Zu den Kapiteln
Wilhelm Börger, ein gelernter Schlosser und früh in protofaschistischen Bewegungen engagiert, ab 1929 NSDAP-Mitglied, war seit Herbst 1938 ein leitender Ministerialbeamter im Reichsarbeitsministerium. Ab 1929 trat er als „Reichsredner“ der NSDAP vornehmlich im Rheinland auf. Von Mitte Juni 1933 bis Ende Aug. 1938 amtierte Börger als (Reichs-)Treuhänder der Arbeit für das Rheinland. Seine Kollegen machten ihn nach 1945 zum „fanatischen alten Pg.“ und „Nazi-Ministerialdirektor“ – und distanzierten sich nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes vehement von ihm. Dagegen stritt Börger alle Vorwürfe ab, tiefer in die Verbrechen der Hitler-Diktatur verstrickt gewesen zu sein.
Geboren wurde Wilhelm Börger am 14.2.1896 in Kray (heute Stadt Essen) als Sohn eines Fahrsteigers. Die Familie war evangelisch. Nach dem Besuch der Volksschule und der evangelischen Präpanderie 1910/1911 erlernte er das Schlosserhandwerk. Seit April 1914 arbeitete er als Geselle zunächst in einer Maschinenfabrik in Herne, später auf der Zeche Dahlbusch in Gelsenkirchen-Rotthausen. Im Sommer 1915 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. Als Marine-Artillerie-Mechaniker nahm er Ende Mai 1916 an der einzigen größeren Seeschlacht des Ersten Weltkriegs am Skagerak teil. Nach seiner Entlassung Ende 1918 aus der Marine arbeitete er erneut als Schlosser und Elektriker auf der Zeche Dahlbusch sowie in verschiedenen Unternehmen im Raum Neuss. Zuletzt war er als Betriebssekretär bei der Stadt Neuss beschäftigt.
Politisch engagierte sich Börger schon früh in protofaschistischen Organisationen. Noch 1919 schloss er sich dem nach dem Korvettenkapitän, „Seehelden“ und frühen NSDAP-Mitglied (1919) Hellmuth vom Mücke (1881-1957) benannten Mücke-Bund, von Ende 1922 bis 1927 dann der „Deutsch-völkische Freiheitspartei“ sowie weiteren rechtsextremen Verbänden an. Bei den beiden Reichstagswahlen 1924 kandierte er vergeblich für den Völkisch-sozialen Block. Von der Jahreswende 1925/1926 bis 1929 war Börger Mitglied des von Franz Seldte (1882-1947) geführten „Stahlhelm/Bund der Frontsoldaten“, der in diesem Zeitraum größten rechtsextremen Massenorganisation der Weimarer Republik, mit ausgeprägten Sympathien für die Mussolini-Diktatur. Anfang September 1929 wechselte Börger vom „Stahlhelm“ zur NSDAP (Mitgliedsnummer 150.841) und machte anschließend in der Hitler-Partei Karriere. Von September 1930 bis zum Ende des NS-Regimes gehörte er für den Wahlkreis 22 (Düsseldorf Ost) dem Reichstag an.
Innerhalb der 1931/1932 gegründeten Nationalsozialistischen Betriebszellen-Organisation war er als Inspektor beziehungsweise Landesobmann West einer der führenden Funktionäre dieser pseudo-gewerkschaftlichen Organisation. Zentral war seine Rolle auch beim Aufbau der Deutschen Arbeitsfront (DAF): Im Frühjahr 1933 fungierte er als kommissarischer Leiter des Deutschen Textilarbeiter-Verbandes und des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes sowie als rheinischer Bezirksleiter der DAF – der größten NS-Massenorganisation, de facto freilich eine paternalistische Sozialbehörde im Vorfeld der NSDAP. Aufgrund seiner relativen Prominenz im Rheinland machte ihn die Universität Köln ab Frühjahr 1933 zum Lehrbeauftragten für „Grundfragen des Sozialismus“ und am 16.7.1935 zum Honorarprofessor.
Auf ausdrücklichen Vorschlag der beiden NSDAP-Gauleiter Josef Grohé (Köln-Aachen) und Gustav Simon (Koblenz-Trier) wurde Börger am 13.6.1933 zum „Treuhänder der Arbeit“ für das Rheinland ernannt. Diese „Treuhänder“ waren nach der Zerschlagung der Gewerkschaften und damit der Beseitigung der (schon seit 1930 zunehmend ausgehebelten) Tarifverträge notwendig geworden: Sie fixierten die bisherigen Tarifverträge als Tarifordnungen und ließen in ihrer Funktion als höchste tarifpolitische Instanz in rasch wachsendem Maße Unterschreitungen der ohnehin niedrigen tariflichen Lohnsätze zu. Mithin trugen sie maßgeblich zur Reduktion der Lohnkosten und damit auch zur Finanzierung der Aufrüstung bei. Administrativ waren sie, bis 1938/1939, an das Reichsarbeitsministerium angebunden. Als hohe Beamte des Arbeitsministeriums, das seit Ende Februar 1933 vom Stahlhelm-Führer Franz Seldte geleitet wurde, sollten sie dieses über ihre Rolle als Tarifkommissare hinaus in den regionalen NS-Milieus verankern. Im Unterschied zu den hohen Beamten des Reichsarbeitsministeriums waren die „Treuhänder der Arbeit“ langjährige NSDAP-Mitglieder, „Alte Kämpfer“ sowie darüber hinaus außerdem oft hochrangige SS-Mitglieder.
Börger steht hier exemplarisch: Er war ein im Rheinland allseits anerkannter „Alt-Parteigenosse“ sowie seit Anfang 1939 als „Brigadeführer“ – ein Rang, der dem des Generalmajors entsprach – auch ein hochrangiges SS-Mitglied. Im Juli 1939 soll Börger als „Reichsredner der Partei“ auf dem NSDAP-Gautag in Lüneburg in einer Rede über den „Daseinskampf des deutschen Volkes, das jetzt endlich zu den Urkräften seiner Seele und seines Blutes zurückgefunden“ habe, das verharmlosende Wort „Reichskristallnacht“ für die antisemitischen Pogrome am 9. und 10.11.1938 geprägt haben.[1]
Im November 1938 wechselte Börger in das Reichsarbeitsministerium. Zum Ministerialdirigenten befördert, avancierte er dort zum Leiter der für alle die Personalpolitik und alle Haushaltsangelegenheiten des Ministeriums zuständigen Hauptabteilung I. Das war ein ungewöhnlicher Karrieresprung: „Treuhänder“ beziehungsweise (wie sie seit April 1937 hießen) „Reichstreuhänder der Arbeit“ wurden sehr selten in die hohe Beamtenschaft der Zentralbehörde in Berlin aufgenommen. Ein Novum war zudem, dass mit Börger jemand zum leitenden Ministerialbeamten aufstieg, dem als Schlossergesellen die üblichen akademischen Weihen fehlten – fast alle der tonangebenden Beamten in diesem Ministerium waren promovierte Volljuristen.
Was prädestinierte Börger für diesen Aufstieg? Seldte berief ihn, so steht zu vermuten, weil er auf dessen Loyalität aufgrund gemeinsamer Stahlhelm-Zeiten zählen konnte. Vor allem aber schien Börger als „Alt-Parteigenosse“ gute Beziehungen zum „Braunen Haus“ um den Stellvertreter des Führers Rudolf Heß (1894-1987) sowie Martin Bormann (1900-1945), aber auch zu Robert Ley, der nicht nur Leiter der DAF war, sondern als NSDAP-Reichsorganisationsleiter auch in der Partei eine wichtige Rolle spielte. Auch zu anderen NS-Institutionen gelang es ihm, Kontakte aufbauen und in sensiblen personalpolitischen Fragen mit den Protagonisten der Hitler-Partei einvernehmen zu erreichen. Letzteres gelang ihm, auch wenn sich Börger zu den Zentren der NS-Milieus keinen Zutritt verschaffen konnte.
Dennoch änderte sich an der Einstellungs- und Beförderungspraxis des Arbeitsministeriums unter Börger grundsätzlich nichts: Entscheidendes Kriterium blieben fachliche Qualifikationen, nicht politische Verdienste. Ihm als dem Leiter der für Personalangelegenheiten maßgeblichen Abteilung war es außerdem hauptsächlich zu verdanken, dass drei nach den NS-Rassegesetzen als „Halbjuden“ geltende Beamte im Reichsarbeitsministerium verbleiben konnten; allerdings wurde eine solche Praxis vom NS-Regime auch in zahlreichen anderen Fällen toleriert, wenn Menschen mit einem als jüdisch geltenden Elternteil oder zwei jüdischen Großeltern fachlich nur schwer zu ersetzen waren. Dieser Schutz langjähriger Ministerialbeamter kontrastierte zudem scharf mit dem kaltherzigen Umgang der verantwortlichen Akteure des Reichsarbeitsministeriums etwa mit jüdischen Versicherten oder auch der Vorreiterrolle der Ministerialbeamten beim „Arbeitseinsatz“ jüdischer Zwangsarbeiter in separaten „geschlossenen Kolonnen“ ab 1938 sowie auch dem unbarmherzigen Umgang mit Fremdarbeitern und -arbeiterinnen, namentlich Ostarbeitern und -arbeiterinnen.[2]
Am 21.3.1942 wurde der thüringische NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel (1894-1946) von Adolf Hitler (1889-1945) und Hermann Göring (1893-1946) zum „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“ ernannt. Sauckel unterstellte seinem personell überschaubaren Sonderkommissariat die Hauptabteilungen III und V des Reichsarbeitsministeriums für Arbeitsrecht und Lohnpolitik sowie den „Arbeitseinsatz“ unmittelbar und verschaffte sich in den folgenden Monaten Zugriff auf das gesamte Ministerium. Der für seine brutalen Methoden bei der „Fremdarbeiterrekrutierung“ - die de facto Sklavenjagden gleichkamen - berüchtigte Sauckel berief Börger nicht nur zu seinem „Beauftragten für Presse- und Propagandaaufgaben“, sondern machte ihn bereits am 3.4.1942[3] auch offiziell zu seinem „Verbindungsmann“ im Reichsarbeitsministerium. Damit verschaffte sich Sauckel den Zugriff auf die personalpolitisch und organisationstechnisch zentrale Schaltstelle des Ministeriums.
Es war mithin unzutreffend, wenn Börger Mitte April 1947 vor einem Entnazifizierungsausschuss behauptete, er habe „nie zu Sauckel gehoert“ (der als Verantwortlicher für die elende Lage und den Tod von Millionen von „Fremdarbeitern“ zum Tode verurteilt und am 16.10.1946 in Nürnberg gehenkt worden war) und sich zu einer Art Bote stilisierte, der Personalvorschläge und Etatpläne seinen „Vorgesetzten“ Minister Seldte und Staatssekretär Friedrich Syrup (1881-1945) lediglich „abgegeben“ habe.[4] Ebenso fragwürdig sind umgekehrt allerdings auch Feststellungen seiner ehemaligen Kollegen aus der Leitung des Reichsarbeitsministeriums, die den „Nazi-Ministerialdirektor“ Börger als einen „Faustkämpfer und Klopffechter in politischen Versammlungen“ und „fanatischen alten Pg.“ sowie als einen „rabiaten Christenhasser“ (wohl weil dieser am 20.3.1935 aus der evangelischen Kirche ausgetreten war) bezeichneten.[5] Zwar hatte Börger tatsächlich die katholische Kirche bis weit in die dreißiger Jahre hinein mit heftigen Worten attackiert, etwa als er keine drei Monate nach seinem Kirchenaustritt vom „politischen Katholizismus“ als einer „Macht neben der jüdischen“ sprach, „die die gleichen Ziele hat wie die jüdischen Herrschaftsansprüche über die Erde.“[6] Wenn führende Beamte des ehemaligen Reichsarbeitsministeriums Börger als „Christenhasser“ denunzierten, dann war dies gleichwohl keineswegs nur von berechtigter Empörung, sondern auch von einem apologetischen Kalkül getragen. Sie wollten vor allem sich selbst auf diese Weise in ein möglichst günstiges Licht stellen und von eigener Schuld an den NS-Verbrechen reinwaschen – ein nach 1945 übliches Muster.
Dies fiel ihnen leicht. Denn Börger war keineswegs das „Unschuldslamm“, zu dem er sich nach dem Krieg zu stilisieren versuchte. Kurz nach der Befreiung festgenommen, wurde Börger bis Juni 1948 interniert, zunächst in Hessisch Lichtenau, später im Justizgefängnis Nürnberg und anschließend in einem Lager in der Nähe von Fallingbostel in Niedersachsen. Im März 1949 wurde er zunächst als „Minderbelasteter“ (Entnazifizierungskategorie III), im November desselben Jahres als „Mitläufer“ (Kategorie IV) eingestuft. Bereits 1948 aus der Internierungslager Fallingbostel nach Hüllhorst bei Lübbecke zu seiner Familie entlassen, gelang es Börger nicht mehr im öffentlichen Dienst Fuß zu fassen. 1948/1949 schlug er sich als Hilfsarbeiter durch, danach als kaufmännischer Angestellter in einem Unternehmen für Feinmechanik in Löhne. 1950–1955 arbeitete er mit Wohnsitz Essen als Vertreter für Farben, Lacke und Arbeitshandschuhe.
Zwar trat Börger nach 1945 keiner Partei mehr bei, wurde aber für die nordrhein-westfälischen FDP „beratend“ tätig, die in den 1950er Jahren ein Sammelbecken ehemals hoher Nationalsozialisten war. So gehörte er zum sogenannten Naumann-Kreis.[7] Auch zur rechtsextremen „Deutschen Reichspartei“ soll Börger engere Kontakte unterhalten haben.
Wilhelm Börger starb am 29.6.1962 in Heidelberg.
Quellen
Bundesarchiv Berlin (BArch), N 2032 (Nachlass)
BArch Berlin, R 3901/20029, 20336
Staatsarchiv (StA) Nürnberg, Rep. 502 VI, B 115 (KV-Anklagen, Interrogations), Vernehmung Börgers am 17.4.1947.
Literatur
Baldow, Beate, Episode oder Gefahr? Die Naumann-Affäre, Diss. FU Berlin 2012.
Hachtmann, Rüdiger, Vom Wilhelminismus zur Neuen Staatlichkeit des Nationalsozialismus. Das Reichsarbeitsministerium 1918 bis 1945, 2 Bände, Göttingen 2023.
Lilla, Joachim (Bearb.), Statisten in Uniform. Die Mitglieder des Reichstags 1933-1945. Ein biographisches Handbuch, Düsseldorf 2004, Spalte 49-50.
Schmid, Harald, Erinnern an den „Tag der Schuld“. Das Novemberpogrom von 1938 in der deutschen Geschichtspolitik, Hamburg 2001.
Online
Abgeordnetendatenbank des Reichstags, 5.-11. Wahlperiode [Online]

Wilhelm Börger, Auszug aus der personenbezogenen Kartei der SS, undatiert. (Bundesarchiv/R 9361-III/517952)
- 1: Schmid, S. 82, Anm. 57.
- 2: Seit Spätsommer 1941 schuf das RAM die Infrastruktur für die Rekrutierung von „Fremdarbeitern“ in den von der Wehrmacht besetzten europäischen Regionen, auf die Sauckel als GBA ab Frühjahr 1942 aufbauen konnte.
- 3: Vgl. BArch Berlin, R 3901/20029, Bl. 12.
- 4: Vernehmung Börgers vom 17.4.1947, Staatsarchiv (StA) Nürnberg, Rep. 502 VI, B 115 (KV-Anklagen, Interrogations).
- 5: So der Vorgänger Börgers als Leiter der Hauptabteilung I des RAM, Hermann Rettig, an den Vorsitzenden der Spruchkammer Rothenburg o. d. T., 12.5.1946, S. 7, Spruchkammerakten Rothenburg o. d. T., StA Nürnberg, R 55. Zu weiteren Beschuldigungen der RAM-Spitze, zur Verteidigungsstrategie Börgers sowie überhaupt zur „Vergangenheitsbearbeitung“ der ehemaligen hohen Beamten des RAM vgl. Hachtmann, S. 1246-1311.
- 6: „Der Kampf gegen die Dunkelmänner“. Eine Rede des Staatsrats Prof. Börger, in: Katholisches Kirchenblatt 1935, Nr. 24 (vom 16.6.1935), S. 11.
- 7: Baldow, S. 41.
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Hachtmann, Rüdiger, Wilhelm Börger, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/wilhelm-boerger/DE-2086/lido/65549c435d28d2.76006198 (abgerufen am 13.02.2025)
Veröffentlicht am 15.11.2023