Räuber und Gauner im Rheinland 1798-1814
Zu den Kapiteln
1. Einleitung
Das organisierte Bandenwesen erlebte um 1800 eine Blütezeit. Räuberbanden traten zwar schon seit dem Dreißigjährigen Krieg auf, doch erst im 18. Jahrhundert wuchs die Zahl ihrer Mitglieder bedenklich an. Die Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen und die daraus folgende Gemengelage aus alter und neuer Ordnung begünstigte zusätzlich kriminelles Verhalten. Dies stellte die Behörden sowohl des Ancien Régimes als auch der sogenannten „Franzosenzeit“ vor große Herausforderungen.
Über die Räuberbanden im Rheinland um 1800 ist bereits viel geschrieben worden. Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Belletristik hat sich des Themas angenommen. Die Geschichten und Mythen um einzelne Räuber und die „heroischen“ Überfälle haben seit jeher die Phantasie beflügelt. Hingewiesen sei nur auf die unzähligen Romane und Filme rund um Johannes Bückler, den Schinderhannes. Ähnlich rezipiert wurden auch seine Kollegen aus dem nördlicheren Teil des Rheinlands. Die zentrale Figur ist hier – wenn auch nicht ganz so berühmt – Mathias Weber, genannt der Fetzer. Von ihm wird noch die Rede sein.
Betrachtet wird im Folgenden die staatliche Sichtweise auf die Bandenkriminalität im Speziellen und auf die mobilen Gruppen im Allgemeinen. Wer war eigentlich unterwegs? Wie wurden die Leute auf der Straße von den Polizisten, Gendarmen, Bürgermeistern, Unterpräfekten, Präfekten usw. wahrgenommen? Welche Eigenschaften wurden ihnen zugeschrieben? Und vor allem – welche Konsequenzen wurden daraus gezogen?
In den Jahren 1798-1814 wurde das gesamte Staatswesen in den von Frankreich eroberten Gebieten neu organisiert. Alte Institutionen wurden abgeschafft, neue entstanden. Alles war im Fluss. Auch die Verfolgung verdächtiger Personen wurde auf neue Füße gestellt. Tatsächlich gelang es, das Bandenwesen so weit einzudämmen, dass es nach 1815 keine besondere Bedrohung mehr darstellte.
Der Kampf gegen Räuberbanden war jedoch kein spezifisch rheinisches oder deutsches Phänomen. Napoleon kämpfte an vielen Fronten, nicht nur bei seinen Feldzügen, sondern auch innerhalb der eroberten Gebiete. Besonders heftig waren die Konfrontationen in Spanien und Italien, in denen das Räuberwesen in Verbindung mit Aufständen gegen die französische Besatzung stand. Diese inneren Auseinandersetzungen können mit Michael Broers als „Napoleons anderer Krieg“ bezeichnet werden.[1]
Die frühneuzeitliche Gesellschaft war keineswegs eine unflexible und starre Gesellschaft. Vor allem die Historische Migrationsforschung hat den Blick auf die mobilen Elemente gelenkt. Etliche Leute waren aus unterschiedlichen Gründen unterwegs. Dieser Beitrag betrachtet jene Gruppen, die von den Behörden als potenziell gefährlich eingestuft wurden. Dazu zählen vor allem Menschen aus der sozialen Unterschicht wie Räuber, Bettler, Vagabunden, Wanderhändler und Deserteure. Einbezogen werden jedoch auch die wandernden Handwerksburschen, da sie aufgrund ihrer besonderen sozialen Stellung vom Staat nur schwer zu kontrollieren waren und ebenfalls ein gewisses Gefahrenpotenzial in sich bargen. Nicht berücksichtigt werden die sonstigen Reisenden, Pilger und unbescholtenen Leute, die sich im näheren Umkreis ihres Wohnortes bewegten und nicht aktenkundig geworden sind.
2. Die Entwicklung des Bandenwesens und die Maßnahmen des Staates bis 1798
Organisierte Gruppen, die Eigentums- und Gewaltdelikte verübten, traten vor allem in wirtschaftlichen Krisenzeiten auf. Einen ersten Höhepunkt erreichten sie nach dem Dreißigjährigen Krieg, als zahlreiche Menschen aufgrund der durch den Krieg hervorgerufenen bitteren Armut zu einem Leben auf der Straße gezwungen wurden. Eine ähnliche Pauperisierung in Kombination mit Kriegen lässt sich im 18. Jahrhundert beobachten, welche das erneute Anwachsen mobiler Randgruppen und organisierter Kriminalität begünstigte. Im Gefolge des Siebenjährigen Krieges formierte sich etwa die sogenannte „Mehlbeutelbande“ um Nikolaus Arnold, genannt „Mehlbeutel“. Die Bande war zwischen 1756 und 1763 im heutigen deutsch-niederländischen Grenzgebiet unterwegs und verübte auch Überfälle und Diebstähle im Düsseldorf und Köln. In ihren Reihen befanden sich auffallend viele Deserteure, was auf einen Zusammenhang mit den Kriegsereignissen hinweist.
Bereits in der Zeit vor Ausbruch der Französischen Revolution 1789 liegen die Anfänge der großen Banden, die das Rheinland bis in die Franzosenzeit hinein unsicher machten. So formierte sich in den späten 1780er Jahren in der Nähe von Groningen eine Räuberbande um Jakob Moyses. Sie bildete den Kern der späteren Großen Niederländischen Bande, die die Niederlande und das Rheinland bis nach Mainz unsicher machen sollte. Die Große Niederländische Bande war ein Oberbegriff für viele Räuberbanden vom Niederrhein bis nach Köln. Im Bergischen war zwischen 1796 und 1802 vor allem die Krefelder und Neusser Bande unter ihrem Anführer Mathias Weber, dem Fetzer, aktiv.
Die krisenhaften Wellen lassen sich auch an der Gesetzgebung der frühneuzeitlichen Staaten ablesen. Etwa seit dem 17. Jahrhundert wurden reichsweit in den einzelnen Territorien und Reichsstädten verstärkt Gesetze und Verordnungen zur Bekämpfung fremder Bettler, herrenlosen Gesindels und sonstiger verdächtiger Personen erlassen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahm die Verordnungsdichte zwar ab, steigerte sich aber ab circa 1770 wieder deutlich. Diese Verordnungen wurden zunächst in umfangreichen „Policey-Ordnungen“ veröffentlicht, die alle Bereiche menschlichen Lebens regelten.
In Kurköln widmeten sich in der Frühen Neuzeit 87 Policeygesetze den mobilen Randgruppen und der Vagantenproblematik. 53 wurden allein von 1723, dem Amtsantritt des Kurfürsten Clemens August bis zur Auflösung des Staates 1806 erlassen. Besonderes Augenmerk galt dabei den fremden, arbeitsfähigen Bettlern, den „Müßiggängern“ sowie den „herrenlosen“ Vaganten und Zigeunern. Diese stellten das genaue Gegenteil einer ordentlichen, fleißigen und sesshaften Gesellschaft dar, und wurden daher mit drakonischen Strafen bedroht, wenn sie den Kurstaat nicht sofort verließen. Die Strafen reichten von Arbeitsstrafen, Pranger, Brandmarkung bis hin zur Todesstrafe für fremde Bettler und Zigeuner.[2]
Die Policeygesetze zielten aber nicht nur auf die Abschreckung der mobilen Randgruppen, sondern hielten der „ordentlichen“ Bevölkerung vor Augen, was sie bei einer Abwendung von den bürgerlichen Moralvorstellungen erwarten würde. Dass eine so hohe Zahl an Policeygesetzen mit größtenteils identischem Inhalt in einem relativ kurzen Zeitraum erlassen wurde, erweckt zunächst den Eindruck der Ohnmacht und Hilflosigkeit des Kurstaates gegenüber den fahrenden Leuten. Wenn die einzelnen Gesetze strikt befolgt würden, wäre ihre permanente Wiederholung ja nicht notwendig.
Die neuere historische Forschung sieht in diesen Wiederholungen allerdings keine Schwäche des Staates mehr, sondern sie betont seine Fähigkeit, sich immer wieder in die Problematik regulativ einzubringen. Tatsächlich lassen sich bei genauerem Hinschauen graduelle Unterschiede in den Policeyordnungen feststellen, sei es bei der Bestimmung derjenigen, die bekämpft werden sollen, sei es bei der Art und Weise wie das Gesetz umgesetzt werden kann oder sei es bei der Form der angedrohten Strafe. Bis 1798 lässt sich – auch aufgrund der wachsenden Bedrohungslage durch die näher rückenden französischen Revolutionstruppen – eine zunehmende Professionalisierung der Fremdenpolicey feststellen. Die Listen der verdächtigen Fremden wurden länger und detaillierter, die Verfolgungsinstrumente differenzierter.
Ein Beispiel für den unbedingten Willen, das Problem der Vaganten anzugehen, ist die von Kurfürst Clemens August 1751 aufgestellte Husarenkompanie, eine vom Militär unabhängige Truppe mit uniformierten und fest besoldeten Männern, die im Erzstift für Sicherheit auf dem Lande sorgen sollte. Die Husarenkompanie ersetzte die sonst üblichen, aber unzureichenden Streifen und Nachtwachen in den einzelnen Dörfern.
Es mangelte aber vor allem an einem effizienten Justizsystem, das die verhafteten Delinquenten hätte schnell und zuverlässig aburteilen können. So kam es immer wieder zu Beschwerden, die Gemeinden würden gar kein Strafverfahren anstrengen, sondern einige Vaganten gleich wieder freilassen. Zu einer effektiven Bekämpfung der Kriminalität mobiler Randgruppen kam es nicht, die Zahl der Festnahmen blieb dauerhaft gleich hoch. Während sich die Obrigkeit noch mit Verordnungen alten Stils abmühte, war die Krefelder und Neusser Bande bereits gut im Geschäft.
3. Charakterisierung der umherziehenden Leute und Entwicklung des Bandenwesens nach 1798
Vaganten übten häufig ambulante Dienstleistungen aus als Scherenschleifer, Pfannen- und Kesselflicker, Sägenfeiler oder Viehkastrierer oder handelten mit Waren aller Art wie Geschirr aus Porzellan, Ton oder Zinn, mit Zunder, Blasrohren, Kämmen, Bürsten, Besen, Körben, Sieben, Mausefallen, Knöpfen und Schnallen, oft auch mit gestohlenen Waren. Indem sie die Landbevölkerung mit Waren aller Art versorgten, erfüllten sie eine wichtige ökonomische Funktion. Doch auch hier ließen sich keine Reichtümer verdienen, da die Bauern oft selbst kaum Geld hatten und die Wanderhändler sich gegenseitig Konkurrenz machten.
Weiterhin waren die „klassischen“ Fahrenden unterwegs, die Gaukler, die mit allerlei Kunststücken für Unterhaltung auf dem Lande sorgten. Hierzu zählten auch die Quacksalber, Zahnbrecher und Oculisten, die mit viel Schau auf ihre angeblichen oder auch tatsächlich vorhandenen medizinischen Fähigkeiten aufmerksam machten. Schließlich gab es noch die Hausierer mit Nachrichten und Neuigkeiten, die gewissermaßen als vormoderne Zeitungen fungierten.
Oft reichten diese Tätigkeiten allerdings nicht aus, um über die Runden zu kommen, weshalb sehr viele auf das Betteln angewiesen waren und zu Kleinkriminellen wurden. Von diesen äußerst bedürftigen Vaganten ging allerdings nur eine Minderheit zum bandenmäßig organisierten, gewalttätigen Raub über. Diejenigen Vagabunden, die kriminell wurden, befanden sich in aller Regel in einer prekären ökonomischen Situation. Auch die mit dem Umherziehen verbundene Bindungslosigkeit sowie die Ausgrenzung aus der Gesellschaft machten die Vaganten anfällig für das Absinken in die Kriminalität.
Dies soll am Beispiel der Krefelder und Neusser Bande näher erläutert werden. Keimzelle der Krefelder Bande waren die Scherenschleifer Friedrich der Einäugige und Franzis von Dahlen. Sie verübten bereits 1793 erste Überfälle. Da sie über ein Patent ihres Gewerbes – und damit über reguläre Papiere – verfügten, war es nicht leicht, sie als Übeltäter zu identifizieren. Weitere Mitglieder der Bande waren im Laufe der Zeit vor allem ehemalige Soldaten, Handwerker und Juden, das heißt Angehörige verarmter Schichten.
1796 stieß Mathias Weber, der den Beinamen „Fetzer“ bekam, 18-jährig zur Bande. 1797 ging die Krefelder Bande in der Neuwieder Bande auf, die durch ihre Zugehörigkeit zur Großen Niederländischen Bande einen wesentlich größeren Aktionsradius hatte. Ihr Gebiet umfasste Teile der Niederlande, den gesamten Niederrhein, das Bergische Land und die Rheinschiene bis hinunter nach Mainz. In Neuwied hatte die Bande ihren eigentlichen Stützpunkt. Daneben hatte sie weitere Schlupfwinkel unter anderem in Neuss und Deutz (heute Stadt Köln).
Die Struktur der Bande darf man sich nicht als festgefügt vorstellen. Sie bestand vielmehr aus mobilen Einheiten, die sich aus den für einen bestimmten Überfall geeigneten und gerade verfügbaren Mitgliedern zusammensetzte. Es wurde allerdings darauf geachtet, dass zumindest eine Führungspersönlichkeit dabei war, die das Kommando übernahm. Solche Führungspersönlichkeiten waren neben dem Fetzer zum Beispiel der Anführer der Großen Niederländischen Bande, Abraham Picard, Damian Hessel, genannt das Studentchen, und Carl Heckmann. Ohne einen wagemutigen Anführer wurde ein geplanter Überfall nicht durchgeführt.
Zu Beginn des Jahres 1803 wurde der Fetzer mit einigen Komplizen im Amt Bergen bei Frankfurt festgenommen. Zufällig inspizierte zu diesem Zeitpunkt der öffentliche Ankläger Anton Keil aus Köln die dortigen Gefängnisse. Dieser konnte den Fetzer zweifelsfrei identifizieren. Nur wenig später wurde der Fetzer über den Rhein nach Köln transportiert, wo er am 19. Februar durch die Guillotine nur 25-jährig hingerichtet wurde. Nach eigenen Angaben hatte er in seinem kurzen Leben insgesamt 192 Delikte verübt.
Die anderen Mitglieder der großen Räuberbanden erfuhren ein ähnliches Schicksal. Damian Hessel wurde Ende Oktober 1810 zum Tode durch die Guillotine verurteilt. Abraham Picard wurde 1805 ebenfalls im Amt Bergen verhaftet und starb 1807 im Gefängnis in Marburg. Nur wenige Monate nach dem Fetzer, am 21.11.1803, wurde auch Johannes Bückler, der Schinderhannes, in Mainz hingerichtet.
Das Jahr 1803 gilt allgemein als das Jahr, in dem die Zeit der großen Räuberbanden endgültig zu Ende ging. Tatsächlich nahm die Bandenkriminalität in den Jahren danach deutlich ab. Sie verlagerte sich jedoch zunehmend auf den einfachen Straßenraub und den organisierten Schmuggel. Insbesondere die Errichtung der Kontinentalsperre 1806 sorgte für ein Aufblühen des Schmuggels.
Auch die erneute radikale Neuordnung der rheinischen Territorien begünstigte das Abnehmen der Bandenkriminalität. Bis 1806 konnten sich die Räuber bequem von der linken Rheinseite auf die rechte und umgekehrt absetzen. Der Rhein war die Grenze zwischen verfeindeten Mächten. Nach Auflösung des Alten Reichs und der territorialen Neuordnung geriet nun auch das rechte Rheinufer unter französischen Einfluss. Nach und nach wurden auch dort die französischen Gesetze eingeführt. Nun war es für Kriminelle im Rheinland nicht mehr so leicht, den Behörden zu entkommen.
Zwischen 1810 und 1813 lebte das Bandenwesen erneut auf. Diesmal handelte es sich allerdings vor allem um Refraktäre und Deserteure sowie um verarmte Leute, denen die Kontinentalsperre mit den damit verbundenen Belastungen die letzte Lebensgrundlage genommen hatte. Besonders das bereits industriell entwickelte Großherzogtum Berg mit seiner Textilproduktion hatte darunter zu leiden. Dort fanden 1813 richtige Arbeiterproteste, wie sie kennzeichnend für das 19. Jahrhundert waren, statt.
4. Wahrnehmung der Räuber durch Staat und Gesellschaft
Wie schon im Alten Reich, so beschränkten sich auch die französischen Behörden auf die diffuse Kontrolle verdächtiger Fremder, der Vagabunden, von sonstigem Gesindel etc. Die durchführenden Verwaltungen vor Ort hatten also einen nicht unerheblichen Ermessensspielraum, wen sie unter diese Kategorien fassen wollten.
Wenn konkrete Anweisungen erteilt wurden, dann geschah dies aufgrund konkreter, meistens kriegerischer Anlässe. So war zum Beispiel die Eroberung Maltas durch die Briten 1798 ein Grund, um Durchsuchungen nach Fremden maltesischer Herkunft anzuweisen. Dies wurde dann gleich zum Rundumschlag genutzt, um nach allen Feinden Frankreichs, das heißt Emigranten, Deserteuren, Priestern, Vagabunden und sonstigem Gesindel sowie nach Engländern, Amerikanern und Russen zu suchen. Die Durchsuchungen waren vor allem politischer Natur und dienten dem Aufspüren von Spionen.
Während die Staatsfeinde Frankreichs klar definiert waren, blieb die Bestimmung der Vagabunden nach wie vor recht vage. Erst in einem provisorischen Reglement zur Armenfürsorge, das 1811 publiziert wurde, wurde die Kategorie des vagabundierenden Bettlers genauer definiert: Hierzu zählten diejenigen, die nicht in dem betreffenden Arrondissement geboren waren, die mit Unverschämtheit bettelten, sich als Soldaten oder Krüppel ausgaben oder in Gruppen von mehr als vier Personen auftraten. Einheimische arbeitsfähige Bettler sollten jedoch in die zuständige Armenanstalt, das sogenannte Bettlerdepot aufgenommen werden. Die Arbeitsfähigkeit, die noch vor 1798 über die Teilhabe an der Armenfürsorge entschied, trat als Kriterium gegenüber der territorialen Fremdheit zurück. Diese fremden, umherziehenden Bettler und Vagabunden wurden vielmehr als prinzipiell gefährlich eingestuft und sollten der Gendarmerie übergeben werden.
Ausgrenzung erfolgte auch dadurch, dass man bestimmten Personen eine Herkunft aus ferneren Ländern zuschrieb. So waren 1811 und 1812 angeblich „italienische Kupferwarenhändler“ und „ungarische Scharlatane“ unterwegs. Diese dienten wiederum als Begründung, alle Arbeiter und Wanderhändler zu kontrollieren und gegebenenfalls direkt an der Grenze abzuweisen. Die Bezeichnungen sagen allerdings nicht unbedingt etwas über die nationale Herkunft der Gruppen aus. Sie sind vermutlich eher Berufsbezeichnungen, die sich verselbstständigt haben. Das gleiche Phänomen begegnet uns bei den Zigeunern, englisch „gypsies“. Die Bezeichnung „gypsy“ weist auf die ursprüngliche Herkunft aus Ägypten, „Egypt“ hin, wurde später aber unabhängig von der Herkunft verwendet.
Eine zusätzliche Kriminalisierung erfuhren die Vaganten dadurch, dass sich viele Juden in ihren Reihen befanden. Viele Juden waren aufgrund der dauerhaften Ausgrenzung aus der Gesellschaft in der Frühen Neuzeit in eine sozial prekäre Lage geraten. Man schätzt ihren Anteil an den Fahrenden auf bis zu 20 Prozent. Nicht wenige davon wurden zu Mitgliedern der gefürchteten Räuberbanden. Von 205 Bandenmitgliedern, die 1805 bekannt waren, waren 112 jüdisch, was den Glauben unterstützte, das Bandenwesen sei maßgeblich von Juden beeinflusst. Vorurteile gegenüber Vaganten und Juden verstärkten sich so gegenseitig. Juden waren aber nicht nur Täter, sondern auch häufig Opfer gewaltsamer Überfälle. Juden auszurauben hatte für die Banditen zudem den Vorteil, mit einer weniger intensiven Strafverfolgung rechnen zu können. So teilte der Schulmeister von Södern im Taunus dem überfallenen Moyses Löw mit, dass er die Sturmglocke nur für Christen und keineswegs für Juden läuten dürfe.[3] Insbesondere die Bande des Schinderhannes hatte sich auf Überfälle auf Juden spezialisiert. Doch auch im Rheinland waren immer wieder Juden Opfer der Räuberbanden. Erwähnt seien hier nur ein Überfall auf einen Juden in Nettesheim durch die Krefelder Bande sowie der gescheiterte Überfall auf einen jüdischen Ladenbesitzer in Hörstgen (heute Stadt Kamp-Lintfort).
Das Bild, das von den Räuberbanden gezeichnet wurde, war natürlich überwiegend negativ. Die Verbrechen waren durch nichts zu entschuldigen. Unterstützung bei ihren Vorhaben erfuhren die Banden nur durch Angehörige der Unterschicht, die sich zumindest einen kleinen Vorteil davon versprachen oder deren Neid und Hass auf die Reichen bereits soweit gediehen war, dass sie ebenfalls zu Kriminellen wurden. Weitere Unterstützung bekamen die Räuber nur durch Einschüchterung beispielsweise der Nachbarn, die Zeuge eines Überfalls wurden.
Die Professionalität, mit der die Überfälle teilweise verübt wurden, nötigte allerdings selbst dem öffentlichen Ankläger Anton Keil Respekt ab. Vor allem in seinen Beschreibungen des Fetzers scheint so etwas wie Bewunderung hervor: „Mathias Weber genannt Fetzer verdient vielleicht allen unter Räubern, die in dieser Geschichte vorkommen, am meisten, daß man von ihm ein ausführliches Gemählde entwerfe; denn er gehört unter die wenigen Menschen, die sich im Tode wie im Leben treu blieben und bey großen Lastern eine große Festigkeit der Seele besaßen.“[4]
5. Kontrollmaßnahmen des Staates und dessen Vorstellungen von Ordnungspolitik mit Rückblick auf das Ancien Régime
Die Maßnahmen gegen die Räuberbanden und gegen Vaganten im Allgemeinen lassen sich gut unter dem Begriff der Fremdenpolizei fassen. Wie bereits erläutert wurde, versuchte die Obrigkeit im Alten Reich das Gemeinwesen mit Hilfe von Policeynormen in Ordnung zu bringen und zu halten. „Policey“ war vor allen Dingen auf die Regulierung nahezu sämtlicher Lebensbereiche angelegt. Nach 1798 setzte zuerst in den vier neuen Departements und ab 1806 schließlich auch im Großherzogtum Berg ein Wandel hin zu einer Polizei ein, die vor allem für die Gefahrenabwehr und die Aufklärung von Verbrechen zuständig war. 1804 schrieb der Kölner Maire Johann Jakob Wittgenstein (1754-1823): „Es [ist] eine der Hauptaufgaben einer gut organisierten Polizei, genauso über die öffentliche Ruhe wie die Sicherheit der Einwohner und ihr Eigentum zu wachen, und geeignete Methoden einzusetzen, um nicht nur den Delikten vorzubeugen, sondern auch um diejenigen in ihren verstecktesten Winkeln zu entdecken, die bereits begangen wurden, damit sie von dem zuständigen Gericht verfolgt werden können.“[5]
Ein erster Schritt war die Neuorganisation der französischen Gendarmerie im Jahr 1798. Gegründet worden war die Gendarmerie 1791 in Frankreich. Sie entwickelte sich aus der ehemaligen königlichen Maréchaussée, die für die Sicherheit auf den großen Straßen zuständig gewesen war. 1798 stellte Brigadegeneral Wirion die Gendarmerie neu auf – parallel zu ihrer Einführung in den vier neuen rheinischen Departements. In dem dazu angefertigten Zirkular-Schreiben vom 6. Fructidor VI (23.8.1798) heißt es: „Die National-Gendarmerie ist hauptsächlich eingesetzt, um auf die Sicherheit der Landgegenden und der großen Straßen zu wachen“.[6]
Um die Sicherheit auf dem Land zu gewährleisten, wurden der Gendarmerie zwei Aufgabenfelder zugewiesen:
- die Aufgaben einer administrativen Polizei, um Gefahren abzuwehren (allgemeine Überwachung, Bekämpfung des Vagantentums, assistierende Aufgaben, Eskortierung von Konvois, Sicherung der Ordnung auf Märkten, Jahrmärkten, Festen und sonstigen Versammlungen)
- die Aufgaben einer justiziellen Polizei, zur Eindämmung von Taten, die nicht verhindert werden konnten (Feststellung von Verbrechen und Delikten, Durchführung von Verhören, Aufnahme von Klagen und Zeugenaussagen, Verhaftung von Kriminellen).
Damit sind im Prinzip die Aufgaben einer modernen Polizei ziemlich genau beschrieben.
Die neuen Herren aus Frankreich stützten sich bei der Einrichtung einer professionelleren Polizei in den vier rheinischen Departements auf die bereits vorhandenen Strukturen. So wurden die Bürgerhauptleute der ehemaligen freien Reichsstadt Köln kurzerhand zu besoldeten Polizeikommissaren. Auch bereits im Entstehen begriffene Entwicklungen wurden aufgegriffen, wie die Zentralisierung des Informationsflusses über verdächtige Personen und deren detaillierte Erfassung. Wohnortwechsel wurden meldepflichtig. Ansonsten wurden die vorhandenen Methoden der Fremdenüberwachung nur mit mehr Nachdruck verkündet, was manchmal erfolgreich war, manchmal weniger. Die weitaus häufigste verhängte Strafe war der Verweis aus der Stadt oder Gemeinde. Erst nach und nach begriff man, dass damit das Problem nicht gelöst, sondern nur verlagert wurde. Die territoriale Zersplitterung des Alten Reichs hatte der Ausweisung ja noch eine gewisse Berechtigung gegeben. Das Mittel der Ausweisung war recht simpel und kostenschonend. Es mussten keine Gerichte bemüht und keine Gefangenen verköstigt werden. Vom administrativen Aufwand ganz zu schweigen. Unter den neuen Umständen in einem großen Staatsverband aber war dieses Mittel allerdings nicht mehr tauglich.
Diese auf kleinere territoriale Einheiten zugeschnittene Praxis wurde nach 1798 allerdings nicht vollständig abgeschafft. Umherziehende Arme und Bettler wurden jetzt nur dann abgeschoben, wenn sie aus einem anderen Departement oder aus dem Ausland stammten. Wenn die Bettler aber aus dem Departement stammten, in dem sie unterwegs waren, so stand ihnen eine Unterstützung zu. Die Kosten für die Verhaftung und Abschiebung departementsfremder Bettler übernahm der Staat. Damit wurden die kommunalen Kassen entlastet und für die Gemeinden ein Anreiz zur Kooperation geschaffen.
Eine bis heute zentrale Methode, um mobile Menschen zu kontrollieren, ist die Ausstattung dieser Menschen mit Pässen. Der Pass begegnet uns erstmals im ausgehenden Mittelalter als Ausweispapier für Boten. Danach wurden Pässe vor allem zur Kontrolle von Soldaten verwendet, die damit beweisen mussten, dass sie sich erlaubterweise von der Truppe entfernt hatten. Doch nach und nach wurden Pässe auch für andere Bevölkerungsgruppen verwendet, deren Kontrolle im Interesse der Obrigkeit lag. Dazu zählten bald die umherziehenden Bettler, die mit dem Pass nachweisen mussten, ob sie in einer Gemeinde unterstützungsberechtigt waren. Der Pass sollte dazu dienen, seinen Träger als den auszuweisen, der er zu sein vorgibt. Parallel dazu wurden bei den Behörden Register angelegt, in denen theoretisch alle ausgestellten Pässe registriert wurden. Ein Pass war erforderlich, sobald man seine Heimatgemeinde verließ.
Die Eingliederung der linksrheinischen Gebiete in den französischen Staat im Jahr 1798 brachte eine Verstaatlichung des Passwesens mit sich. Nun wurde von Paris aus bestimmt, wie das Passwesen geregelt werden sollte. Dies hatte den entscheidenden Vorteil, dass es nun im Linksrheinischen, ab 1806 auch im Rechtsrheinischen, einheitliche Vorschriften gab. Zudem wurde die Passerteilung zentralisiert und rationalisiert.
Die Pässe dienten der Kontrolle der Mobilität. Davon versprach man sich eine wirksame Bekämpfung der Kriminalität, das schnelle Aufspüren von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern, sogenannten Refraktären, sowie die Verhinderung oder zumindest Reduzierung des Vagantentums. Doch die Räuber und Gauner waren nicht auf den Kopf gefallen, sondern ihnen gelang es ziemlich oft, die Behörden übers Ohr zu hauen. Sie gaben sich als ehrbare Wanderhändler aus oder verwendeten Papiere für Handwerksgesellen auf Wanderschaft. Unter diesem Deckmantel gelang es ihnen auch, sich in fremde Häuser einzuschleichen und dort ihre Raubüberfälle auszuüben.
Gerade diese Fehlschläge aber waren es, die die Behörden dazu anspornten, das Passwesen zu verbessern oder bestimmte Bereiche überhaupt erst staatlich zu regulieren. So war dem Provinzialrat von Siegburg eine Reihe von Klagen zu Ohren gekommen, dass viele Bettler unter dem Namen von Handwerksburschen betteln würden. Es sei schwierig, dies zu kontrollieren, da die Handwerksburschen lediglich mit einer Kundschaft ihres Meisters ausgestattet seien. Aus Siegburg kam der Vorschlag an den Minister des Innern des Großherzogtums Berg, diese Kundschaften nicht als Pässe anzuerkennen, sondern den Handwerksburschen, soweit sie arm sind, unentgeltlich Pässe auszustellen.
Dieser Vorschlag, der intensiv diskutiert wurde, wurde schließlich umgesetzt. Die Ausweispflicht wurde somit auf einen weiteren Personenkreis ausgedehnt.
6. Fazit
Im Alten Reich bestand ein strukturelles Unvermögen der Obrigkeiten, das Vagantentum nachhaltig zu bekämpfen. Die Vorstellung von einer guten Policey, die sämtliche Lebensbereiche regelt, wurde den am Ende des 18. Jahrhundert hervorbrechenden Konflikten nicht mehr gerecht. Doch muss festgehalten werden, dass es bereits mehr oder weniger erfolgreiche Bemühungen gab, das Vagantentum zu bekämpfen und für mehr Sicherheit vor allem auf dem Lande zu sorgen. Erinnert sei nur an die kurkölnische Husarenkompagnie.
Diese Ansätze wurden unter den neuen französischen Herren durchaus fortgeführt. Jetzt wurden sie allerdings mit mehr Härte und größerer Konsequenz umgesetzt. Dies erforderten allein schon die im Gefolge der Koalitionskriege entstandenen Räuberbanden. Sie stellten eine große Herausforderung für den Staat dar, der sich nun aber zu wehren wusste. Die Furcht vor den gefährlichen Banden zog eine gesteigerte Kriminalisierung aller Vaganten nach sich. Die Bandenkriminalität sorgte auf diese Weise für einen Ausbau der Instrumente zur Wahrung der inneren Sicherheit.
Wichtige Aspekte zur Erhöhung der allgemeinen Sicherheit waren der Aufbau einer gut funktionierenden Polizei bzw. Gendarmerie sowie die Etablierung eines bis ins Detail geregelten Passwesens. Ohne die territoriale Vereinheitlichung der linksrheinischen Gebiete und die rechtliche Angleichung der rechtsrheinischen Gebiete wären diese Anstrengungen allerdings nur schwer durchzusetzen gewesen. Die Räuber hatten nun keine Chance mehr, sich in ein Gebiet abzusetzen, das nicht von Frankreich kontrolliert wurde.
Ebenso relevant zur dauerhaften Niederschlagung des Bandenwesens trugen noch andere Faktoren bei, die hier nicht berücksichtigt werden konnten oder nur am Rande erwähnt wurden. Dazu zählen die Neuorganisation des Justizwesens, die Etablierung von Gefängnissen anstelle von Körperstrafen und die Institutionalisierung des Armenwesens. Das Übel wurde zunehmend an der Wurzel gepackt. Nicht zuletzt gelang es vor allem dem öffentlichen Ankläger Anton Keil durch beharrliche Nachforschungen, die Rädelsführer der Banden zu ermitteln und aus dem Weg zu räumen.
Zum Schluss soll noch einmal der Fetzer zu Wort kommen: „Ich habe es aus der Geschichte von meines Gleichen bestätigt gefunden, daß, sobald der Ruhm eines Räubers zu groß zu werden anfängt, er nicht mehr lange mitmacht, und der Justiz bald in die Hände fällt; so ging es auch mir. […] Mein Ruhm erscholl immer mehr und mehr; allein dieses zog auch meinen Untergang nach sich.“[7]
Quellen
Ungedruckte Quellen
Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland (LAV NRW R), Roerdepartement, Großherzogtum Berg, Gerichte Rep. 12 (Tribunal Criminel Aachen)
Historisches Archiv der Stadt Köln (HAStK), 350-FV (Französische Verwaltung)
Gedruckte Quellen
Becker, Johann Nikolaus: Actenmäßige Geschichte der Räuberbanden an den beyden Ufern des Rheins. Zweyter Teil. Enthaltend die Geschichte der Brabäntischen, Holländischen, Mersener, Crevelder, Neußer, Neuwieder und Westphälischen Räuberbande; aus den Kriminal-Protocollen und geheimen Notizen des Br. Keil, ehemaligen öffentlichen Ankläger im Roer-Departemente, zusammengetragen von einem Mitgliede des Bezirks-Gerichts in Cöln, Cöln 1804.
Literatur
Broers, Michael, Napoleon’s Other War. Bandits, Rebels and their Pursuers in the Age of Revolutions, Oxford 2010.
Finzsch, Norbert,brigkeit und Unterschichten. Zur Geschichte der Rheinischen Unterschichten gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1990.
Finzsch, Norbert, Räuber und Gendarme im Rheinland: Das Bandenwesen in den vier rheinischen Departements vor und während der Zeit der französischen Verwaltung (1794-1814), in: Francia 15 (1987), S. 435-470.
Härter, Karl, „... zum Besten und Sicherheit des gemeinen Wesens ...“. Kurkölnische Policeygesetzgebung während der Regierung des Kurfürsten Clemens August, in: Zehnder, Frank Günter (Hg.), Im Wechselspiel der Kräfte. Politische Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Kurköln, Köln 1999, S. 203-235.
Küntzel, Astrid, Fremde in Köln. Integration und Ausgrenzung zwischen 1750 und 1814, Köln/Weimar/Wien 2008.
Küther, Carsten, Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 1976.
Lange Katrin, Gesellschaft und Kriminalität. Räuberbanden im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. [u. a.] 1994.
- 1: Broers, Napoleon’s Other War.
- 2: Härter, Kurkölnische Policeygesetzgebung, S. 208, 214-218.
- 3: Küther, Räuber, Volk und Obrigkeit, S. 115.
- 4: Becker, Actenmäßige Geschichte, S. 141-142.
- 5: Historisches Archiv der Stadt Köln, 350-FV4469, S. 151.
- 6: Landesarchiv NRW R Roerdep. 2744.
- 7: Becker, Actenmäßige Geschichte, S. 167-168.
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Küntzel, Astrid, Räuber und Gauner im Rheinland 1798-1814, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/raeuber-und-gauner-im-rheinland-1798-1814/DE-2086/lido/57d124ad931b74.08562974 (abgerufen am 06.10.2024)