
Die Bevölkerungsentwicklung Bonns im 18. Jahrhundert

Grundriss der kurfürstlichen Residenzstadt Bonn, Kupferstich von Matthäus Merian (1593-1650) aus der Topographia archiepiscopatum Moguntiensis, Trevirensis et Coloniensis, Frankfurt 1646. (Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn)
Zu den Kapiteln
1. Einleitung
Bonns Vergangenheit als Hauptstadt der jungen Bundesrepublik ist noch allenthalben präsent. Die Stadt war aber bereits einmal Hauptstadt: im Kurfürstentum Köln vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zu dessen Auflösung in französischer Zeit. Seit dem Mittelalter, vornehmlich seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, fungierte die Stadt zunehmend als Residenz für die aus ihrer Kathedral- und Hauptstadt Köln verdrängten Erzbischöfe und Kurfürsten. 1597 verlegte Kurfürst Ferdinand von Bayern die kurkölnische Landesregierung von Brühl nach Bonn und nahm selbst ab 1601 Residenz im Bonner Schloss. Seitdem residierten die Kölner Kurfürsten kontinuierlich in ihrer Haupt- und Residenzstadt Bonn. Als der letzte Kurfürst Max Franz vor den französischen Revolutionstruppen am 3.10.1794 floh, endete Bonns erste Zeit als Haupt- und Residenzstadt.
Während die Stadt im 17. Jahrhundert noch weitgehend vom Weinanbau geprägt war, entwickelte sie sich unter den Kurfürsten Joseph Clemens und insbesondere Clemens August zu einer bedeutenden Residenzstadt im Nordwesten des Alten Reichs. Diese glanzvolle Epoche der Stadtgeschichte findet bis heute sichtbaren Ausdruck im Stadtbild: Verwiesen sei nur auf das Bonner Schloss, seit 1818 Hauptgebäude der Universität, den angrenzenden Hofgarten, Schloss Clemensruhe in Poppelsdorf oder die Poppelsdorfer Allee, in der bereits im 18. Jahrhundert ein exklusives und internationales Publikum flanierte. Während das kulturelle Leben unter dem Nachfolger von Clemens August, Max Friedrich von Königsegg, einen Einbruch erlitt, blühte es unter dem letzten Kurfürsten, dem Habsburger Max Franz, wieder auf. Der Vorläufer der heutigen Universität wurde gegründet. Führende Köpfe der Aufklärung - einer europäischen Bewegung, die den großen Revolutionen in den USA und Frankreich direkt vorausging - lehrten an ihr. Vor allem aber entwickelte sich Bonn zu einer Hochburg von Theater und Musik - ein idealer Nährboden für das herausragende Talent des jungen Ludwig van Beethoven.
Die Geschichte der in Bonn herrschenden und lebenden Fürstbischöfe, der Schlösser und Gärten, vor allem auch der in Bonn tätigen Gelehrten und Künstler bildet seit jeher ein reiches und fruchtbares Betätigungsfeld für Forscher verschiedenster Fachrichtungen. Dagegen spielte die Erforschung des Lebens der einfachen Leute in Bonn – beispielsweise der kleinen Handwerker, Tagelöhner und Bediensteten – bisher nur eine untergeordnete Rolle. Aber auch die zahlenmäßige Entwicklung der Bevölkerung, die Untersuchung der demographischen Komponenten, die sich aus Geburt, Heirat, Tod und Ein- beziehungsweise Auswanderung zusammensetzen, wurde bisher kaum behandelt. Bis auf vereinzelte Aufsätze[1] und die einschlägigen Kapitel im dritten Band der Bonner Stadtgeschichte[2] wurde die Bevölkerungsentwicklung Bonns im 18. Jahrhundert nicht thematisiert. Dies ist umso erstaunlicher, als für die anderen geistlichen Residenzstädte im Rheinland – Koblenz, Mainz und Trier[3] – größere historisch-demographische Untersuchungen vorliegen.
Dieser Beitrag soll einen Überblick über die Bevölkerungsentwicklung Bonns im 18. Jahrhundert bieten. Da die demographischen Komponenten maßgeblich von wirtschaftlichen Faktoren beeinflusst wurden, reichere Menschen in der Regel mehr Kinder bekamen, bietet die Analyse der Demographie auch einen Beitrag zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Stadt. Zentrale Bedeutung soll dabei auch die Frage haben, inwiefern die Funktion als Residenzstadt sich auf die Bevölkerungsentwicklung auswirkte.[4]

Bonner Residenz und Hofgarten mit Hauptwasserkunst vor 1777. Unsigniertes Bild. (Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn)
2. Die Entwicklung der Einwohnerzahl
Quellen, die über die zahlenmäßige Größe der Bevölkerung im vorstatistischen Zeitalter Aufschluss geben, sind rar gesät. Angesichts der Debatten um Volkszählungen im späten 20. und im 21. Jahrhundert verwundert das nicht, schließlich mochten es die Menschen auch früher nicht, wenn sich der Staat zu viele Informationen beschaffte, dienten diese doch zu häufig als Grundlage für neue Besteuerungen. Deshalb scheiterte auch ein Vorhaben Clemens Augusts im Jahr 1759, die Bevölkerung seiner Residenzstadt zählen zu lassen. Die mit der Aufgabe betrauten Beamten wurden von den Bonnern teils wüst beschimpft oder gleich des Hauses verwiesen, sodass eine Zählung der Bevölkerung nicht gelang. Erst unter Max Franz, der unter dem Eindruck der im Zuge der Aufklärung stark gewachsenen Bedeutung der Statistik stand, konnte die Bevölkerung im Jahr 1790 vollständig gezählt werden. Demnach lebten 10.487 Menschen in 2.668 Haushalten in der Stadt am Rhein. Für die Zeit vor 1790 liegen keine vollständigen Bevölkerungszählungen vor, jedoch zahlreiche andere Quellen, die zumindest fundierte Schätzungen zulassen.
Eine erste Schätzung ist anhand eines Heberegisters für das Jahr 1620 möglich. Demnach lebten etwa 4.500 Menschen in Bonn. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts vergrößerte sich die Bevölkerung nicht; insbesondere während der Pestwelle Mitte der 1660er Jahre verlor die Stadt viele Einwohner. 1689 wurde Bonn während des Spanischen Erbfolgekrieges fast vollständig zerstört, sodass es in den folgenden Jahren wieder aufgebaut werden musste.
Aus dem Jahr 1720 liegen Listen der Pfarrmitglieder der drei kleineren Bonner Stadtpfarreien – St. Gangolf, St. Martin innerhalb Bonns und St. Petrus zu Dietkirchen – vor. Der Pfarrer der Bonner Hauptpfarrei St. Remigius, deren Gemeindemitglieder etwa drei Viertel der Stadtbevölkerung innerhalb der Mauern ausmachten, weigerte sich allerdings, eine solche umfangreiche Liste für den Kurfürsten anzufertigen und beschwerte sich stattdessen darüber, dass der Kirchturm der Pfarrkirche seit dem Bombardement von 1689 immer noch nicht wieder aufgebaut sei.
Trotz des Fehlens der Listen der Pfarrmitglieder der Hauptpfarrei ist die Einwohnerzahl recht exakt zu berechnen, weil der Anteil der drei kleineren Pfarreien an der Gesamtbevölkerung durch die Anzahl der Taufen an allen Taufen, die für alle Pfarreien vollständig in den Kirchenbüchern registriert sind, bestimmt werden kann. Die jüdischen und protestantischen Minderheiten waren zahlenmäßig so unbedeutend, dass sie für die Bestimmung der Einwohnerzahlen im 18. Jahrhundert getrost zu vernachlässigen sind. Nach der als ziemlich exakt zu wertenden Schätzung hatte Bonn im Jahr 1720 rund 6.535 Einwohner.
Aus dem Jahr 1732 ist die Zahl der Abendmahlempfänger – also der Einwohner, die die Kommunion empfangen durften – für drei der vier Bonner Pfarreien überliefert. Unter Berücksichtigung der Kinder und der Gemeindemitglieder der fehlenden Pfarrei – in diesem Falle St. Petrus zu Dietkirchen – lebten 1732 etwa 8.015 Menschen innerhalb des Mauergürtels.

Taufregister der Pfarrei St. Gangolf, Bonn, 1702-1751, S. 138-139. (Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn)
Für die Jahre bis zur Volkszählung von 1790 liegen keine weiteren Teilzählungen vor, die zuverlässige Schätzungen zulassen. Die einzige Möglichkeit zur Untersuchung der Bevölkerungsentwicklung besteht darin, die in den Kirchenbüchern registrierten Taufen - alternativ auch die Eheschließungen und Sterbefälle - hochzurechnen und somit die Einwohnerzahl zu bestimmen. Das Verhältnis der Taufen zur Einwohnerzahl betrug 1790 – ebenso im 17. Jahrhundert – circa 1:29. Demnach kam auf 29 Einwohner eine Taufe, oder umgekehrt 29 Einwohner kamen auf eine Taufe. Die nebenstehende Tabelle zeigt die Bevölkerungsgröße Bonns anhand der Hochrechnung der Taufen mit dem Multiplikator 29 in Zehnjahresabständen.
Die Grenzen dieser Methode sind jedoch erreicht, wenn die Zahl der Taufen, beispielsweise aufgrund eines Heiratsbooms, stark zunahm oder in Krisenzeiten zurückging. So lebten nach der recht exakten Schätzung auf der Grundlage der 1720 verzeichneten Pfarrmitglieder etwa 6.535 Menschen in Bonn, fast 3.000 weniger als nach der Hochrechnung der Taufen! Daher liegt die tatsächliche Bevölkerungsgröße in den Jahren des Aufschwungs und Zuwachses unter Clemens August tendenziell höher und in den Jahren zwischen 1770 und 1780 eher niedriger als in der Tabelle dargestellt. Das hängt direkt mit der Altersstruktur und der Zuwanderungsbilanz zusammen, worauf im Einzelnen hier nicht weiter eingegangen werden kann.
Jedenfalls wanderten nach der Zerstörung von 1689 zwischen 1690 und 1750 viele junge Menschen in die Stadt ein, die besonders viele Kinder bekamen. Nach 1761 ging die Zahl der Zuwanderer zurück, während die der Auswanderer zunahm – ebenfalls überwiegend junge Menschen. Darin liegt der Grund, dass die Bevölkerungsgröße nach der Hochrechnung der Taufen in diesen Jahren stark von der tatsächlichen Bevölkerungsgröße abweicht. In den 1750er Jahren wurde jedoch der Höhepunkt der Zuwanderung bereits überschritten, weshalb die Hochrechnung für 1760 niedriger liegt als für 1750, obwohl 1760 sicherlich mehr Menschen in Bonn lebten als 1750.
Auch in einer historisch-topographischen Beschreibung von 1783 werden 11.000 Einwohner für Bonn angegeben, wobei ausdrücklich angemerkt wird, dass in früheren Jahren die Einwohnerzahl höher lag.[5] Diese Quelle belegt somit die anhand der Hochrechnung der Taufen getroffene Annahme, dass die Einwohnerzahl Bonns in den 1750er Jahren mehr als 13.000 Einwohner betrug und damit deutlich höher lag als bisher angenommen.
3. Die Siedlungsentwicklung
Mit der Bevölkerungsentwicklung korrespondierte die Siedlungsentwicklung, die Anlage von neuen Straßen und Häusern: Zwischen etwa 1715 und 1754 wurden in Bonn viele neue Straßen innerhalb des Mauergürtels angelegt, vor allem aber zahlreiche Häuser auf Grundstücken gebaut, die noch im Jahrhundert zuvor als Gemüse- oder Weingärten genutzt worden waren.

Plan der Stadt Bonn, 1773. (Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn)
Im Nordosten der Stadt entstand ein neues Stadtviertel für die ärmere Bevölkerung, während Adelige und reiche Bürger im Gebiet der heutigen Oper und der Berliner-Freiheit aufwendige Stadtpalais bezogen. Die Bögen in den Stadtmauern wurden von der Stadt an die Ärmsten der Armen vermietet, bis Mitte des Jahrhunderts war dort kein Platz mehr frei. Unter Joseph Clemens gab es Pläne für einen neuen Vorort im Süden der Stadt, die jedoch nicht verwirklicht wurden und nach dem Tod von Clemens August in Vergessenheit gerieten.
Somit wandelte sich die noch im 17. Jahrhundert stark landwirtschaftlich geprägte Stadt mit viel Freiraum zu einer dicht bebauten Stadt, in der auch die Zahl von drei- und vierstöckigen Häusern zunahm. Ein Vergleich der Stadtpläne von 1646 und 1773,[6] in denen die einzelnen Häuser abgebildet sind, erlaubt diesen Rückschluss. Auf dem Stadtplan von 1773 ist sogar jedes Haus mit einer Nummer versehen, deren Haushaltsvorstände in einem separaten Verzeichnis registriert sind.
Nach 1754 bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden weder neue Straßen angelegt noch neue Häuser errichtet. Im Jahr 1795, ein Jahr nach der französischen Besetzung und der Flucht des kurkölnischen Hofes, standen sogar mehr als 100 Häuser innerhalb der Stadt leer - fast ein Zehntel der insgesamt etwa 1.125 Häuser. Aufgrund von Vergleichen mit anderen Städten ist außerdem anzunehmen, dass die Einwohnerzahl pro Haus in den 1730er bis 1750er Jahren höher lag als 1790.

Bonn von Nordwesten. Kupferstich von Johann Georg Ringlin nach Friedrich Bernhard Werner, um 1710. (Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn)
Festzuhalten bleibt, dass der enorme Bevölkerungszuwachs zwischen 1689 und 1761, dem Todesjahr Clemens Augusts, eng mit der Entwicklung Bonns zu einer glanzvollen und bedeutenden Barockresidenz zusammenhing. Das war keine singuläre Entwicklung, sondern durchaus typisch für die mehr als 300 deutschen Residenzstädte im 18. Jahrhundert. Doch warum nahm die Bevölkerung zwischen circa 1761 und 1780 um rund ein Drittel ab? Bisher wurde angenommen, dass die Bevölkerung Bonns – ähnlich wie die anderer Residenzstädte – kontinuierlich im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunahm. Gab es eine Auswanderungswelle? Verließen Scharen von Hofangehörigen und Adeligen die Stadt? Diese Fragen gilt es zu beantworten.
4. Die Regierungswechsel 1761 und 1784 und ihre Folgen
Das glanzvolle barocke Hofleben unter den beiden Kurfürsten Joseph Clemens und Clemens August aus dem Hause Wittelsbach wurde ganz erheblich durch die Aufnahme von Schulden und Geldzahlungen von Großmächten, vor allem Frankreichs, finanziert. Daher entsprachen weder die Bautätigkeit dieser Kurfürsten noch der Umfang ihres Hofstaates ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten. Es verwundert daher nicht, dass Clemens August bei seinem Tod einen großen Schuldenberg hinterließ. Auch die Stadt Bonn war stark verschuldet, nicht zuletzt, weil sie zu Verschönerungsarbeiten – wie das Pflastern der Straßen und das Errichten von Laternen – von Clemens August geradezu genötigt worden war.
Übersicht über die Geburten, Heiraten und Sterbefälle 1718-1797.
Mit dem Regierungsantritt von Kurfürst Max Friedrich 1761 sollte sich diese Politik grundlegend ändern. Er überließ die Regierungsgeschäfte weitgehend seinem Premierminister Kaspar Anton von Belderbusch, dem es unter anderem binnen vergleichsweise kurzer Zeit gelang, durch eine äußerst restriktive Handhabung des Finanzgebarens den Haushalt des Kurstaates zu sanieren. Belderbusch war gleichzeitig Polizeimeister der Stadt Bonn und versuchte auch deren Haushalt zu sanieren. Das verordnete eiserne Sparen führte dazu, dass sogar große Teile des Nachlasses von Clemens August versteigert wurden, vor allem aber wurden der Hofstaat verkleinert, die Bautätigkeit gedrosselt, Ehrengehälter gekürzt und an vielen anderen Stellen gespart. Das ging so weit, dass die Bonner Bevölkerung sich die Zeiten unter Clemens August herbeisehnte, wie es ein zeitgenössischer Vers ausdrückt: Bei Clemens August trug man blau und weiß, Da lebte man wie im Paradeis. Bei Max Friedrich trug man schwarz und roth, Da litt man Hunger wie die schwere Noth.[7]
Der Hofstaat und die Zentralbehörden - die Regierungsorgane des Kurfürstentums - umfassten unter Clemens August nach dem Hofkalender von 1759 1.226 Personen, während es 1762 unter dem Nachfolger Max Franz nur noch 627 waren. Diese Zahlen sind jedoch richtig zu lesen, denn die zu Zeiten von Clemens August aufgeführten Personen waren nicht alle am Hof und damit in Bonn tätig, ein Großteil waren lediglich adelige Träger von Titularämtern, die weder ein Gehalt bezogen noch in Bonn tatsächlich ein Amt ausübten. Unter Max Friedrich nahm deren Zahl rapide ab, waren solche Titularämter doch vor allem an die Person des Fürsten gebunden.
Der tatsächliche Rückgang an in Bonn lebenden Hofbediensteten lag zwischen 200 und 300 Personen. Im Wesentlichen wurde in drei Bereichen Personal abgebaut: bei der militärisch unbedeutenden Leibgarde, der Reitschule und im Jagd-Amt. Andere Ämter – so hießen die Stellen am Hof – wurden unter der Federführung des energischen und sparsamen Ministers Belderbusch jedoch ausgebaut. So wurden beispielsweise zahlreiche Zollbeamte eingestellt, damit mehr Staatseinnahmen eingetrieben werden konnten. Auch wurden im Hofrat – neben der Hofkammer das zentrale Regierungsorgan – zunehmend juristisch ausgebildete Beamte aus dem Bürgertum beschäftigt. Dies diente insgesamt der Professionalisierung von Regierung und Verwaltung – durchaus typisch für aufgeklärte Staaten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Median des Heiratsalters.
Die Verkleinerung und Professionalisierung des Hofstaates und der Zentralbehörden kann also nicht direkt ursächlich für den enormen Bevölkerungsrückgang der 1760er/1770er Jahre gewesen sein, selbst nicht unter der Annahme, dass 200 bis 300 Hofangestellte samt Familien ausgewandert sind. Eine Untersuchung von zwei Steuerlisten für den Beitrag der Bonner Bürger zur Unterhaltung der in der Stadt befindlichen kurkölnischen Kasernen liefert ein erstaunliches Ergebnis: Die Zahl der Steuerzahler aus dem Bürgertum, das hauptsächlich aus Handwerkern, Händlern und Angehörigen freier Berufe – etwa Gastwirte, Anwälte, Apotheker – bestand, nahm zwischen 1763 und 1777 um 13,5 Prozent ab. Die Zahl der Taufen insgesamt ging im gleichen Zeitraum um 16,6 Prozent zurück. Dies bedeutet, dass der Bevölkerungsrückgang vor allem auf den Rückgang der bürgerlichen Stadtbewohner und eben nicht der Hofangehörigen, die nicht zum Bürgertum gehörten, zurückgeführt werden muss!
Sicherlich waren für den Bevölkerungsrückgang unter der bürgerlichen Einwohnerschaft ebenfalls wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend. Die adeligen Abnehmer von Luxuswaren, die überwiegend außerhalb Bonns auf ihren Landsitzen lebten, kamen seltener und weniger zahlreich in die Stadt. Außerdem wurden die Arbeiten an den Schlössern in der Stadt und im Umland fast vollständig eingestellt. Unter Clemens August waren in den 1740er/1750er Jahren bis zu 1.500 Handwerker und Arbeiter an den Bonner Schlössern und am nicht fertiggestellten Jagdschloss Herzogsfreude in Röttgen vor den Toren Bonns beschäftigt. Darunter befanden sich vor allem Bonner Handwerker, wie aus den Hofbaurechnungen hervorgeht.
Jährliche Kindersterblichkeit in Absolutzahlen und in % der jährlichen Gesamtsterblichkeit.
Unter Max Friedrichs Nachfolger, Kurfürst Max Franz, wurde diese wirtschaftliche und kulturelle Abwärtsbewegung gestoppt. So wurden das Theater und die Hofkapelle wieder massiv gefördert, sodass sie in den 1780er Jahren zu den besten ihrer Art im Reich zählten. Auch die Feierlichkeiten am Hof, etwa zu Karneval, wurden wieder pompöser und lockten Adelige aus ganz Europa nach Bonn. Bereits 1780 feierten anlässlich der Ernennung von Max Franz zum Koadjutor mehr als 2.000 Menschen im Bonner Schloss.
Die 1786 offiziell eingeweihte Universität trug ebenfalls zum neuerlichen Aufschwung der Residenzstadt bei. Deren direkter Vorläufer, die Maxische Akademie, wurde bereits 1774 gegründet. An der Universität lehrten im ganzen Reich berühmte Professoren. Schon bald nach ihrer Gründung studierten mehr als 250 junge Männer in der Residenzstadt. Außerdem wurde ebenfalls 1786 das kurkölnische Oberappellationsgericht in Bonn angesiedelt, an dem zahlreiche Advokaten tätig waren. Nicht zuletzt dank dieser Einrichtungen nahm die Einwohnerzahl Bonns seit den 1780er Jahren wieder zu. Diese Entwicklung wurde aber mit der Okkupation durch die Franzosen und der Herabstufung Bonns zu einer unbedeutenden Provinzialstadt im 1798 neu gegründeten Departement Rhine-et-Moselle jäh unterbrochen.
5. Die Komponenten der Bevölkerungsentwicklung
Um diese für Residenzstädte im 18. Jahrhundert untypische Bevölkerungsentwicklung zu erklären, sind die demographischen Parameter Fruchtbarkeit, Sterblichkeit und Migration zu untersuchen.
Fruchtbarkeit
Heute bringt in Deutschland eine Frau durchschnittlich 1,3 Kinder zur Welt. Wie viele Kinder eine Frau im 18. Jahrhundert in Bonn durchschnittlich bekam, ist für die Gesamtpopulation nicht ermittelbar. Es gibt dennoch mehrere Wege, um für repräsentative Stichproben die Anzahl der Kinder mithilfe der Angaben in den Kirchenbüchern zu bestimmen. Im Folgenden wird eine Methode vorgestellt, die es erlaubt, relativ große Stichproben zu berücksichtigen. Auf die Anzahl der Kinder kann zwar nur mittelbar geschlossen werden, aber es geht auch nur darum, Veränderungen der Fruchtbarkeit aufzuzeigen. Hierzu werden zunächst einige Annahmen getroffen, die als Grundlage für die Methode dienen.
In der Regel wurden Kinder in der Frühen Neuzeit nur innerhalb einer Ehe gezeugt, weshalb die Zahl der Heiraten und die Zahl der Kinder pro Ehe maßgeblich die Fruchtbarkeit bestimmten. Dies gilt zumindest, solange die Zahl der außerhalb der Ehe geborenen Kinder niedrig und die Zahl der dauerhaft Ledigen konstant blieb. Beides ist für Bonn im 18. Jahrhundert zu bejahen: Die Quote der außerhalb einer Ehe Geborenen bewegte sich bei circa 2 Prozent und nahm erst in den 1790er Jahren signifikant zu. Der Anteil der dauerhaft ledigen Frauen lag 1720 und 1790 bei etwa 16 Prozent. In katholischen Regionen wurden im 18. Jahrhundert keine Verhütungspraktiken angewandt, weshalb gilt: In einer Ehe wurden so viele Kinder geboren, wie es möglich war.
Aus diesen Annahmen folgt, dass das Heiratsalter maßgeblich die Zahl der Kinder und damit die Fruchtbarkeit bestimmte. Mit der Untersuchung soll die Hypothese überprüft werden, dass das Heiratsalter nach dem Regierungswechsel 1761 aufgrund der schlechteren wirtschaftlichen Lage zunahm. Hierzu wurden alle Heiraten in den Kirchenbüchern zwischen 1731 und 1740, 1761 und 1770 sowie zwischen 1781 und 1790 mit den Taufregistern verglichen, um das Alter der Ehefrauen beziehungsweise Ehemänner bei der Erstheirat zu bestimmen. Insgesamt konnten auf diese Weise mehrere hundert Altersangaben Eheschließenden zugeordnet werden. Für demographische Fragen ist allerdings lediglich das Heiratsalter der Frauen relevant.
Die Untersuchung bringt folgendes Ergebnis: Das Heiratsalter der Frauen nahm von 22,17 Jahren im Durchschnitt zwischen 1731 und 1740 über 25,73 Jahren in den 1750er Jahren auf 27,54 Jahren in den 1780er Jahren zu! Dies bedeutet, dass eine Frau bei der Eheschließung in den 1780er Jahren in etwa fünf Jahre älter war als noch in den 1730er Jahren! Da in etwa alle zwei Jahre ein Kind innerhalb einer Ehe geboren wurde, die Zwanziger zudem die fruchtbarsten Jahre einer Frau sind, wurden in den 1780er Jahren etwa zwei Kinder pro Ehe weniger geboren als noch in den 1730er Jahren. Aufgrund von Vergleichen mit anderen katholischen Städten kann davon ausgegangen werden, dass eine 22 Jahre alte Braut in ihrem Leben etwa acht Kinder gebar, eine 27-jährige Braut demnach nur etwa sechs. Ein Heiratsalter von 27 Jahren war aber keineswegs ungewöhnlich hoch für eine katholische Frau im 18. Jahrhundert, es entsprach in etwa dem Durchschnitt im deutschsprachigen Raum, ein Heiratsalter von 22 Jahren war vielmehr sehr niedrig!
Dies bestätigt die ausgesprochen guten wirtschaftlichen Möglichkeiten unter den Wittelsbacher Kurfürsten, denn die Eheschließung war in der Regel an eine feste Stelle gebunden. Somit kann festgestellt werden, dass der Bevölkerungsrückgang zumindest von einem Rückgang der Fruchtbarkeit begleitet, möglicherweise auch verursacht wurde. Jedoch müssen die Sterblichkeit und die Migration untersucht werden, bevor die Komponenten gewichtet werden können.
Entwicklung der Säuglingssterblichkeit.
Sterblichkeit
Ein Bevölkerungsrückgang kann auch durch eine höhere Sterblichkeit verursacht werden. Das geeignete Maß, um eine Veränderung der Sterblichkeit insgesamt zu messen, ist die Sterblichkeitsrate – der Anteil der Verstorbenen pro 1.000 Einwohner. Diese lag in Bonn im Jahr 1790 bei 30 ‰ und im Jahr 1720 bei 31 ‰, legt man die Bevölkerungsschätzung von 1720 zugrunde. Demnach blieb das Niveau der Sterblichkeit konstant hoch. Da diese beiden Momentaufnahmen nicht repräsentativ für das gesamte Jahrhundert sein müssen, soll die Sterblichkeit differenzierter betrachtet werden. Gefragt wird, ob sich die Sterblichkeit oder einzelne Komponenten der Sterblichkeit im Verlauf des 18. Jahrhunderts signifikant verändert haben. Hierzu werden die Lebenserwartung, Sterblichkeitskrisen und die Säuglingssterblichkeit näher untersucht.
Die Lebenserwartung ist neben der Altersstruktur der Bevölkerung entscheidend für die Höhe der Sterblichkeitsrate. Leider können aufgrund fehlender Altersangaben der Verstorbenen in den Sterberegistern vor 1784 keine direkten Aussagen zur Lebenserwartung getroffen werden. Damit ist auch eine Untersuchung der Entwicklung der Lebenserwartung im Verlauf des 18. Jahrhunderts nicht möglich, beziehungsweise unter Heranziehung moderner demographischer Methoden sehr erschwert.
Anhand der Angaben zum Alter der Verstorbenen in den „Bönnischen Intelligenzblättern“ kann die Lebenserwartung seit 1772 für eine repräsentative Anzahl bestimmt werden. Demnach lag die Lebenserwartung bei Geburt zwar unter 30 Jahre, aber ein 25-jähriger Mann konnte damit rechnen, durchschnittlich 58,5 Jahre alt zu werden. Aufgrund der hohen Kindbettsterblichkeit lag die Lebenserwartung der Frauen im Gegensatz zu heute niedriger als die der Männer: Eine 25-jährige Frau wurde durchschnittlich 57,7 Jahre alt.[8]
Die Sterblichkeit konnte durch die Medizin kaum beeinflusst werden. Die Ärzte standen den meisten Krankheiten, vor allem den Infektionskrankheiten, machtlos gegenüber. Daher wurden Sterblichkeitskrisen – Jahre mit einer extrem erhöhten Sterblichkeit – im Verlauf des 18. Jahrhunderts häufig durch Infektionskrankheiten verursacht. Der Hungertod blieb bis auf die Zeit der Revolutionskriege in den 1790er Jahren und die große europäische Erntekrise 1770-1772 eine absolute Ausnahme.
Viele Tote forderten die drei das 18. Jahrhundert in Westeuropa bestimmenden Infektionskrankheiten: die Pocken, das Fleckfieber und die Ruhr, eine Infektionskrankheit des Verdauungstraktes, die vorzugsweise im Spätsommer auftrat. Zwar verliefen die Pockenepidemien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts glimpflicher als in der ersten, aber die Häufigkeit von Fleckfieber und Ruhr-Epidemien nahm in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts deutlich zu. Zum einen lag dies an den vermehrten Truppendurchzügen im Siebenjährigen Krieg und während der Revolutionskriege, die die Ausbreitung der Kleiderlaus – dem Überträger des Fleckfiebers – begünstigte, zum anderen an den schlechteren wirtschaftlichen Bedingungen im letzten Drittel des Jahrhunderts, denn die Ruhr breitete sich besonders gut unter schlechten hygienischen Bedingungen und in Hungerjahren aus. Insgesamt dürften sich die Auswirkungen der drei Infektionskrankheiten auf die Sterblichkeit im Verlauf des 18. Jahrhunderts ungefähr die Waage gehalten haben.
Bis ins 20. Jahrhundert hinein starben in Deutschland viele Lebendgeborene innerhalb des ersten Jahres. Auch Kleinkinder wiesen eine deutlich höhere Sterblichkeit auf als heute. Demnach hat die Säuglings- und Kindersterblichkeit eine große Bedeutung. Unterschiede in der Sterblichkeit bestanden in der Frühen Neuzeit besonders in der Säuglingssterblichkeit, da die der Erwachsenen und Kinder – mit Ausnahme von Kriegen und Hungersnöten – weniger stark durch den Menschen beeinflusst werden konnte. Daher stellt sich die Frage, ob sich die Höhe der Säuglingssterblichkeit im Verlauf des 18. Jahrhunderts in Bonn veränderte.
Die hohe Säuglingssterblichkeit war auch ein beliebtes Thema der aufgeklärten Bonner Intellektuellen in den 1780er Jahren, unter denen sich viele Ärzte befanden. Sie bemängelten den Umgang der Mütter mit ihren Säuglingen und publizierten in Bonner Zeitungen zahlreiche Artikel mit Tipps für die Ernährung und Pflege. Darunter waren überwiegend medizinisch sinnvolle Ratschläge, zum Beispiel Säuglingen keinen Branntwein zu verabreichen – eine offensichtlich gängige Praxis, um Babies ruhig zustellen. Insbesondere forderten die Ärzte die Mütter auf, die Babies solange wie möglich, mindestens jedoch ein Jahr lang, zu stillen. Dies erhöhte die Überlebenschancen ganz enorm, schließlich wurde die Ersatznahrung häufig für mehrere Tage im Voraus hergestellt. Da es keine Kühlmöglichkeiten gab, war die Nahrung insbesondere im Sommer mit Keimen durchsetzt, was zu einer deutlich erhöhten Sterblichkeit führte. Gleichzeitig wurde seit Mitte des 18. Jahrhundert die Hebammen-Ausbildung kontinuierlich professionalisiert.
Fraglich ist, ob diese Maßnahmen und Ratschläge zum gewünschten Erfolg führten und die Säuglingssterblichkeit im Verlauf des 18. Jahrhunderts abnahm. Mithilfe der Kirchenbücher wurden die Sterbefälle der Bonner Hauptpfarrei St. Remigius mit den Taufeinträgen abgeglichen, um den Anteil der innerhalb des ersten Lebensjahres verstorbenen Säuglinge zu bestimmen, und zwar anhand der vier Dekaden – 1730-1739, 1750-1759, 1760-1769 und 1780-1789.
Danach zeigt sich: Die Säuglingssterberate – der Anteil der im ersten Lebensjahr verstorbenen Säuglingen pro 1.000 Lebendgeburten – lag in den 1730er mit 174,9 ‰ niedriger als in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, als die Rate bis auf 241,2 ‰ anstieg. Zwar nahm die Säuglingssterberate zwischen 1750 und 1789 kontinuierlich ab, aber das niedrige Niveau der 1730er Jahre erreichte sie nicht mehr. Es ist also festzustellen, dass die Säuglingssterblichkeit nicht signifikant durch die Maßnahmen der Regierung und die Ratschläge der aufgeklärten Ärzte beeinflusst wurde und über das gesamte Jahrhundert hinweg relativ konstant blieb: Innerhalb des ersten Lebensjahres starb in etwa jedes fünfte lebendgeborene Baby - im Vergleich zu anderen Regionen und Städten war dies eine durchaus gute Quote!
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Sterblichkeit zwar starken Schwankungen unterlag, gerade im Hinblick auf Krisenjahre, aber auf lange Sicht relativ konstant auf einem hohen Niveau blieb: Etwa jedes vierte bis fünfte Neugeborene starb vor Erreichen des ersten Lebensjahres und etwa jeder zweite vor seinem 14. Lebensjahr. Hatte ein Bonner die Kindheit jedoch überstanden, konnte er damit rechnen, 55-60 Jahre alt zu werden. Die Brüche in der Entwicklung der Bevölkerungsgröße im Verlauf des 18. Jahrhunderts können jedenfalls nicht auf eine veränderte Sterblichkeit zurückgeführt werden.
Migration
Neben der Fruchtbarkeit und der Sterblichkeit beeinflussen Zu- und Abwanderungen die Entwicklung der Bevölkerungsgröße. Leider liegen für eine systematische Auswertung der Auswanderung in kaum einer Stadt geeignete Quellen aus der Frühen Neuzeit vor, weshalb nur indirekt auf die Auswanderung geschlossen werden kann. Der Vergleich der Steuerlisten von 1763 und 1777 hat etwa gezeigt, dass die Zahl der bürgerlichen Steuerzahler um 13,5 Prozent zurückging – ein deutliches Indiz für Auswanderung breiter Personengruppen, da sich der Kreis der Steuerzahler und die Kriterien für die Steuererhebung nicht verändert hatten. Auf die Verkleinerung des Hofes wurde bereits hingewiesen, sodass eine größere Auswanderungswelle zwischen 1761 und 1777 unstrittig ist. Nach der Flucht des Kurfürsten 1794 und der französischen Besetzung verließen ebenfalls viele Bonner ihre Heimat.
Die Höhe der Zuwanderung kann exakter bestimmt werden, weil neue Bürger in den Ratsprotokollen und den Stadtrechnungen registriert wurden. Sie mussten den Bürgereid ablegen und das Bürgergeld entrichten, dessen Höhe stark variierte und daher Auskünfte über den sozialen Status des Neubürgers zulässt. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass nur ein kleiner Teil der Einwohnerschaft Bonns das Bürgerrecht genoss. Sowohl Hofbedienstete und Adelige als auch unterbürgerliche Schichten – darunter etwa Knechte und Mägde sowie Tagelöhner – waren keine Bürger. Registriert wurden in der Regel außerdem nur Männer, weder Frauen noch Kinder. Dennoch ermöglicht die Auswertung der Neubürgeraufnahmen einen guten Überblick über die Veränderungen der Zuwanderung im Verlauf des 18. Jahrhunderts.
Die Söhne von Bürgern mussten ebenfalls eigens das Bürgerrecht erwerben. Das Verhältnis der Anzahl der Bürgersöhne zu den Zuwanderern unter den Neubürgern gibt Aufschluss über die Höhe der Zuwanderung in Relation zur Einwohnerzahl einer Stadt. Der Anteil der Zuwanderer unter den Neubürgern lag nach der Rückkehr Joseph Clemens‘ 1715 aus seinem französischen Exil bis zum Tode Clemens Augusts 1761 auf einem hohen Niveau, relativ betrachtet sogar höher als in den meisten anderen prosperierenden Residenzstädten. Nur in Berlin und Karlsruhe lag das Verhältnis von auswärtigen Neubürgern zu Bürgersöhnen so hoch wie in Bonn. Dies alleine ist schon ein deutlicher Beleg für die besondere Attraktivität Bonns zuzeiten der letzten beiden Wittelsbacher Kurfürsten.
Die Anzahl der auswärtigen Neubürger insgesamt nahm zwischen den gleich langen Zeiträumen 1726-1753 und 1766-1793 von 1.016 auf 734 ab. Zwar stammte die Mehrzahl der Zuwanderer aus einem Ort im Umkreis von 25 Kilometern von Bonn, aber erstaunlicherweise kamen auch unter den beiden letzten Kurfürsten Max Franz und Max Friedrich viele Zuwanderer aus weit entfernten Regionen nach Bonn. Selbst aus Italien und Frankreich zogen es nach wie vor viele Menschen in die kurkölnische Residenzstadt. Lediglich die Zuwanderung aus Bayern brach vollständig zusammen. Außerdem kamen auch deutlich weniger Zuwanderer aus der benachbarten Reichsstadt Köln.
Die Berufe der auswärtigen Neubürger sind ebenfalls aufschlussreich für die Beurteilung der Popularität und wirtschaftlichen Lage der Stadt. So waren etwa die meisten der niederländischen Zuwanderer als Tuchhändler tätig. Sie verkauften überwiegend feine Tuche, deren Absatz nach dem Regierungswechsel 1761 stark einbrach. Daher wanderten nach 1761 kaum noch niederländische Händler nach Bonn ein. Gleiches gilt für italienische Kaufleute, die als Motor des Bonner Handels im 18. Jahrhundert angesehen werden.
Insgesamt waren die meisten auswärtigen Neubürger als Handwerker tätig. Sie stammten in der Regel aus dem unmittelbaren Umland Bonns, mit einigen Ausnahmen: So wanderten beispielsweise viele Zinngießer aus Oberitalien in Bonn ein. Offensichtlich genossen sie über die Landesgrenzen hinaus einen guten Ruf. Handwerker aus dem Baugewerbe fanden sich verständlicherweise besonders häufig unter den fremden Neubürgern, als die Stadt in den ersten Jahren nach der Katastrophe von 1689 wieder aufgebaut werden musste.
Es gab jedoch auch Berufsgruppen, die erst unter Max Friedrich und vor allem unter Max Franz häufiger unter den Einwanderern vertreten waren. Verwiesen sei nur auf die Perückenmacher, die vor allem zwischen 1776 und 1784 einwanderten. Offensichtlich konnte diese französische Mode erst in jenen Jahren in Bonn Fuß fassen, als sie in anderen Regionen schon außer Mode geraten war.
Das rasante Bevölkerungswachstum bis 1761 ist im Wesentlichen auf Zuwanderung zurückzuführen. Anders wäre der enorme Bevölkerungszuwachs zwischen 1689 und 1761 nicht möglich gewesen. Doch erstaunlicherweise zogen auch noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – trotz der Auswanderungswelle in den 1760er Jahren – viele Menschen nach Bonn. Daher kann der Bevölkerungsrückgang in den 1760er und 1770er Jahren nicht alleine auf ein negatives Wanderungssaldo zurückgeführt werden.
6. Fazit
Im Gegensatz zu allen anderen Residenzstädten im 18. Jahrhundert im Reich nahm in Bonn die Einwohnerzahl nach dem Regierungswechsel von Clemens August zu seinem Nachfolger stark ab, obwohl keine Verlegung der Residenz oder Ähnliches erfolgt war. Dennoch können die Verkleinerung der Residenz und die strikten Sparmaßnahmen der Regierung unter Max Friedrich als ursächlich für den massiven Bevölkerungsrückgang in den 1760er und 1770er Jahren angesehen werden. Unter seinem Nachfolger Max Franz nahm die Einwohnerzahl Bonns zwischen 1784 und 1794 zwar wieder zu, konnte aber den Höchststand von etwa 13.000 Einwohnern in den 1750er Jahren nicht einmal annähernd wieder erreichen.
Die Analyse der demographischen Parameter Fruchtbarkeit, Sterblichkeit und Migration ergibt ein komplexes Bild der Bevölkerungsentwicklung Bonns im 18. Jahrhundert. Es war nicht alleine eine negative Wanderungsbilanz für den Bevölkerungsrückgang verantwortlich, sondern auch eine deutlich niedrigere Fruchtbarkeit. Diese ergibt sich aus dem um etwa drei bis vier Jahre höheren Heiratsalter der Frauen, weshalb in den 1760er und 1780er Jahren etwa ein bis zwei Kinder pro verheiratete Frau weniger auf die Welt kamen als noch in den 1730er Jahren. Zwar kann der Fruchtbarkeitsrückgang nicht exakt quantifiziert werden, aber die Auswirkungen auf die Bevölkerungszahl dürften groß gewesen sein und sich bis ins 19. Jahrhundert hinein ausgewirkt haben: Bonns Einwohnerzahl erreichte erst nach 1818 wieder den Stand von 1760.
Das deutlich höhere Heiratsalter der Frauen im letzten Drittel des Jahrhunderts war der schlechteren wirtschaftlichen Lage geschuldet. Durch die Verkleinerungen des Hofes waren viele Bedienstete fortgezogen. Außerdem fielen viele der pompösen barocken Feierlichkeiten und Zusammenkünfte, an denen viele Adelige aus dem gesamten Reich, ja sogar aus Europa teilgenommen hatten, fort. Die Adeligen stellten die Hauptabnehmer von Luxusgütern, weshalb Handel und Handwerk nach 1761 starke Einbußen erlitten und mehr als ein Zehntel der Bürger die Stadt verließ. Das erschwerte es jungen Bonnern – aber auch Zuwanderern –, eine Stelle im Handwerk oder im Handel zu erhalten. Das verzögerte wiederum die Eheschließung, die in der Regel an eine Stelle gebunden war. Der Anteil der Unverheirateten, der für die 1760er und 1770er Jahre wegen fehlender Bestandslisten leider nicht bestimmt werden kann, war vermutlich auch höher als noch in den 1730er Jahren oder auch 1790.
Am Beispiel Bonns, einer kleinen, aber durchaus bedeutenden geistlichen Residenzstadt im Reich, zeigt sich exemplarisch die Bedeutung der wirtschaftlichen Lage einer Stadt für die Bevölkerungsentwicklung: Bevölkerungswachstum war an wirtschaftliche Ressourcen gekoppelt, die in einer Residenzstadt aufs engste mit der Entwicklung des Hofes verbunden waren.
Quellen
Ungedruckte Quellen
Die Zustandslisten der Bevölkerung und die Kirchenbücher befinden sich bis auf wenige Ausnahmen im Stadtarchiv Bonn, Sonderbestand 20: Kirchenbücher (KB): Dietkirchen (1/11), St. Gangolf (2/13 - 2/19), St. Remigius (4/30 – 4/41, 5/5 – 5/6) und Ku 34/2, Tabellen zum Bevölkerungszustand 1790.
Gedruckte Quellen
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Literatur
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Gehrmann, Rolf/Sokoll, Thomas, Historische Demographie und quantitative Methoden, in: Maurer, Michael (Hg.), Aufriss der Historischen Wissenschaften, Band 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003.
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Bonner Marktplatz mit Rathaus und Fontaine. Kolorierter Kupferstich als (seitenverkehrtes) Guckkastenbild von Balthasar Friedrich Leizel nach Franz Rousseau, nach 1777. (Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn)
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- 2: Ennen, kurkölnische Haupt- und Residenzstadt.
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- 4: Schlöder, Bonn im 18. Jahrhundert.
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- 7: Braubach, Die vier letzten Kurfürsten, S. 42.
- 8: Herborn, Die altersspezifische Sterblichkeit, S. 199-205.
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Schlöder, Christian, Die Bevölkerungsentwicklung Bonns im 18. Jahrhundert, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/die-bevoelkerungsentwicklung-bonns-im-18.-jahrhundert/DE-2086/lido/57d12389ba9361.35947824 (abgerufen am 13.02.2025)
Veröffentlicht am 08.09.2016, zuletzt geändert am 15.04.2020