nen auf die­se Wei­se be­kann­ten Plat­ten frag­ten. Die klei­nen Händ­ler­mar­ken wa­ren da­durch kaum noch zu ver­kau­fen. Nur grö­ße­re Kauf­häu­ser wie et­wa Her­tie konn­ten mit ei­ge­nen Eti­ket­ten noch ei­ni­ge Jah­re mit­hal­ten, wo­bei hier je­doch zu­meist an­ony­me Auf­nah­men be­kann­ter Ti­tel zu Dis­count­prei­sen den Ge­le­gen­heits­käu­fer als Ziel­grup­pe an­spre­chen woll­ten. Nun wa­ren rhei­ni­sche Händ­ler end­gül­tig nur noch Ver­trei­ber. Sel­ten ka­men noch An­ge­stell­te der Ber­li­ner Gro­ß­kon­zer­ne in den Wes­ten, um Auf­nah­men hie­si­ger Künst­ler im Auf­trag klei­ner oder grö­ße­rer Fir­men zu ma­chen. Ne­ben dem Kar­ne­val war das Rhein­land vor al­lem be­züg­lich der Kir­chen­mu­sik noch zu ver­mark­ten. So ent­stan­den für spe­zia­li­sier­te Fir­men wie „Mu­si­ca Sa­cra“, den Kol­ping­ver­lag in Köln und das Ka­tho­li­sche Ju­gend­haus Düs­sel­dorf mit sei­ner Rei­he „Stim­men der Ju­gend“ ver­ein­zelt Auf­nah­men von Chö­ren und Pre­dig­ten in Aa­chen, Köln oder Düs­sel­dorf. Zu­meist wur­den ent­spre­chen­de Künst­ler aber in die Ber­li­ner Stu­di­os ge­la­den, da so die Kos­ten nied­ri­ger ge­hal­ten wer­den konn­ten.

Der verbesserte Phonograph der Firma Stollwerck aus dem Jahr 1903, 2005. (Sammlung Montana Phonograph)

 

4. Nischengeschäfte und Nebenprodukte

So­fern das Rhein­land nun in der Pho­no­bran­che über­haupt ein­mal prä­sent war, dann in Rand­be­rei­chen, die dem End­ver­brau­cher kaum ge­gen­wär­tig wa­ren, aber des­we­gen nicht au­to­ma­tisch ge­rin­ge Um­sät­ze be­deu­te­ten. Plat­ten­händ­ler und -fir­men wur­den bei­spiels­wei­se nicht mü­de, im­mer wie­der auf Hül­len und in An­non­cen zu be­to­nen, der Mu­sik­hö­rer sol­le die Stahl­na­del, mit der die Plat­ten auf den Gram­mo­pho­nen ab­ge­tas­tet wur­den, nach je­der Plat­ten­sei­te wech­seln, um über­mä­ßi­ge Ab­nut­zung zu ver­hin­dern. Ob­zwar sich wohl nur we­ni­ge Schall­plat­ten­hö­rer wirk­lich an die­sen Rat hiel­ten (wo­von vie­le heu­te er­hal­te­ne Schel­lack­plat­ten trau­ri­ges Zeug­nis ab­le­gen), ent­wi­ckel­te sich doch ein mun­te­rer Na­del-Markt mit be­trächt­li­chem Ka­pi­tal­fluss. In Aa­chen hat­te sich hier be­reits früh­zei­tig ein Schwer­punkt ge­bil­det, der sich auch ge­gen die bald vor al­lem im frän­kisch-schwä­bi­schen Raum ent­ste­hen­de Kon­kur­renz be­haup­ten konn­te. Tech­nisch bes­tens auf­ge­stellt war be­reits zu Be­ginn des Schall­plat­ten-Booms die Rhei­ni­sche Na­del­fa­bri­ken A.-G., die nach ei­ge­nen An­ga­ben 1902 jähr­lich „ca. 600 Mil­lio­nen Na­deln al­ler Ar­t“ her­stell­te. Über­haupt wa­ren Quer­ein­stei­ger hier eher die Re­gel als die Aus­nah­me. Auch ein wei­te­rer gro­ßer Her­stel­ler in Aa­chen, Carl Gey­er, be­trieb seit min­des­tens 1897 ei­nen Han­del mit Brief­mar­ken und Samm­ler-Zu­be­hör, be­vor er mit Gram­mo­pho­nen sein Sor­ti­ment er­wei­ter­te. Im Herbst 1902 über­nahm Gey­er von der Fir­ma Ge­org Printz & Co. das zum 25.10.1902 er­teil­te Pa­tent für ei­nen „Gram­mo­phon­stift mit Ab­fla­chun­gen am Schaf­t“. Un­ter dem Na­men „Printz-Na­deln“ wa­ren die­se we­nig spä­ter auf dem Markt und wur­den von Gey­er be­stän­dig wei­ter­ent­wi­ckelt und be­wor­ben. Mit „Blitz-Na­deln“ war er noch 1930 prä­sent. Vor al­lem zu Be­ginn sei­ner Fa­bri­ka­ti­on kam es zu hef­ti­gen recht­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Gey­er und dem eben­falls in Aa­chen an­säs­si­gen Pho­no­her­stel­ler Gus­tav Herr­mann jr. Der sah durch die Printz-Na­deln sein Ge­brauchs­mus­ter für ei­ne „Na­del mit ver­stärk­tem Spit­zen­kopf für Schall­plat­ten-Pho­no­gra­phen“ ver­letzt. Auch Herr­mann blieb der Bran­che über vie­le Jah­re treu. Sein eben­falls 1902 ge­schütz­ter „Grif­fel mit Edel­stein­spit­ze für Schall­do­sen zu pho­no­gra­phi­schen Plat­ten­spiel­wer­ken“, den er ge­mein­sam mit der Fir­ma Jos. Zim­mer­mann ent­wi­ckelt hat­te, war ein ers­ter Schritt auf dem Weg zum mo­der­nen Leicht­ton­ab­neh­mer, bei dem schlie­ß­lich halt­ba­re Sa­phir- oder Dia­mant­na­deln den Stahl­stift er­setz­ten. Die Fir­ma Zim­mer­mann selbst wur­de vor al­lem durch ih­re „Con­d­or“-Na­deln be­kannt und lie­fer­te noch in den 1950er Jah­ren welt­weit – Rest­be­stän­de wur­den noch Jahr­zehn­te spä­ter ab­ver­kauft. We­ni­ger er­folg­reich auf dem neu­en Markt war der Aa­che­ner Un­ter­neh­mer Theo­bald Wil­helm Jung­be­cker (1847–1925). Sein „Stahl­stift mit hohl an­ge­schlif­fe­ner Spit­ze für Schall­do­sen von Gram­mo­phon-, Zo­no­phon- und an­de­ren Spiel­wer­ken“ von 1902 konn­te sich eben­so­we­nig durch­set­zen wie Erich Schu­ma­chers „Zwei­spit­zi­ger Ton­stif­t“ vom De­zem­ber 1901, der in ab­ge­wan­del­ter Form durch Leo Lam­mertz als „Gram­mo­phon-Na­del mit Zwil­lings­spit­ze“ 1904 noch ein­mal von Aa­chen aus ver­trie­ben wur­de. Zu­min­dest kurz­fris­tig er­folg­rei­cher war 1903 die „Burt­schei­der Na­del­fa­brik Jos. Preutz, Aa­chen“ mit ei­nem „Mu­sik­stift (für Gram­mo­phon, Zo­no­phon, Co­lum­bia etc.) mit drei- oder mehr­kan­ti­ger Spit­ze“. Den kurz vor dem Ers­ten Welt­krieg be­lieb­ten „An­ker-Na­deln“ der Fir­ma Brau­se & Co. wur­de ver­mut­lich der Krieg zum Ver­häng­nis. Die Fir­ma ver­füg­te wohl nicht über ge­nug Ver­bin­dun­gen, um die Ver­sor­gung mit dem zur Pro­duk­ti­on not­wen­di­gen, als kriegs­wich­tig ra­tio­nier­ten Stahl auf wel­chem We­ge auch im­mer auf­recht­zu­er­hal­ten.

Die Ent­wick­lung von „Selbst­auf­nah­me­plat­ten“ seit En­de der 1920er Jah­re führ­te zur Er­schlie­ßung wei­te­rer Ge­schäfts­fel­der. Die­se Plat­ten be­stan­den zu­meist aus ei­ner sta­bi­len Trä­ger­schicht (Pap­pe, Me­tall, sel­ten auch Glas), auf die ein wei­che­res Ma­te­ri­al wie Ge­la­ti­ne, Ni­tro­zel­lu­lo­se oder spe­zi­el­le aus­härt­ba­re Kunst­stof­fe auf­ge­tra­gen wur­den. In die­se konn­te ei­ne Ton­ril­le di­rekt ein­ge­schnit­ten wer­den. Seit Be­ginn der 1930er Jah­re wa­ren Auf­nah­me­ein­rich­tun­gen für den Heim­ge­brauch zu­min­dest für das ge­ho­be­ne Bür­ger­tum nicht mehr un­er­schwing­lich. Es man­gel­te aber oft an den phy­si­ka­lisch-akus­ti­schen Kennt­nis­sen, die für ei­ne be­frie­di­gen­de Auf­nah­me­qua­li­tät un­ab­ding­bar wa­ren. In­fol­ge­des­sen wur­de es zum lu­kra­ti­ven Ne­ben­ver­dienst für Pho­no- und Mu­si­ka­li­en­händ­ler, die in sol­chen Fra­gen ver­sier­ter wa­ren, ih­rer Kund­schaft klei­ne Stu­dio­räu­me zur Ver­fü­gung zu stel­len. Die dort ge­schnit­te­nen Plat­ten wa­ren ver­gleichs­wei­se be­zahl­bar und konn­ten meist so­fort mit nach Hau­se ge­nom­men wer­den. Zahl­lo­se Auf­nah­men soll­ten wohl le­dig­lich die Neu­gier ei­nes Hob­by­künst­lers be­frie­di­gen oder als tö­nen­de Grü­ße bei Fa­mi­li­en­fes­ten zum Ein­satz kom­men. Es ent­stan­den aber auch his­to­risch wert­vol­le Auf­nah­men be­kann­ter Künst­ler, sei es zu Wer­be­zwe­cken oder für die Selbst­kon­trol­le beim Üben. Frei­lich lie­fer­ten längst nicht al­le se­mi-pro­fes­sio­nel­len Stu­di­os ei­ne pas­sa­ble Qua­li­tät für Mu­sik­auf­nah­men, und so bil­de­te sich auch hier schnell ein ex­klu­si­ver Kreis von Spe­zia­lis­ten mit über­re­gio­na­ler An­zie­hungs­kraft. Ei­nes der lan­des­weit er­folg­reichs­ten Stu­di­os die­ser Art war das „In­sti­tut für Pho­no­tech­nik A. Hes­sel“ in Düs­sel­dorf. Al­fred Hes­sel hat­te 1932 über „Che­mi­sche Un­ter­su­chun­gen im Hoch­fre­quenz­feld mit be­son­de­rer Be­rück­sich­ti­gung von Oxy­da­ti­ons­re­ak­tio­nen im Hoch­fre­quenz-Glimm­lich­t“ pro­mo­viert, durf­te al­so durch­aus als Spe­zia­list in Fra­gen der Au­dio­tech­nik gel­ten. 1933 rich­te­te er sein Stu­dio im Düs­sel­dor­fer Ibach-Haus, Scha­dow­stra­ße 52, ein. Hier be­fand sich der für sei­ne Akus­tik be­rühm­te „Ibach-Saal“, den Hes­sel ge­le­gent­lich für sei­ne Auf­nah­men nutz­te. Zahl­rei­che Mu­sik­händ­ler und Lieb­ha­ber­ge­sell­schaf­ten wie et­wa der Bach-Ver­ein und die Mo­zart-Ge­mein­de hat­ten Bü­ros im glei­chen Haus, da­zu lag die Ton­hal­le in Sicht­wei­te – güns­ti­ger konn­te ein Stu­dio kaum lie­gen. Fast al­le er­hal­te­nen Auf­nah­men des Pia­nis­ten Karl­ro­bert Krei­ten (1916–1943) ent­stan­den in Hes­sels Stu­dio, da­ne­ben vie­le an­de­re Uni­ka­te, die – so­fern sie ein­mal ge­sam­melt pu­bli­ziert wür­den – ei­nen span­nen­den Über­blick über das rhei­ni­sche Mu­sik­le­ben der 1930er Jah­re er­mög­li­chen wür­den. Hes­sel scheint auch der ein­zi­ge Stu­dio­in­ha­ber ge­we­sen zu sein, der im Be­darfs­fal­le meh­re­re Ko­pi­en sei­ner Auf­nah­men als re­gu­lä­re Schel­lack-Plat­ten lie­fern konn­te: Zu­min­dest Auf­nah­men der Glo­cken der Haupt­pfarr­kir­che St. Mi­cha­el zu Aa­chen-Burt­scheid, des Sing- und In­stru­men­tal­krei­ses der Kreuz­kir­che Düs­sel­dorf und des „Sän­ger­bun­d“ Ra­de­vorm­wald sind in die­ser Form er­hal­ten und be­le­gen, wie weit der Ruf des Tech­ni­kers reich­te. Das Ibach-Haus und Hes­sels Stu­dio wur­den 1943 durch Flie­ger­bom­ben zer­stört. Auch Hes­sel selbst wur­de wahr­schein­lich zum Op­fer des Krie­ges – zu­min­dest ist über ei­ne wei­te­re Tä­tig­keit nach Kriegs­en­de bis­lang nichts be­kannt.

Kaum we­ni­ger er­folg­reich, wenn auch strikt auf den pri­va­ten Markt be­schränkt, war das Köl­ner Ton­stu­dio Hor­nig (spä­ter Hor­nig & Scharf), das nach dem Ein­druck er­hal­te­ner Plat­ten zwi­schen 1932 und 1943 in Köln be­lieb­ter An­lauf­punkt vor al­lem für be­gab­te­re Lai­en­sän­ger und Kir­chen­mu­si­ker ge­we­sen zu sein scheint und eben­so wie Hes­sel in Düs­sel­dorf zahl­rei­che Kun­den aus dem Um­land an­zog.

Werbeanzeige für 'Blitz-Nadeln' von Georg Prinz, undatiert.

 

Zu die­ser Zeit wirk­te be­reits – von der Öf­fent­lich­keit weit­ge­hend un­be­merkt – in Porz (heu­te Stadt Köln) der In­ge­nieur Karl Da­ni­el (1905–1977). Um 1935 hat­te er zu­nächst für den ei­ge­nen Ge­brauch ei­nen An­ruf­be­ant­wor­ter kon­stru­iert und die da­zu­ge­hö­ri­gen Auf­nah­men auf ei­nem ma­gne­ti­sier­ten End­los­band ge­spei­chert. Das nicht ge­neh­mig­te Ge­rät brach­te dem Er­fin­der ei­ne recht ho­he Geld­stra­fe durch die Reichs­fern­mel­de­be­hör­de ein, und nun such­te er nach kom­mer­zi­el­len Ein­satz­mög­lich­kei­ten für sei­ne Kon­struk­tio­nen. Ne­ben der Fern­mel­de­tech­nik in­ter­es­sier­te sich Da­ni­el auch für das Pro­blem der Syn­chro­ni­sa­ti­on von Bild und Ton beim Film und ent­wi­ckel­te ein ei­ge­nes Ver­fah­ren, um Film­ton auf­zu­zeich­nen. 1936 grün­de­te er in Porz die „Te­fi-Ap­pa­ra­te­bau Dr. Da­ni­el KG“; je­weils die zwei An­fangs­buch­sta­ben sei­ner Haupt­in­ter­es­sen Te­le­fon und Film dien­ten als Fir­men­na­me. Zwar konn­te sich sein Film­ton-Ver­fah­ren nicht durch­set­zen, doch qua­si als Ne­ben­pro­dukt der Zu­sam­men­le­gung bei­der Ge­bie­te ent­stand das „Tefi­cor­d“. Die­ses Ge­rät zeich­ne­te ei­ne 4 Mi­kro­me­ter fei­ne Ton­ril­le auf ei­nen mit Ge­la­ti­ne be­schich­te­ten 35-Mil­li­me­ter-Film auf, der zu ei­ner End­los­schlei­fe zu­sam­men­ge­fügt war. Da­ni­el ge­lang es so, auf nur 15 Zen­ti­me­tern Film ei­ne et­wa zehn­mi­nü­ti­ge Ton­spur pas­sa­bler Qua­li­tät zu fi­xie­ren. Den zi­vi­len Markt er­reich­te das Ge­rät nie. Wäh­rend des Krie­ges war das Tefi­cord aber für mi­li­tä­ri­sche Zwe­cke sehr ge­fragt. Nicht nur Sprach­auf­zeich­nun­gen konn­ten so bruch­fest und platz­spa­rend ver­sandt wer­den; auch wa­ren die End­los­schlei­fen für kon­ti­nu­ier­li­che Si­gna­le der Flug­funk­pei­lung im Ein­satz. Erst 1950 er­reich­te Da­ni­els Tech­nik auch den Mu­sik­lieb­ha­ber zu Hau­se.

5. Kriegsende und neue Zentren: Die Bonner Republik

Das En­de des „Drit­ten Rei­ches“ im ver­lo­re­nen Zwei­ten Welt­krieg war nicht nur ein po­li­tisch-welt­an­schau­li­cher Neu­an­fang. In zeit­ge­nös­si­scher Sicht war ver­mut­lich nach der Über­win­dung der schlimms­ten Ver­sor­gungs­eng­päs­se das Stre­ben nach Ver­drän­gung und Wie­der­her­stel­lung min­des­tens gleich­ran­gig. Das be­traf auch die Pho­no­in­dus­trie. Ab­ge­se­hen da­von, dass nun kom­mer­zi­el­le Schall­plat­ten Li­zenz­num­mern der zu­stän­di­gen al­li­ier­ten Mi­li­tär­be­hör­den tru­gen, än­der­te sich schein­bar we­nig. Nach wie vor wa­ren gro­ße Kon­zer­ne nicht im Rhein­land zu Hau­se, aber in grö­ße­ren Städ­ten fan­den sich bald wie­der Stu­di­os für Heim­auf­nah­men. Nun al­ler­dings hie­ßen die Stu­di­os in Köln „Ton-Ate­lier Dr. Hu­ver­stuhl“, tak­tisch güns­tig ge­le­gen in der „Wol­ken­bur­g“, dem Haus des Köl­ner Män­ner-Ge­sang-Ver­eins, das „Ton­stu­dio Teu­bel“, oder mit wis­sen­schaft­li­chem An­strich „Stu­dio für Schall­do­ku­men­ta­ti­on Köln-Riehl“. In Düs­sel­dorf wirk­te seit 1955 das „Ton­stu­dio Dre­seler“, wel­ches der in Ol­pe ge­bo­re­ne Vio­li­nist Ewald Dre­seler (1908–?) zu­nächst in sei­nem Hei­mat­ort ins Le­ben ge­ru­fen hat­te; in an­de­ren Städ­ten ka­men wei­te­re Un­ter­neh­mer da­zu. So bot nun auch das „Ton­stu­di­o Bonn“ in der Schu­mann­stra­ße und spä­ter in der Gan­golf­stra­ße sei­ne Diens­te an, in Wup­per­tal-El­ber­feld warb das Mu­sik- und Ra­dio­haus Me­wes mit dem Slo­gan „Ein klei­nes phy­si­ka­li­sches Wun­der“, und das „Ton­stu­dio C. Be­cker“ do­ku­men­tier­te Kon­zert­ver­an­stal­tun­gen im Zeug­haus in Neuss. Kir­che und Kar­ne­val wa­ren bald wie­der Ex­port­schla­ger, Kul­tur­wer­te wur­den in be­währ­ter Wei­se ge­fei­ert. So ver­öf­fent­lich­te Pe­ter Hu­ver­stuhl 1948 im Auf­trag der Kirch­li­chen Bild- und Pres­se­stel­le Köln ei­ne gro­ße Ju­bi­lä­ums­se­rie „700 Jah­re Köl­ner Dom“. Sie wur­de von der Deut­schen Gram­mo­phon GmbH in Han­no­ver ge­presst und ent­hielt Li­ve-Mit­schnit­te aus dem Köl­ner Dom so­wie von Fest­ver­an­stal­tun­gen im Köl­ner Sta­di­on und beim Kir­chen­tag in Mainz. In Düs­sel­dorf er­schien das neue La­bel „TE­KA“ mit Stim­mungs-Pot­pour­ris und Kar­ne­vals­schla­gern. Da­hin­ter ver­barg sich der Mu­si­ka­li­en­händ­ler Theo Kunz, der hier auch als Tanz­or­ches­ter­lei­ter in Er­schei­nung trat.

Die wirt­schaft­li­chen und po­li­ti­schen Be­din­gun­gen hin­ter die­ser zu­nächst fast zur Vor­kriegs­zeit ana­lo­gen Ent­wick­lung je­doch wa­ren grund­le­gend an­de­re und führ­ten schlie­ß­lich zu ei­ner un­vor­her­ge­se­he­nen Dy­na­mik. Durch die zu­neh­men­de Ab­schot­tung der rus­si­schen Be­sat­zungs­zo­ne und den pro­ble­ma­ti­schen Vier­mäch­te­sta­tus der Stadt Ber­lin rück­te das Rhein­land ins Zen­trum der spä­te­ren Bun­des­re­pu­blik. Die Wahl von Bonn zur Haupt­stadt des neu­en Staa­tes und die Nä­he zum zu­neh­mend wich­ti­ge­ren Wirt­schafts­part­ner Frank­reich mach­ten die ehe­mals am west­li­chen Rand des Rei­ches ge­le­ge­ne Pro­vinz nun auf ein­mal auch für grö­ße­re Un­ter­neh­men in­ter­es­sant, die sich nach dem Weg­fall ih­rer reichs­deut­schen Han­dels- und Pro­duk­ti­ons­struk­tu­ren neu ori­en­tie­ren muss­ten.

Ein Teficord aus den 1930er Jahren, erfunden von Karl Daniel, 2005. (Norbert Schnitzler / CC BY-SA 3.0)

 

Ein ers­ter In­di­ka­tor für die Um­struk­tu­rie­rung war die In­ter­na­tio­na­le Funk­aus­stel­lung 1950. Ber­lin als tra­di­tio­nel­ler Ver­an­stal­tungs­ort er­schien po­li­tisch als zu un­si­cher, und so fand die Mes­se nun zu­nächst in Düs­sel­dorf statt. Hier wur­de auch 1950 ein Me­di­um vor­ge­stellt, das in den kom­men­den Jah­ren wei­te Ver­brei­tung in Deutsch­land fin­den soll­te, aber eben­so schnell auch wie­der ver­schwand: das „Tefi­fon“. Der be­reits er­wähn­te Karl Da­ni­el hat­te in sei­ner Fir­ma 1946 wie­der mit der Pro­duk­ti­on von Ra­di­os be­gon­nen, je­doch sei­ne Idee ei­ner Auf­zeich­nung auf End­los­bän­dern wei­ter­ver­folgt. Das nun als „Tefi­fon“ ver­mark­te­te Re­sul­tat sei­ner For­schung war ein End­los­band aus Kunst­stoff, das – ver­gleich­bar dem „Tefi­cor­d“ der 1930er Jah­re – ei­ne fei­ne, ana­lo­ge Schall­ril­le ent­hielt, die mit ei­nem Kris­tall­ton­ab­neh­mer ab­ge­tas­tet wur­de. Sen­sa­tio­nell im Ver­gleich et­wa zur Schall­plat­te wa­ren vor al­lem die Spiel­zei­ten des neu­en Me­di­ums: Ei­ne Wie­der­ga­be­dau­er von 60 Mi­nu­ten war nor­mal, und spe­zi­ell kon­stru­ier­te län­ge­re Bän­der hät­ten theo­re­tisch bis zu drei Stun­den Mu­sik ab­spie­len kön­nen. Dass das Tefi­fon sich letzt­lich nicht durch­set­zen konn­te, lag am Zu­sam­men­wir­ken vie­ler Fak­to­ren. Zu­nächst war die Ton­qua­li­tät spä­tes­tens seit Be­ginn der 1960er Jah­re hör­bar schlech­ter als die der mitt­ler­wei­le qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­gen Lang­spiel­plat­ten. Das Auf­fin­den ein­zel­ner Ti­tel auf dem End­los­band war im Ver­gleich zur Schall­plat­te sehr viel auf­wen­di­ger, und auch das Auf­fin­den der Bän­der selbst war nicht ein­fach, da Da­ni­el zu­sam­men mit dem Kunst- und Ra­dio­händ­ler Heinz Kis­ters (1912–1977) von Porz aus lie­ber ein ei­ge­nes Ver­triebs­netz auf­bau­en woll­te, statt sich eta­blier­ten Schall­plat­ten­händ­lern an­zu­ver­trau­en. Wich­ti­ger viel­leicht aber wa­ren zwei an­de­re Fak­to­ren: Ei­ner­seits wa­ren na­he­zu al­le hoch­klas­si­gen Künst­ler bei den gro­ßen Schall­plat­ten­kon­zer­nen un­ter Ex­klu­siv­ver­trag und wur­den für das Kon­kur­renz­pro­dukt nicht frei­ge­ge­ben – das wirk­te sich auf das mu­si­ka­li­sche Ni­veau der Te­fi-Bän­der aus. An­de­rer­seits wur­den Vier­tel­zoll-Ton­band­ge­rä­te für den Heim­be­darf im­mer er­schwing­li­cher, und mit die­sen konn­te man nicht nur ab­spie­len, son­dern auch auf­neh­men, was mit den Te­fi-Ge­rä­ten nicht mög­lich war. So war das Schick­sal des Tefi­fons ei­gent­lich schon be­sie­gelt, als aus­wär­ti­ge In­ves­to­ren 1957 den Grün­der Karl Da­ni­el aus sei­ner Fir­ma dräng­ten. Dann folg­te auch noch 1963 die Markt­ein­füh­rung der be­nut­zer­freund­li­chen Kom­pakt-Kas­set­te. Die Te­fi-Pro­duk­ti­on wur­de zu­neh­mend klei­ner, bis sie 1965 end­gül­tig ein­ge­stellt wur­de. Die Na­mens­rech­te und um­fang­rei­che Rest­be­stän­de über­nahm das Ver­sand­haus Ne­cker­mann.

Das 'Tefi Holiday Super II' mit integriertem Radio. (Norbert Schnitzler / CC BY-SA 3.0)

 

Auch das Ton­band war zum Zeit­punkt der ers­ten Düs­sel­dor­fer Funk­aus­stel­lung be­reits im Rhein­land hei­misch ge­wor­den. Zu die­sem Zeit­punkt galt es trotz lan­ger Vor­ge­schich­te noch als No­vi­tät. Nach dem of­fen­sicht­li­chen Fehl­schlag des Te­le­gra­phons, wel­ches nur ge­le­gent­lich als Dik­tier­ge­rät in grö­ße­ren Fir­men ver­wen­det wur­de, hat­te es meh­re­re Jahr­zehn­te ge­dau­ert, bis der Tech­nik­kon­zern AEG die For­schung auf die­sem Ge­biet wie­der for­cier­te. Nun wur­de mit ma­gne­ti­sier­ba­ren, fil­m­ähn­li­chen Bän­dern und nicht mehr mit Ton­draht (der in den 1950er Jah­ren noch ein­mal kurz­fris­tig auf dem Markt er­schei­nen soll­te) ge­ar­bei­tet. Die Her­stel­lung von Ma­gnet­bän­dern aus Kunst­stoff stell­te sich je­doch als sehr schwie­rig her­aus, und auch der Ma­gne­ti­sie­rungs­vor­gang selbst be­durf­te tech­ni­scher Ver­bes­se­run­gen. Erst zu Be­ginn der 1940er Jah­re wa­ren so­wohl die Auf­nah­me­pro­ble­me im Zu­stän­dig­keits­be­reich der AEG als auch die Fein­hei­ten der Band­her­stel­lung durch die IG Far­ben/BASF so­weit ge­löst, dass ei­ne kom­mer­zi­el­le Pro­duk­ti­on mög­lich wur­de. An ei­ne brei­te Markt­ein­füh­rung war auf­grund des Krie­ges nun aber nicht mehr zu den­ken. So dien­te das Ton­band le­dig­lich als pro­pa­gan­dis­ti­sche Ge­heim­waf­fe des Rund­funks, um durch die Sen­dung un­ge­schnit­te­ner, län­ge­rer Kon­zert­auf­zeich­nun­gen den Rund­funk­hö­rern in der Pro­vinz und im Aus­land ein re­ges Kul­tur­le­ben in den längst zer­bomb­ten Städ­ten vor­zu­gau­keln. Die Er­beu­tung und tech­ni­sche Ana­ly­se ei­ni­ger AEG-Band­ma­schi­nen durch al­li­ier­te Trup­pen ließ rasch er­ken­nen, wel­che Be­deu­tung das jun­ge, ver­gleichs­wei­se leich­te und wi­der­stands­fä­hi­ge Me­di­um ha­ben könn­te. Je­de Be­sat­zungs­macht in Deutsch­land woll­te ih­re ei­ge­ne Pro­duk­ti­ons­stät­te für das neue Me­di­um ha­ben. Da­bei ging das not­wen­di­ge Know-how auf ei­ne ein­zi­ge Quel­le zu­rück. Bis Kriegs­en­de war der ein­zi­ge Her­stel­ler des von Fried­rich Mat­thi­as (1896–1956) ent­wi­ckel­ten Ma­gnet­ban­des die BASF in Lud­wigs­ha­fen. Nach der Zer­stö­rung der dor­ti­gen An­la­gen wur­de die Fer­ti­gung der Bän­der ab 1941 zu­neh­mend an das Film­werk der in der IG Far­ben mit­as­so­zi­ier­ten AG­FA in Wol­fen aus­ge­la­gert, das Haupt­la­bor für die Ent­wick­lung und For­schung je­doch nach Gen­dorf in Ober­bay­ern. Die Fer­ti­gungs­an­la­gen in Wol­fen stan­den nach dem Krieg un­ter rus­si­scher Ver­wal­tung; hier wur­den die in Ost­deutsch­land ver­brei­te­ten OR­WO-Bän­der her­ge­stellt, die je­doch we­gen ih­rer frag­wür­di­gen Qua­li­tät we­nig be­liebt wa­ren. In der fran­zö­si­schen Zo­ne konn­te die Lud­wigs­ha­fe­ner Pro­duk­ti­on durch die BASF bald wie­der auf­ge­nom­men wer­den. Die ame­ri­ka­ni­sche Mi­li­tär­ver­wal­tung fand Fried­rich Mat­thi­as im Oden­wald und kom­man­dier­te ihn nach Gen­dorf. Hier bau­te er mit dem dor­ti­gen La­borstab die „An­or­ga­na Gmb­H“ auf, die seit 1948 bis zu Mat­thi­as’ Tod Bän­der un­ter dem Mar­ken­na­men „Ge­no­ton“ pro­du­zier­te. Le­dig­lich in der bri­ti­schen Zo­ne fehl­te noch ein ent­spre­chen­des Werk. Der hie­si­ge Teil des Film- und Fo­to­kon­zerns AG­FA ver­füg­te al­ler­dings seit der Pro­duk­ti­ons­aus­la­ge­rung nach Wol­fen über das nö­ti­ge tech­ni­sche Wis­sen der BASF. So konn­te in Le­ver­ku­sen rasch ei­ne Pro­duk­ti­on auf­ge­baut wer­den, die in Um­fang und Qua­li­tät mit der der BASF mit­hal­ten konn­te. Bis 1971 wur­den hier AG­FA-Ton­bän­der für den Welt­markt pro­du­ziert. Dann mach­te die stei­gen­de Nach­fra­ge ei­ne Aus­la­ge­rung der Pro­duk­ti­on nach Mün­chen auf das ehe­ma­li­ge Fir­men­ge­län­de der „Pe­rutz-Pho­to­wer­ke Gmb­H“ er­for­der­lich – der Kon­kur­rent war 1969 vom mitt­ler­wei­le deutsch-bel­gi­schen Gro­ß­kon­zern AG­FA-Ge­va­ert auf­ge­kauft wor­den. Die Ver­triebs- und Mar­ke­ting­ab­tei­lung der Bän­der je­doch ver­blieb in Le­ver­ku­sen.

Das Magnettonband 'PER 525' von Agfa-Gevaert produziert in den 1970er Jahren, 2013. (113 zehn via Wikimedia / CC BY-SA 3.0)

 

Auch die Schall­plat­ten­in­dus­trie hat­te ab den 1950er Jah­ren das Rhein­land für sich ent­deckt. Die bis 1945 in Ber­lin an­säs­si­ge „Elec­tro­la“, Teil des in­ter­na­tio­na­len Gro­ß­kon­zerns EMI und ei­ner der grö­ß­ten deut­schen Ton­trä­ger­her­stel­ler, hat­te nach kur­zer Zwi­schen­sta­ti­on in Nürn­berg im Jahr 1952 Köln als end­gül­ti­gen Fir­men­sitz ge­wählt. Seit 1953 wur­de der Maar­weg in Köln-Brauns­feld so zur deutsch­land­weit bran­chen­be­kann­ten Stra­ße. Fast un­be­ob­ach­tet von der alt­ein­ge­ses­se­nen Be­völ­ke­rung grün­de­te 1964 eben­falls in Köln Yıl­maz Asöcal die „Tür­küo­la Gmb­H“, die als ers­te in Deutsch­land tür­kisch­spra­chi­ge Mu­sik pro­du­zier­te. Nach­dem in den 1970er Jah­ren der er­folg­rei­che Ein­stieg in den von Mu­sik­kas­set­ten do­mi­nier­ten Markt der Tür­kei ge­lun­gen war, ent­wi­ckel­te sich Tür­küo­la zu ei­nem der um­satz­stärks­ten deut­schen Mu­sik­un­ter­neh­men und war si­cher­lich wirt­schaft­lich er­folg­rei­cher als man­cher Na­me, der dem Le­ser ge­läu­fi­ger sein dürf­te.

Die Lan­des­haupt­stadt Düs­sel­dorf blieb auch oh­ne Gro­ß­kon­zer­ne und die Funk­aus­stel­lung, die nach Zwi­schen­sta­ti­on in Frank­furt am Main schlie­ß­lich seit 1961 wie­der in Ber­lin statt­fand, wich­ti­ge An­lauf­stel­le der In­dus­trie. Hier saß der 1959 ge­grün­de­te „Ge­samt­ver­band der Ton­trä­ger­her­stel­ler“, und auch das Phä­no­men der kon­zern­un­ab­hän­gi­gen „In­de­pen­den­t“-Plat­ten­la­bels scheint von hier we­sent­li­che Im­pul­se be­kom­men zu ha­ben. Be­reits um 1960 ver­trieb das in Bü­de­rich (heu­te Stadt Meer­busch) an­säs­si­ge La­bel „Del­ta-Ton“ er­folg­reich ein Un­ter­hal­tungs­re­per­toire, das zwar fast nur un­be­kann­te­re Künst­ler mit deut­li­cher Nei­gung zum tra­di­tio­nel­len Jazz prä­sen­tier­te, aber über­re­gio­nal mit sei­nen neu­ar­ti­gen, aus Rho­do­id oder wei­chem PVC ge­press­ten „Fle­xi-Discs“ er­folg­reich war. Im­mer mehr klei­ne La­bels aus dem Mund­art-, Jazz-, und Rock­be­reich folg­ten, bis die Zahl der Klein- und Kleinst­fir­men im Zu­ge der Punk- und Neue-Deut­sche-Wel­le-Be­we­gun­gen der spä­ten 1970er und frü­hen 1980er Jah­re lan­des­weit ei­nen vor­läu­fi­gen Hö­he­punkt er­reich­te. Da­durch, dass Er­folg­rei­che­re wie et­wa das „To­ten­kopf“-La­bel der To­ten Ho­sen oder die Köl­ner „Ei­gel­stein Mu­sik­pro­duk­ti­on“ Ver­triebs­ver­ein­ba­run­gen mit grö­ße­ren Fir­men schlos­sen, wur­de der Markt al­ler­dings bald wie­der über­sicht­li­cher für die Händ­ler.

6. Wiedervereinigung, Digitalisierung und Globalisierung– Abschied von alten Gewohnheiten

Dass die Wie­der­ver­ei­ni­gung und die Re­sti­tu­ie­rung Ber­lins als Bun­des­haupt­stadt mit dem nächs­ten Pa­ra­dig­men­wech­sel der Pho­no­in­dus­trie zu­sam­men­fiel, war ein Zu­fall, der für das Rhein­land we­sent­li­che Fol­gen hat­te. Schon in den 1980er Jah­ren war ab­zu­se­hen, dass lang­fris­tig die Di­gi­tal­tech­nik zum Markt­füh­rer auf­stei­gen wür­de. Die CD hat­te seit 1982 im­mer mehr an Ver­brei­tung ge­won­nen. Nun kam mit der Wie­der­ver­ei­ni­gung ein neu­er gro­ßer Markt hin­zu, der tech­ni­schen Nach­hol­be­darf hat­te. Auf der an­de­ren Sei­te wur­de wirt­schafts­geo­gra­phisch Nord­rhein-West­fa­len wie­der mehr an den Rand ge­drängt. Ein Sitz in Ber­lin war für Fir­men nicht nur des­halb at­trak­tiv, weil es die Bun­des­haupt­stadt und da­mit pres­ti­ge­träch­tig war, son­dern auch, weil hier der Weg zu den er­hoff­ten neu­en Märk­ten in Ost­eu­ro­pa ein kür­ze­rer war. In­so­fern liegt es na­he, dass im­mer mehr auf ana­lo­ger Tech­nik ba­sie­ren­de rhei­ni­sche Pro­duk­ti­ons­stät­ten ab­ge­baut wur­den. AG­FA-Ge­va­ert ver­kauf­te 1991 die Ton­bands­par­te ge­ra­de noch vor dem end­gül­ti­gen Ein­bruch des Ma­gnet­band-Mark­tes an die BASF. Das Schall­plat­ten-Press­werk der EMI war 1980 nach ei­nem Groß­brand noch vor Ort neu ein­ge­rich­tet wor­den. Nun scheu­te man of­fen­bar die Kos­ten für den Auf­bau ei­ner Di­gi­tal­pro­duk­ti­on. Das Markt­po­ten­ti­al der CD wur­de hier an­fangs ka­ta­stro­phal un­ter­schätzt. Als nun die Nach­fra­ge rasch stieg, muss­ten Auf­trä­ge an Fremd­fir­men ver­ge­ben wer­den. Ein Teil der Pro­duk­ti­on ging so­gar an die Po­ly­Gram in Han­no­ver, Nach­fol­ge­rin der Deut­schen Gram­mo­phon-Ge­sell­schaft und seit Jahr­zehn­ten ei­ner der Haupt­kon­kur­ren­ten auf dem in­län­di­schen Markt.

Über­haupt kann der mit Köln eng ver­bun­de­ne EMI-Kon­zern als Mus­ter­bei­spiel da­für die­nen, wie Fehl­ent­schei­dun­gen im Ma­nage­ment der gro­ßen Fir­men mit­tel- und lang­fris­tig da­zu bei­tru­gen, dass nicht nur im Rhein­land die Pho­no­in­dus­trie neu auf­ge­stellt wer­den muss­te. Die Pro­ble­me, die schon bei der CD-Markt­ein­füh­rung sicht­bar wur­den, zeig­ten sich spä­tes­tens im Jahr 2001 als struk­tu­rel­le und da­mit kon­junk­tu­rel­le Kri­se des ge­sam­ten in­ter­na­tio­na­len Kon­zerns, bei dem er­wirt­schaf­te­te Ge­win­ne in kei­nem Ver­hält­nis mehr zu den Ge­häl­tern des Ma­nage­ments stan­den. Auch die welt­wei­te Ab­satz­kri­se durch die zu­neh­men­de Ver­brei­tung von Mu­sik im In­ter­net traf die EMI här­ter als die Kon­kur­renz. 2007 wur­de der Kon­zern von ei­ner In­vest­ment­grup­pe über­nom­men, die al­ler­dings selbst schon 2011 nicht mehr fä­hig war, ih­re Kre­dit­ra­ten zu zah­len. Mit ei­nem Ge­samt­ver­lust durch Kre­dit­ab­schrei­bung von 3,4 Mil­li­ar­den Dol­lar wur­de schlie­ß­lich 2011 ein Gro­ß­teil der Mu­sik­spar­te der EMI an die US-ame­ri­ka­ni­sche „Uni­ver­sal Mu­sic Group“ ver­kauft, wäh­rend die Ab­tei­lung Rech­te­ver­wer­tung an den ja­pa­ni­schen Sony-Kon­zern über­ging. Als di­rek­te Fol­ge der Um­struk­tu­rie­rung wur­den ab 2012 die Köl­ner Fir­men­ein­hei­ten nach Ber­lin und Mün­chen ver­legt; als letz­tes wur­de das Bü­ro des klei­nen Mund­art-Un­ter­la­bels „Rhing­tön“ im Mai 2018 ge­schlos­sen. In mit­tel­ba­rem Zu­sam­men­hang mit der EMI-Kri­se ist si­cher­lich auch das Schick­sal der Fach­mes­se „pop­kom­m“ zu se­hen, die seit Mit­te der 1980er Jah­re zu­nächst in Wup­per­tal und Düs­sel­dorf, dann schlie­ß­lich ab 1989 in Köln statt­fand. Auch die­se wur­de als Ver­an­stal­tungs­mar­ke ver­kauft und fand seit 2004 in Ber­lin statt.

Die grund­le­gen­de Neu­ori­en­tie­rung des Mark­tes durch in­ter­na­tio­nal ver­netz­te Di­gi­ta­li­sie­rung moch­te für gro­ße Kon­zer­ne ei­ne Ka­ta­stro­phe sein. Aus der Sicht von krea­ti­ven In­di­vi­dua­lis­ten stellt sie sich je­doch zu­neh­mend als Chan­ce für ei­ne bun­te Viel­falt des Kul­tur­le­bens her­aus. So grün­de­ten Köl­ner Kul­tur­schaf­fen­de 2004 das Fes­ti­val „c/o pop“, um den Ab­gang der pop­komm aus­zu­glei­chen. Die Ber­li­ner Mes­se muss­te nach we­ni­gen Jah­ren aus man­geln­dem In­ter­es­se des Fach­pu­bli­kums ein­ge­stellt wer­den – das um ein Viel­fa­ches klei­ne­re Köl­ner Fes­ti­val mit an­ge­schlos­se­nem Bran­chen­tref­fen ist bis heu­te höchst le­ben­dig. Die Zahl un­ab­hän­gi­ger klei­ner La­bels, die teils mit phy­si­schen Ton­trä­gern, teils auch rein di­gi­tal ei­ne Viel­zahl un­ter­schied­lichs­ter Mu­sik­rich­tun­gen ver­mark­ten, ist in den letz­ten 15 Jah­ren ge­ra­de­zu ra­sant ge­stie­gen. Selbst die be­reits ab­ge­schrie­be­ne Vi­nyl-Schall­plat­te samt Zu­be­hör ist im Rhein­land in ei­nem Ma­ße le­ben­dig, wie es um die Jahr­tau­send­wen­de wohl nie­mand vor­aus­zu­sa­gen ge­wagt hät­te. Tei­le der ehe­ma­li­gen EMI-Stu­di­os am Köl­ner Maar­weg zum Bei­spiel wer­den noch heu­te in Ker­pen bei „Rail­road Tracks“ zum Schnei­den von LP-Ma­tri­zen im Di­rect-Me­tal-Mas­te­ring-Ver­fah­ren ver­wen­det. Dies ist sym­pto­ma­tisch für ein Pro­blem, das dem­nächst die gan­ze Bran­che be­schäf­ti­gen dürf­te. Wäh­rend ei­ner­seits die Nach­fra­ge nach Vi­nyl­plat­ten wie­der steigt, wer­den zu de­ren Her­stel­lung nö­ti­ge tech­ni­sche Ge­rä­te und Ma­schi­nen seit teils mehr als 30 Jah­ren nicht mehr her­ge­stellt; auch das Wis­sen um de­ren War­tung droht aus­zu­ster­ben. Ob hier viel­leicht an Rhein und Ruhr neue Fir­men ent­ste­hen wer­den, die die­se Lü­cke aus­glei­chen kön­nen, bleibt ab­zu­war­ten. Zu­min­dest gibt es ge­nug Spe­zia­lis­ten und Lieb­ha­ber auf die­sem Ge­biet, die sich hier mit der Ma­te­rie be­fas­sen. An­lauf­punkt da­für ist die „Ana­log Au­dio As­so­cia­ti­on“, als Ver­ein 1990 in Mül­heim/Ruhr ge­grün­det und heu­te in Ober­hau­sen an­säs­sig. Die­se In­ter­es­sen­ge­mein­schaft ist mit Stamm­tischtref­fen für In­ter­es­sier­te in ganz Deutsch­land tä­tig. Sie schuf auch mit dem jähr­li­chen Tref­fen „Ana­log­fo­rum Kre­fel­d“ ei­ne viel­be­ach­te­te Platt­form für Ma­nu­fak­tu­ren von Laut­spre­chern, Ver­stär­kern, Plat­ten­spie­lern und ähn­li­cher Tech­nik in ab­so­lu­ter Spit­zen­qua­li­tät. Ist auch der Käu­fer­kreis klein, so soll­te doch die Markt­wir­kung nicht un­ter­schätzt wer­den: Ei­ne Mu­sik­an­la­ge für den ver­wöhn­ten Vi­nyl­plat­ten-Freund kann schnell den Preis ei­ner Ei­gen­tums­woh­nung über­stei­gen. Auch der in Lieb­ha­ber­krei­sen le­gen­dä­re Au­dio­ge­rä­te-Her­stel­ler Tho­rens hat nach lan­gen Kri­sen­jah­ren ei­nen neu­en Ei­gen­tü­mer ge­fun­den und ist seit 2018 in Mön­chen­glad­bach an­säs­sig. Die Ge­schich­te der Pho­no­in­dus­trie im Rhein­land ist al­so kei­nes­wegs ab­ge­schlos­sen, son­dern wird in den kom­men­den Jah­ren und Jahr­zehn­ten si­cher noch man­che in­ter­es­san­te Wen­dung neh­men.

Literatur

Dah­l­mann, Ditt­mar [u.a.] (Hg.), Schi­man­ski, Ku­zor­ra und an­de­re: Pol­ni­sche Ein­wan­de­rer im Ruhr­ge­biet zwi­schen der Reichs­grün­dung und dem Zwei­ten Welt­krieg, Es­sen 2005, S. 201-226.
Das neu­es­te Er­fin­dungs­wun­der des Ta­ges, in: Düs­sel­dor­fer Volks­blatt Nr. 108, 23.4.1878.
Gro­ße, Gün­ter, Von der Wal­ze zur Ste­reo­plat­te, Ber­lin 1989.
Jüt­te­mann, Her­bert,Das Tefi­fon, Her­ten 1995.
Kadlub­ek, Gün­ther,AG­FA. Ge­schich­te ei­nes deut­schen Welt­un­ter­neh­mens von 1867 bis 1997, Neuss 2004
Lotz, Rai­ner E., Von Na­deln und Do­sen, in: Fox auf 78. Ein Ma­ga­zin um die gu­te al­te Tanz­mu­sik, Heft 1–26, 1986–2011.
Mart­land, Pe­ter, EMI: Sin­ce Re­cor­ds Be­gan: The First 100 Ye­ars, Lon­don 1997.
Pho­no­gra­phi­sche Zeit­schrift, 1900–1938.
Re­al­schu­le I. Ord­nung in Mül­heim a. d. Ruhr. Sechs­und­zwan­zigs­ter Jah­res-Be­richt, Mül­heim/Ruhr 1879.
Riess, Curt. Das Jahr­hun­dert der Schall­plat­te, Mün­chen 1966. 

Online

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Puil­le, Ste­fan, Fürst Bis­marck und Graf Molt­ke vor dem Auf­nah­metrich­ter. Der Edi­son-Pho­no­graph in Eu­ro­pa, 1889-1890, (2.7.2016). [on­line]

Eine Platte der Tüküola GmbH aus den 1980er Jahren, 2007.

 
Zitationshinweis

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Lehl, Karsten, Die Phonoindustrie im Rheinland, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/die-phonoindustrie-im-rheinland/DE-2086/lido/5d5a9d0405a540.41575030 (abgerufen am 14.01.2025)