Die Entnazifizierung im nördlichen Rheinland

Anselm Faust (Ratingen)

Urteil des Spruchgerichts Bielefeld, April 1948, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

1. Einleitung

Ge­gen En­de des Zwei­ten Welt­krie­ges hat­ten sich die Al­li­ier­ten dar­auf ver­stän­digt, Deutsch­land nicht nur mi­li­tä­risch zu ent­mach­ten und die NS­DAP und ih­re Glie­de­run­gen auf­zu­lö­sen; dar­über hin­aus soll­te jeg­li­cher na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ein­fluss aus dem po­li­ti­schen, kul­tu­rel­len, ge­sell­schaft­li­chen und wirt­schaft­li­chen Le­ben aus­ge­schal­tet wer­den. Zu ei­nem ein­heit­li­chen Vor­ge­hen kam es je­doch nicht, ob­gleich der Al­li­ier­te Kon­troll­rat im Ja­nu­ar 1946 mit der Ver­ord­nung Nr. 24 be­tref­fend "Ent­fer­nung von Na­tio­nal­so­zia­lis­ten und Per­so­nen, die den Zie­len der Al­li­ier­ten feind­se­lig ge­gen­über­ste­hen, aus Äm­tern und ver­ant­wort­li­chen Stel­lun­gen" ge­mein­sa­me Rah­men­richt­li­ni­en ver­öf­fent­lich­te. Al­ler­dings nahm die Ent­na­zi­fi­zie­rung in al­len Be­sat­zungs­zo­nen die glei­che ei­gen­tüm­li­che Mit­tel­stel­lung zwi­schen Straf­ver­fol­gung, po­li­ti­scher Säu­be­rung und ideo­lo­gi­scher Um­er­zie­hung ein, von de­nen sie je­weils ein­zel­ne Ele­men­te in sich ver­ein­te, in­dem ge­gen welt­an­schau­li­che Über­zeu­gun­gen und po­li­tisch mo­ti­vier­te Hand­lungs­wei­sen recht­li­che und ma­te­ri­el­le Sank­tio­nen ver­hängt wur­den, die aber durch po­li­ti­sches und ge­sell­schaft­li­ches Wohl­ver­hal­ten ab­ge­mil­dert wer­den konn­ten.

 

Bei der Fest­le­gung der Be­sat­zungs­zo­nen im Som­mer 1945 wur­de der nörd­li­che Teil der Rhein­pro­vinz als „Nord-Rhein­pro­vin­z“ mit den Re­gie­rungs­be­zir­ken Düs­sel­dorf, Aa­chen und Köln der bri­ti­schen Zo­ne zu­ge­ord­net, wäh­rend der süd­li­che Teil als „Mit­tel­rhein-Saar“ an die fran­zö­si­sche Zo­ne ging. Dem­nach be­stimm­ten die Bri­ten in den drei nörd­li­chen Re­gie­rungs­be­zir­ken Grund­sät­ze und Or­ga­ni­sa­ti­on der Ent­na­zi­fi­zie­rung, wor­an sich fak­tisch we­nig än­der­te, als im Som­mer 1946 die Be­zir­ke Ver­wal­tungs­ein­hei­ten der mitt­le­ren Ebe­ne des neu­en Lan­des Nord­rhein-West­fa­len wur­den und En­de 1947 die Bri­ten die wei­te­re Durch­füh­rung der Ent­na­zi­fi­zie­rung weit­ge­hend in deut­sche Hän­de leg­ten.

2. Die Phasen der Entnazifizierung

Pha­se 1: Im nörd­li­chen Rhein­land ga­ben die Be­sat­zungs­mäch­te - zu­nächst die Ame­ri­ka­ner, bis sie im Ju­ni 1945 von den Bri­ten ab­ge­löst wur­den - schon bald ers­te Fra­ge­bo­gen aus, doch ent­wi­ckel­te sich (ne­ben "wil­den" Säu­be­run­gen al­li­ier­ter und deut­scher Stel­len) erst all­mäh­lich ein ge­ord­ne­tes Über­prü­fungs­ver­fah­ren, in dem die lo­ka­len und re­gio­na­len Mi­li­tär­be­hör­den mit Un­ter­stüt­zung ver­schie­de­ner deut­scher Stel­len, Ko­mi­tees, An­ti­fa-Aus­schüs­se und Be­triebs­rä­te, die nicht sel­ten auch selb­stän­dig vor­gin­gen, über die Trag­bar­keit des Per­so­nals be­stimm­ter Be­ru­fe, Äm­ter oder Dienst­stel­len ent­schie­den. Noch fehl­te ei­ne ein­heit­li­che Li­nie, so dass man in je­der Stadt und in je­dem Kreis an­ders vor­ging. Hier­zu trug auch das Ver­hal­ten der drei Re­gie­rungs­prä­si­den­ten bei, die – wie das Bei­spiel des zu­pa­cken­den Arns­ber­ger Re­gie­rungs­prä­si­den­ten Fritz Fries (1887-1967), der schon im Mai 1945 die so­for­ti­ge Ent­las­sung der „Al­ten Kämp­fer“ aus dem öf­fent­li­chen Dienst an­ord­ne­te,  zeigt – ei­ne trei­ben­de Rol­le hät­ten spie­len kön­nen. Doch schei­nen sie sich zu­rück­ge­hal­ten zu ha­ben; al­lein der Aa­che­ner Prä­si­dent for­cier­te we­nigs­tens die Be­rei­ni­gung der Ver­wal­tung.

Pha­se 2: An­fang 1946 er­gin­gen dann ver­ein­heit­li­chen­de Richt­li­ni­en der bri­ti­schen Mi­li­tär­re­gie­rung. Ge­mäß ih­rem Prin­zip, sich bei um­fas­sen­der Kon­trol­le auf ei­ne in­di­rek­te Herr­schaft zu be­schrän­ken, wur­den im Früh­jahr des Jah­res die Deut­schen auch for­mal an der Ar­beit und der Ver­ant­wor­tung für die Ent­na­zi­fi­zie­rung be­tei­ligt. In al­len Stadt- und Land­krei­sen wur­den deut­sche Ent­na­zi­fi­zie­rungs­aus­schüs­se ein­ge­rich­tet, die sich in ei­nen Haupt- und ei­nen Be­ru­fungs­aus­schuss glie­der­ten. Ih­re von den Stadt- be­zie­hungs­wei­se Kreis­ver­tre­tun­gen ent­sand­ten Mit­glie­der soll­ten die wich­tigs­ten ge­sell­schaft­li­chen und po­li­ti­schen Rich­tun­gen ver­tre­ten; in der Pra­xis wur­den sie vor al­lem von den Par­tei­en und Ge­werk­schaf­ten ent­sandt. Aus­schüs­se bei den Re­gie­rungs­prä­si­den­ten wa­ren für über­ört­li­che Ver­fah­ren zu­stän­dig. Die Kir­chen und die Hoch­schu­len konn­ten ei­ge­ne Aus­schüs­se durch­setz­ten, und für den Berg­bau gab es Son­der­aus­schüs­se. So ent­stan­den im Re­gie­rungs­be­zirk Aa­chen acht, im Be­zirk Düs­sel­dorf 22 und in Köln zehn Stadt- oder Kreis­aus­schüs­se, so­wie je­weils die Re­gie­rungs­be­zirks­aus­schüs­se.

Urteil des Spruchgerichts Bielefeld vom April 1948, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

Die Be­fug­nis­se der deut­schen Aus­schüs­se be­schränk­ten sich zu­nächst auf die For­mu­lie­rung von Emp­feh­lun­gen für die Mi­li­tär­re­gie­rung. De­ren Ent­schei­dun­gen kann­ten an­fangs nur die Al­ter­na­ti­ve "Ent­las­sung" oder "Be­las­sung", wur­den aber im Früh­jahr 1947 mit der Ein­füh­rung ei­nes fünf­stu­fi­gen Ka­te­go­ri­en­sys­tems dif­fe­ren­zier­ter, zu­mal das Sys­tem mit ei­nem Ka­ta­log ab­ge­stuf­ter Sank­tio­nen ver­knüpft wur­de. In Ka­te­go­rie V wur­den die "Un­be­las­te­ten" be­zie­hungs­wei­se "Ent­las­te­ten" ein­ge­reiht. In Ka­te­go­rie IV ka­men die "Mit­läu­fer", und die Ka­te­go­rie III war für die po­li­tisch schwe­rer be­las­te­ten "Ak­ti­vis­ten" vor­ge­se­hen. Die Sank­tio­nen wa­ren der Ent­zug des Wahl­rechts, die Ein­schrän­kung der Frei­zü­gig­keit und ge­ge­be­nen­falls ei­ne Ver­mö­gens­sper­re bei Ka­te­go­rie IV; dar­über hin­aus Be­rufs­ver­bot oder die Ent­las­sung aus be­stimm­ten be­ruf­li­chen Po­si­tio­nen bei Ka­te­go­rie III.

Fragebogen, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

Pha­se 3: En­de 1947 ging in der ge­sam­ten bri­ti­schen Zo­ne die Ent­na­zi­fi­zie­rung weit­ge­hend in deut­sche Ver­ant­wor­tung über; die Be­sat­zungs­macht re­ser­vier­te sich le­dig­lich die Ober­auf­sicht so­wie die All­ein­kom­pe­tenz für die Ka­te­go­ri­en I ("Ver­bre­cher") und II („Übel­tä­ter“). Da Be­mü­hun­gen um gleich­lau­ten­de Ent­na­zi­fi­zie­rungs­ge­set­ze in den vier Län­dern der Bri­ti­schen Zo­ne schei­ter­ten und ein vom Düs­sel­dor­fer Land­tag ver­ab­schie­de­tes Ent­na­zi­fi­zie­rungs­ge­setz nicht die er­for­der­li­che Zu­stim­mung des Mi­li­tär­gou­ver­neurs fand, blie­ben die bri­ti­schen Ver­fah­rens­grund­sät­ze wei­ter in Kraft, so dass die Über­prü­fun­gen im We­sent­li­chen un­ver­än­dert wei­ter lie­fen. Al­ler­dings war seit De­zem­ber 1947 ein beim nord­rhein-west­fä­li­schen Jus­tiz­mi­nis­ter res­sor­tie­ren­der "Son­der­be­auf­trag­ter für die Ent­na­zi­fi­zie­rung" für die Or­ga­ni­sa­ti­ons- und Rechts­an­ge­le­gen­hei­ten der Aus­schüs­se zu­stän­dig, was sich un­ter an­de­rem in zahl­rei­chen ver­ein­heit­li­chen Or­ga­ni­sa­ti­ons­er­las­sen und in der lau­fen­den Über­prü­fung al­ler Be­ru­fungs­ent­schei­dun­gen be­merk­bar mach­te.

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Pha­se 4: Die Bri­ten wa­ren zu­nächst da­von aus­ge­gan­gen, die Über­prü­fun­gen in ei­nem über­schau­ba­ren zeit­li­chen Rah­men ab­wi­ckeln zu kön­nen – wäh­rend­des­sen sie gleich­zei­tig mit im­mer neu­en Richt­li­ni­en zur Ver­län­ge­rung bei­tru­gen. Seit 1948 ver­stärk­te sich auf bri­ti­scher wie auf deut­scher Sei­te aber der Wil­le, sie nun zü­gig zu be­en­den. Im April 1949 wur­den al­le be­ste­hen­den Aus­schüs­se auf­ge­löst und ei­ne klei­ne­re An­zahl neu­ge­bil­det. Im Re­gie­rungs­be­zirk Düs­sel­dorf gab es jetzt nur noch sie­ben und in den Re­gie­rungs­be­zir­ken Aa­chen und Köln je­weils nur noch ei­nen Aus­schuss. Wei­te­re Zu­sam­men­le­gun­gen folg­ten. Im Sep­tem­ber wur­de die Dienst­stel­le des Son­der­be­auf­trag­ten auf­ge­löst und im Fe­bru­ar 1952 als letz­ter Aus­schuss der Haupt- und Be­ru­fungs­aus­schuss für den Re­gie­rungs­be­zirk Düs­sel­dorf. Er war zum Schluss für al­le noch an­ste­hen­den Ver­fah­ren in NRW zu­stän­dig ge­we­sen. Im sel­ben Mo­nat ver­ab­schie­de­te der Land­tag das „Ge­setz zum Ab­schluss der Ent­na­zi­fi­zie­rung in Nord­rhein-West­fa­len“.

Fragebogen, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

3. Ablauf und Ergebnis der Entnazifizierung

Da die Bri­ten auf ei­ne all­ge­mei­ne Ent­na­zi­fi­zie­rungs­pflicht ver­zich­tet hat­ten, wur­den in ih­rer Zo­ne ne­ben den­je­ni­gen Per­so­nen, de­ren po­li­ti­sche Be­las­tung auf Grund ih­rer Be­tä­ti­gung in öf­fent­li­chen Funk­tio­nen of­fen­kun­dig war, im Kern vor al­lem Be­rufs­tä­ti­ge in her­aus­ge­ho­be­ner Po­si­ti­on über­prü­fungs­pflich­tig, wo­von es ei­ne Rei­he von Aus­nah­men gab. Als her­vor­ge­ho­ben gal­ten grob ge­spro­chen al­le Be­schäf­tig­te, die Ein­fluss auf Un­ter­ge­be­ne neh­men konn­ten, al­so et­wa Po­si­tio­nen ab Vor­ar­bei­ter, Po­lier, Meis­ter, Bü­ro­vor­ste­her usw. auf­wärts be­klei­de­ten, wäh­rend ein­fa­che Ar­bei­ter, An­ge­stell­te und Be­am­te in der Re­gel nicht über­prüft wur­den. Ei­ner frü­hen und in­ten­si­ven Über­prü­fung wur­de der öf­fent­li­che Dienst (vor al­lem Jus­tiz, Po­li­zei und Er­zie­hungs­we­sen) un­ter­zo­gen, wäh­rend bei der Land­wirt­schaft, beim Hand­werk und beim Ein­zel­han­del, die für Ver­sor­gung der Be­völ­ke­rung un­ver­zicht­bar wa­ren, gan­ze Grup­pen au­ßen vor ge­las­sen wur­den. Mit Rück­sicht auf die Funk­ti­ons­fä­hig­keit des Ge­sund­heits­we­sens wur­den auch die Ärz­te eher nach­sich­tig be­han­delt.

Fragebogen, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

Das Über­prü­fungs­ver­fah­ren be­gann ge­wöhn­lich mit der Auf­for­de­rung der Mi­li­tär­re­gie­rung be­zie­hungs­wei­se der deut­schen Aus­schüs­se, ge­ge­be­nen­falls auch von Ar­beit­ge­bern und Dienst­stel­len­lei­tern, an die zu Über­prü­fen­den, ei­nen Fra­ge­bo­gen aus­zu­fül­len und ein­zu­rei­chen. Die­ser im Lau­fe der Jah­re wie­der­holt mo­di­fi­zier­te Fra­ge­bo­gen ent­hielt in sei­ner be­kann­tes­ten Ver­si­on 131 Fra­gen vor al­lem zur Mit­glied­schaft in Par­tei­en, Ver­bän­den und Ver­ei­nen vor und nach 1933, zum be­ruf­li­chen Wer­de­gang so­wie zu den Ein­kom­mens­ver­hält­nis­sen. Do­ku­men­te, Stel­lung­nah­men und sons­ti­ge Un­ter­la­gen konn­ten bei­ge­fügt wer­den, wo­von ins­be­son­de­re die po­li­tisch Be­las­te­ten mit der Vor­la­ge von Ent­las­tungs­zeug­nis­sen, die von Be­kann­ten, Nach­barn, Ver­eins- und Ar­beits­kol­le­gen aus­ge­stellt wor­den wa­ren, Ge­brauch mach­ten.

Fragebogen, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

Auf der Grund­la­ge die­ser Un­ter­la­gen tra­fen an­fangs die kom­mu­na­len und re­gio­na­len In­stan­zen der Mi­li­tär­re­gie­rung ih­re Ent­schei­dung über Ent­las­sung oder Wei­ter­be­schäf­ti­gung re­spek­ti­ve Neu­ein­stel­lung. Seit Früh­jahr 1946 über­nah­men die deut­schen Aus­schüs­se die Über­prü­fung der Un­ter­la­gen, wo­zu sie stadt­teil-, be­triebs- oder bran­chen­be­zo­ge­ne Un­ter­aus­schüs­se ein­rich­te­ten, de­nen die Erst­be­gut­ach­tung ob­lag. Auf de­ren Ur­teil hin for­mu­lier­ten die Aus­schüs­se ih­re Emp­feh­lung für die Mi­li­tär­re­gie­rung, seit En­de 1947 dann ih­re ei­ge­nen Ent­schei­dun­gen. Ei­ne An­ru­fung der Be­ru­fungs­aus­schüs­se war mög­lich und wur­de häu­fig ge­nutzt.

Fragebogen, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

Dem Ziel der Bri­ten, vor al­lem Po­li­tik, Wirt­schaft und Ver­wal­tung zu säu­bern, ent­sprach die Al­ters­struk­tur der Über­prüf­ten. Die ganz jun­gen und die ganz al­ten Jahr­gän­ge wa­ren un­ter­re­prä­sen­tiert, was we­gen ih­rer ge­rin­ge­ren Er­werbs­quo­te auch für die Frau­en zu­traf, die zu­dem über­wie­gend in den nicht ent­na­zi­fi­zie­rungs­pflich­ti­gen un­te­ren be­ruf­li­chen Hier­ar­chi­en be­schäf­tigt wa­ren. Dem­ge­gen­über zeigt das So­zi­al­pro­fil der Ent­na­zi­fi­zier­ten ei­ne deut­li­che Aus­buch­tung bei den hö­he­ren An­ge­stell­ten und den mitt­le­ren und hö­he­ren Be­am­ten, wo­ge­gen die Ar­bei­ter und die un­te­ren An­ge­stell­ten und Be­am­ten klar un­ter­pro­por­tio­nal ver­tre­ten wa­ren. Bei der Ent­na­zi­fi­zie­rungs­kli­en­tel han­del­te es sich al­so über­wie­gend um den männ­li­chen Mit­tel­stand im er­werbs­fä­hi­gen Al­ter.[1] 

Fragebogen, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

In NRW wur­den ins­ge­samt cir­ca 800.000 Per­so­nen über­prüft, das hei­ßt et­wa 10 Pro­zent der Be­völ­ke­rung über 18 Jah­re. Et­wa 75 Pro­zent wur­den in die Ka­te­go­rie V ("ent­las­tet"), cir­ca 20 Pro­zent in die Ka­te­go­rie IV ("Mit­läu­fer") und nur cir­ca 4 Pro­zent in die mit emp­find­li­chen Sank­tio­nen ge­kop­pel­te Ka­te­go­rie III ("Ak­ti­vist") ein­ge­stuft. Da­bei ist zwi­schen 1947 und 1950 ein deut­li­cher Trend zur Mil­de zu be­ob­ach­ten: Der An­teil der „Ak­ti­vis­ten“ sank von 6,1 Pro­zent auf 2,1 Pro­zent und der­je­ni­ge der „Mit­läu­fer“ von 20,7 Pro­zent auf 16,5 Pro­zent. Wie vie­le ins­be­son­de­re der be­ruf­li­chen Sank­tio­nen um­ge­setzt wur­den, lässt sich nicht be­zif­fern, doch wa­ren die Ein­grif­fe der Be­sat­zer in Wirt­schaft und Ver­wal­tung vor al­lem in den ers­ten Mo­na­ten of­fen­kun­dig recht ri­go­ros, wur­den dann je­doch un­ter prag­ma­ti­schen Ge­sichts­punk­ten ein­ge­schränkt.

4. Die Entnazifizierung im zeitgenössischen Urteil

Die Ent­na­zi­fi­zie­rung und ins­be­son­de­re ih­re Durch­füh­rung wa­ren von An­fang an um­strit­ten. Im In­ter­es­se an funk­ti­ons­fä­hi­gen deut­schen Ver­wal­tungs­struk­tu­ren  und ei­ner ma­te­ri­el­len Ba­sis­ver­sor­gung der Be­völ­ke­rung rück­ten die Be­sat­zungs­in­stan­zen bald von ih­rer in den ers­ten Mo­na­ten prak­ti­zier­ten ri­go­ro­sen Ent­las­sungs­pra­xis ab. Erst recht über­wog auf deut­scher Sei­te je län­ger je deut­li­cher die Kri­tik. Im De­zem­ber 1948 bi­lan­zier­te Jus­tiz­mi­nis­ter Ar­tur Strä­ter (1902-1977), die Ar­beit der Ent­na­zi­fi­zie­rungs­aus­schüs­se sei „für ei­nen Rechts­staat auf die Dau­er un­trag­bar und müs­se als ge­schei­tert an­er­kannt wer­den“.[2]  Die­se Stim­mung fand zum Bei­spiel in ex­em­pla­ri­scher Wei­se in dem Er­folgs­ro­man des Jah­res 1951 „Der Fra­ge­bo­gen“ von Ernst von Sa­lo­mon Aus­druck, der sich al­ler­dings auf die ame­ri­ka­ni­sche Säu­be­rungs­po­li­tik be­zog, für die der Au­tor, der in den 1920er Jah­ren selbst an rechts­ra­di­ka­len Um­trie­ben be­tei­ligt ge­we­sen war, nur Hohn und Spott üb­rig hat­te.

Entlastungszeugnis von Karl Jarres, März 1947, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

Or­ga­ni­sa­ti­on und Ab­lauf der Ent­na­zi­fi­zie­rung ga­ben in der Tat viel An­lass zu Kri­tik. Der Auf­bau ei­ner zo­nen­weit ein­heit­li­chen Über­prü­fungs­struk­tur, der ei­nen ge­hö­ri­gen pla­ne­ri­schen Auf­wand und ho­he or­ga­ni­sa­to­ri­sche Prä­zi­si­on er­for­der­te, war un­ter den Be­din­gun­gen der ers­ten Nach­kriegs­mo­na­te und –jah­re kaum zu be­wäl­ti­gen. Die Vor­ga­ben der Be­sat­zer än­der­ten sich häu­fig, wa­ren teils un­voll­stän­dig, teils wi­der­sprüch­lich, teils un­ge­nau, was ei­ne Flut prä­zi­sie­ren­der, er­gän­zen­der, ge­ge­be­nen­falls auch sich wi­der­spre­chen­der Er­las­se zu Fol­ge hat­te. Die zeit­be­ding­ten Über­mitt­lungs­pro­ble­me tru­gen das Ih­ri­ge zum Durch­ein­an­der bei.

Al­ler­dings sind die Kri­ti­ker der Ent­na­zi­fi­zie­rung zu un­ter­schei­den in:
– Die­je­ni­gen, die un­ter dem Deck­man­tel der Kri­tik an Or­ga­ni­sa­ti­on und Ab­lauf ei­gent­lich die ge­sam­te Über­prü­fung als Ra­che­jus­tiz der Sie­ger­mäch­te grund­sätz­lich ab­lehn­ten und die deut­schen Mit­glie­der der Ent­na­zi­fi­zie­rungs­aus­schüs­se, „wel­che die Ge­schäf­te der Sie­ger be­sorg­ten“,[3]  ver­ach­te­ten.

Entlastungszeugnis von Ernst Arntz, Juni 1947, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

– Die­je­ni­gen, die wie ins­be­son­de­re man­che Kom­mu­nal­po­li­ti­ker und Ver­wal­tungs­lei­ter sich pri­mär um das Wie­derin­gang­kom­men des öf­fent­li­chen Le­bens sorg­ten und des­halb für ei­ne zü­gi­ge Ab­wick­lung und prag­ma­ti­sche Ur­tei­le plä­dier­ten. Schlie­ß­lich er­klär­te auch die Mi­li­tär­re­gie­rung, „dass bei der Ent­na­zi­fi­zie­rung die Be­lan­ge der Wirt­schaft be­rück­sich­tigt wer­den, so dass kei­ne le­bens­ge­fähr­li­chen Stö­run­gen ent­ste­hen“.[4]  Eben­so dran­gen die Ge­werk­schaf­ten mit Rück­sicht auf das „Wirt­schafts­le­ben“ schon En­de 1946 auf ei­ne schnel­le Be­en­di­gung der Über­prü­fun­gen.

Entlastungszeugnis von Wilhelm May, März 1948, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

– Die­je­ni­gen Gro­ßor­ga­ni­sa­tio­nen, die – wie die Kir­chen und die po­li­ti­schen Par­tei­en – zwar die Not­wen­dig­keit ei­ner po­li­ti­schen Rei­ni­gung be­ton­ten, aber mit Blick auf ih­re Kli­en­tel schon früh für ei­ne Be­gren­zung der Säu­be­rung und für Nach­sicht mit den „Mit­läu­fern“ plä­dier­ten. So kon­sta­tier­te Mi­nis­ter­prä­si­dent Ru­dolf Ame­lun­xen be­reits im De­zem­ber 1946, der ge­gen­wär­ti­ge Zu­stand der Ent­na­zi­fi­zie­rungs­ei sei „für al­le Be­tei­lig­ten un­er­träg­lich ge­wor­den“. Das Volk ver­lan­ge „die Be­stra­fung der gro­ßen Sün­der und wirk­lich Schul­di­gen“, die Ver­fah­ren ge­gen „al­le die klei­nen Mit­läu­fer“ soll­ten je­doch ein­ge­stellt wer­den.[5] 

– Die­je­ni­gen, die vom Or­ga­ni­sa­ti­ons­wirr­warr, der schie­ren Mas­se der Über­prü­fun­gen und der zä­hen Dau­er vie­ler Ver­fah­ren, mit­un­ter auch von man­cher skan­da­lös mil­den Ein­stu­fung ent­mu­tigt wur­den. Sie wa­ren nicht zu­letzt un­ter den Mit­glie­dern der Ent­na­zi­fi­zie­rungs­aus­schüs­se selbst zu fin­den, die je län­ger je we­ni­ger Sinn in ih­rer Tä­tig­keit sa­hen und re­si­gniert dem Ruf nach rei­bungs­lo­ser Ab­wick­lung und mil­den Ur­tei­len nach­ka­men. So sah der Be­ru­fungs­aus­schuss Wup­per­tal im Herbst 1948 sei­ne Haupt­auf­ga­be nur noch dar­in, das „Un­rech­t“ der ers­ten Jah­re wie­der gut zu ma­chen.[6] 

5. Die Entnazifizierung im wissenschaftlichen Urteil

Ein Teil der Ge­schichts­wis­sen­schaft - so­fern sie die Ent­na­zi­fi­zie­rung über­haupt für er­wäh­nungs­wert hielt – mach­te sich die ne­ga­ti­ve Ein­schät­zung der Zeit­ge­nos­sen zu­nächst zu Ei­gen. Laut ei­ner Pu­bli­ka­ti­on der Bun­des­zen­tra­le für po­li­ti­sche Bil­dung von 1972 hat­te die Ent­na­zi­fi­zie­rung ei­nen „in je­der Hin­sicht un­be­frie­di­gen­den Ver­lauf“ ge­nom­men. Irm­gard Lan­ge sprach 1976 in ih­rer grund­le­gen­den Do­ku­men­ta­ti­on über die Ent­na­zi­fi­zie­rung in Nord­rhein-West­fa­len von ei­nem "trost­lo­sen Ka­pi­tel deut­scher und eng­li­scher Ver­wal­tungs­ge­schich­te" und Cle­mens Vollnhals nann­te sie 1991 ein „ge­schei­ter­tes Ex­pe­ri­men­t“ – ei­ne Ein­schät­zung, die so oder ähn­lich ei­ni­ge Lo­kal- und Re­gio­nal­his­to­ri­ker noch in jüngs­ter Zeit ver­tre­ten (zum Bei­spiel Wein­forth, Schmidt/Bur­ger, Weitz).

Entlastungszeugnis von Wilhelm May, März 1948, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

Dem ge­gen­über hat­te schon 1969 die ers­te er­wäh­nens­wer­te Stu­die über die Ent­na­zi­fi­zie­rung von Jus­tus Fürs­ten­au die Rich­tung der wis­sen­schaft­li­chen Mehr­heits­mei­nung vor­ge­zeich­net, in­dem sie „als ein­zi­gen brauch­ba­ren Maß­sta­b“ für die Be­ur­tei­lung von Er­folg be­zie­hungs­wei­se Miss­er­folg die Fra­ge zu­ließ, „ob die Ent­na­zi­fi­zie­rung die Ent­wick­lung ei­ner frei­heit­lich-de­mo­kra­ti­schen Grund­ord­nung in Deutsch­land ge­för­dert oder ge­hemmt ha­t“, was sie - trotz al­ler Män­gel bei Kon­zep­ti­on und Durch­füh­rung – be­jah­te. Ver­gleich­bar dif­fe­ren­ziert ana­ly­sier­te Pe­ter Hüt­ten­ber­ger 1973 die Ent­na­zi­fi­zie­rung als po­li­ti­schen Ziel­kon­flikt zwi­schen der not­wen­di­gen Ab­sicht, den neu ent­ste­hen­den Staat von na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ele­men­ten zu be­frei­en, oh­ne aber da­durch zu­gleich de­klas­sier­te Rand­grup­pen ent­ste­hen zu las­sen. Auch Wolf­gang Krü­ger be­ton­te 1982 in sei­ner Un­ter­su­chung der Pra­xis der Ur­teils­fin­dung bei den Aus­schüs­sen für die Re­gie­rungs­be­zir­ke Arns­berg und Düs­sel­dorf ne­ben den vie­len Män­geln des Ver­fah­rens man­che po­si­ti­ven Ef­fek­te ins­be­son­de­re für die Sta­bi­li­tät der ent­ste­hen­den west­deut­schen De­mo­kra­tie.

Entlastungszeugnis von Peter Joseph Bauwens, Oktober 1947, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

Ab­ge­se­hen von ei­ner Dis­ser­ta­ti­on über die Ent­na­zi­fi­zie­rungs­po­li­tik der nord­rhein-west­fä­li­schen Par­tei­en (Krä­mer) und klei­ne­ren Lo­kal­stu­di­en, sind wei­te­re Dar­stel­lun­gen der Ent­na­zi­fi­zie­rung in Nord­rhein-West­fa­len be­zie­hungs­wei­se im nörd­li­chen Rhein­land seit­dem nicht er­schie­nen. Neue Li­te­ra­tur- und For­schungs­be­rich­te, zu­sam­men­fas­sen­de Über­blicks­ar­ti­kel so­wie Dar­stel­lun­gen zur Lan­des­zeit­ge­schich­te be­stä­ti­gen – bei Be­to­nung an­dau­ern­der For­schungs­de­fi­zi­te – die im Gro­ßen und Gan­zen po­si­ti­ve Bi­lanz der po­li­ti­schen Säu­be­run­gen. Zu Recht for­der­te zum Bei­spiel Cor­ne­lia Rauh-Küh­ne, den Er­folg der Ent­na­zi­fi­zie­rung nicht nur quan­ti­fi­zie­rend da­nach zu be­ur­tei­len, wie wel­che und wie vie­le Be­las­te­te wel­chen Sank­tio­nen un­ter­wor­fen wur­den. Viel­mehr kom­me es dar­auf an, „die Funk­tio­na­li­tät der Säu­be­rungs­kon­zep­te und ih­rer Durch­füh­rung dar­an zu mes­sen, ob sie zum ei­nen den Ziel­set­zun­gen al­li­ier­ter Deutsch­land­po­li­tik, zum an­de­ren den Er­for­der­nis­sen und den Mög­lich­kei­ten der ge­sell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se in der Zu­sam­men­bruchs­ge­sell­schaft ent­spra­chen.“[7] 

Entlastungszeugnis von Peter Bauwens Bauunternehmen, Oktober 1947, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

6. Die Bedeutung der Entnazifizierung für die deutsche Nachkriegsgesellschaft

Trotz ei­nes wis­sen­schaft­li­chen Grund­kon­sens über die be­grenz­ten Mög­lich­kei­ten der Ent­na­zi­fi­zie­rung und ih­rer po­si­ti­ven sys­tem­sta­bi­li­sie­ren­den Wir­kung blei­ben man­che Fra­gen ins­be­son­de­re nach der ge­sell­schaft­li­chen und der lang­fris­tig wir­ken­den so­zi­al­psy­cho­lo­gi­schen Rol­le der Ent­na­zi­fi­zie­rung in der deut­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft auch wei­ter­hin of­fen. Nach Hüt­ten­ber­ger hat sie „mit grö­ß­ter Wahr­schein­lich­keit bei der Mas­se der Be­trof­fe­nen und de­ren So­li­dar­ge­mein­schaf­ten ei­nen psy­chisch-po­li­ti­schen Scho­ck“ aus­ge­löst und laut Fürs­ten­au und Krü­ger war sie für ei­ne „lang­jäh­ri­ge apo­li­ti­sche Ein­stel­lung brei­ter Be­völ­ke­rungs­krei­se“ mit­ver­ant­wort­lich.

Beschluss des Hauptausschusses für den Stadt Kreis Köln, November 1948, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

Ei­ne be­son­de­re Rol­le im Pro­zess der kol­lek­ti­ven Aus­ein­an­der­set­zung der Be­völ­ke­rung mit ih­rer Ver­gan­gen­heit wird seit je den Ent­las­tungs­zeug­nis­sen zu­ge­schrie­ben. Sie konn­ten sinn­voll sein, weil kon­trär zu sons­ti­gen rechts­staat­li­chen Pro­ze­du­ren, bei de­nen ei­nem Ver­däch­ti­gen die Schuld nach­ge­wie­sen wer­den muss, an­dern­falls er als un­schul­dig an­zu­se­hen ist, bei der Ent­na­zi­fi­zie­rung der Über­prüf­te sei­ne Un­be­denk­lich­keit selbst nach­wei­sen muss­te. Dies ge­schah zu­nächst durch das Aus­fül­len des Fra­ge­bo­gens und bei er­sicht­li­cher po­li­ti­scher Be­las­tung zum Bei­spiel durch die Mit­glied­schaft bei NS-Or­ga­ni­sa­tio­nen ge­ge­be­nen­falls durch die Vor­la­ge er­gän­zen­der Ent­las­tungs­schrei­ben, die be­zeug­ten, dass der Be­tref­fen­de trotz for­ma­ler Be­las­tung po­li­tisch trag­bar sei. An­ge­sichts man­cher­lei Miss­brauchs kam für die­se Schrei­ben bald die Be­zeich­nung „Per­sil­schein“ auf, und auch die Wis­sen­schaft hält das „Per­sil­schein­un­we­sen“ (Hüt­ten­ber­ger) für ein „un­se­li­ges Ka­pi­tel“ (Pri­or) der Säu­be­run­gen; sie iden­ti­fi­zier­te vor al­lem Po­li­ti­ker und Geist­li­che als „Ent­na­zi­fi­zie­rungs-Agen­tu­ren“, die in gro­ßer Zahl Ge­fäl­lig­keits­zeug­nis­se aus­ge­stellt, und „So­li­dar­ge­mein­schaf­ten“, die sich ge­gen­sei­tig „wei­ß­ge­wa­schen“ hät­ten. Tat­säch­lich aber leg­ten – wie das Wup­per­ta­ler Bei­spiel zeigt – über­haupt nur 15 Pro­zent der Über­prüf­ten Ent­las­tungs­zeug­nis­se vor. Nur ein ein­zi­ger von ih­nen „tausch­te“ mit ei­nem an­de­ren Be­las­te­ten Zeug­nis­se, so dass von ge­gen­sei­ti­gem „Weiß­wa­schen“ kei­ne Re­de sein kann; eben­so spiel­ten Po­li­ti­ker und Pfar­rer für die Ent­las­tung ei­ne er­heb­lich ge­rin­ge­re Rol­le, als zu­meist an­ge­nom­men wird. Im Üb­ri­gen spricht vie­les für Krü­gers Be­ob­ach­tung, dass die Leu­munds­zeug­nis­se an Be­deu­tung ver­lo­ren, je län­ger die Ver­fah­ren dau­er­ten. „In den Vor­der­grund rück­te das per­sön­li­che Auf­tre­ten der Be­trof­fe­nen vor den Aus­schüs­sen."

Beschluss des Hauptausschusses für den Stadt Kreis Köln, November 1948, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

Rund ein Zehn­tel der Be­völ­ke­rung über 18 Jah­ren muss­te sich zwi­schen 1945 und 1952 ei­ner po­li­ti­schen Über­prü­fung un­ter­zie­hen. Drei Vier­tel von ih­nen durch­lie­fen sie oh­ne jeg­li­che Be­an­stan­dung. Für die gro­ße Mehr­heit der Über­prüf­ten be­schränk­te sich die Er­fah­rung mit der Ent­na­zi­fi­zie­rung dem­nach auf das Aus­fül­len ei­nes Fra­ge­bo­gens und die Ent­ge­gen­nah­me ei­nes po­si­ti­ven Be­schei­des, so dass nur cir­ca 3 Pro­zent der er­wach­se­nen Be­völ­ke­rung nach­hal­tig von der Über­prü­fung ih­rer po­li­ti­schen Ver­gan­gen­heit tan­giert wur­de, sei es in Form ei­nes lang­wie­ri­gen Ver­fah­rens mit münd­li­cher Ver­hand­lung und der Vor­la­ge von Ent­las­tungs­zeug­nis­sen, sei es durch Sank­tio­nen (die aber auf dem Weg der Be­ru­fung o.ä. häu­fig wie­der ab­ge­schwächt wur­den).

Einreihungsbescheid des Hauptausschusses für den Regierungsbezirk Köln, Februar 1950, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 - 2706)

 

Dass die Be­deu­tung der Ent­na­zi­fi­zie­rung für die Be­find­lich­keit der Be­völ­ke­rung nicht über­schätzt wer­den soll­te, legt auch ei­ne Um­fra­ge des In­sti­tuts für De­mo­sko­pie Al­lens­bach in der west­deut­schen Be­völ­ke­rung (al­so nicht nur Nord­rhein-West­fa­lens) aus dem Jahr 1951 na­he. Auf die Fra­ge nach dem grö­ß­ten Feh­ler der Be­sat­zungs­mäch­te in Deutsch­land taucht un­ter den ver­schie­de­nen Ant­wor­ten die Ent­na­zi­fi­zie­rung mit 6 Pro­zent erst an sieb­ter Stel­le auf, nach den De­mon­ta­gen mit 21 Pro­zent, nach dem fal­schen Ver­hal­ten ge­gen­über den Rus­sen, nach der Le­bens­wei­se der Al­li­ier­ten, nach der Dif­fa­mie­rung und un­ge­recht­fer­tig­ten Be­schul­di­gung der Deut­schen, der Vor­ent­hal­tung der Sou­ve­rä­ni­tät und den Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­sen.

Einreihungsbescheid des Hauptausschusses für den Regierungsbezirk Köln, Februar 1950, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

7. Fazit

Von den Bri­ten mit un­rea­lis­ti­schen Er­war­tun­gen über die vor­aus­sicht­li­che Dau­er und mit un­zu­läng­li­chen or­ga­ni­sa­to­ri­schen Vor­ga­ben ein­ge­lei­tet, von den Deut­schen mit un­ter­schied­li­chen Er­war­tun­gen hin­sicht­lich Ra­di­ka­li­tät und Reich­wei­te durch­ge­führt und kom­men­tiert, von an­dau­ern­den ad­mi­nis­tra­ti­ven Un­zu­läng­lich­kei­ten be­hin­dert, im stän­di­gen Zwie­spalt zwi­schen Prin­zi­pi­en­treue und prag­ma­ti­schen Kom­pro­mis­sen ufer­te die Über­prü­fung schnell zu ei­ner nur rou­ti­ne­mä­ßig ab­zu­wi­ckeln­den Mas­sen­ab­fer­ti­gung aus, die gleich­wohl le­dig­lich ei­ne klei­ne Min­der­heit der Be­völ­ke­rung di­rekt be­traf. Vor al­lem ih­re so­zi­al­psy­cho­lo­gi­sche Be­deu­tung soll­te des­halb nicht über­schätzt wer­den; wo­mög­lich hat sie Po­li­ti­ker und Pu­bli­zis­ten mehr in An­spruch ge­nom­men als die Be­völ­ke­rung selbst.

Beschluss des Berufungsausschusses für den Regierungsbezirk Köln, Juli 1950, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 

Gleich­wohl war sie nicht er­folg­los. Sie trug zur Kon­sti­tu­ie­rung der west­deut­schen De­mo­kra­tie bei, in­dem sie mit­half, in der wich­ti­gen Grün­dungs­pha­se Na­tio­nal­so­zia­lis­ten ei­ne Zeit­lang von den hö­he­ren Po­si­tio­nen in Po­li­tik, Wirt­schaft und Ver­wal­tung fern­zu­hal­ten. „Sie hat das hoch­ge­steck­te Ziel der mo­ra­li­schen Selbst­rei­ni­gung des deut­schen Vol­kes nicht er­reicht. Aber durch sie er­folg­te ei­ne Wei­chen­stel­lung, der wir heu­te un­ter an­de­rem die Sta­bi­li­tät un­se­res po­li­ti­schen Sys­tems ver­dan­ken.“[8] 

Literatur

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Fürs­ten­au, Jus­tus, Ent­na­zi­fi­zie­rung. Ein Ka­pi­tel deut­scher Nach­kriegs­po­li­tik, Neu­wied 1969.
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Hüt­ten­ber­ger, Pe­ter, Ent­na­zi­fi­zie­run­gim öf­fent­li­chen Dienst Nord­rhein-West­fa­lens, in: Schweg­mann, Fried­rich Ger­hard (Hg.), Die Wie­der­her­stel­lung des Be­rufs­be­am­ten­tums nach 1945. Ge­burts­feh­ler oder Stütz­pfei­ler der De­mo­kra­tie­grün­dung in West­deutsch­land? Düs­sel­dorf 1986, S. 47-64.
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Krü­ger, Wolf­gang, Ent­na­zi­fi­ziert! Zur Pra­xis der po­li­ti­schen Säu­be­rung in Nord­rhein-West­fa­len, Wup­per­tal 1982.
Krä­mer, Jörg D., Das Ver­hält­nis der po­li­ti­schen Par­tei­en zur Ent­na­zi­fi­zie­run­gin Nord­rhein-West­fa­len, Frank­furt/Main [u.a.] 2001.
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Mar­tins­dorf, Eva Ma­ria, Von den Schwie­rig­kei­ten, die Ge­gen­wart von ih­rer Ver­gan­gen­heit zu "säu­bern" - Ent­na­zi­fi­zie­rung in Köln, in: Mat­z­er­ath, Horst [u.a.] (Hg.), Ver­steck­te Ver­gan­gen­heit. Über den Um­gang mit der NS-Zeit in Köln, Köln 1994, S. 125-162.
No­el­le, Eli­sa­beth/Neu­mann, Erich Pe­ter (Hg.), Jahr­buch der öf­fent­li­chen Mei­nung 1947-1955, Al­lens­bach 1956.
Pri­or, An­ne, Ent­na­zi­fi­zie­rung im Land­kreis Dins­la­ken nach 1945. Po­li­ti­sche Säu­be­rung und ju­ris­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Na­tio­nal­so­zia­lis­mus, in: Mar­zin, Gi­se­la M. (Hg.), Na­tio­nal­so­zia­lis­mus in Dins­la­ken und sei­ne Nach­wir­kun­gen. Neue For­schungs­er­geb­nis­se, Es­sen 2008, S. 305-391.
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Weitz, Rein­hold, Die Ent­na­zi­fi­zie­rung oder Über den Um­gang mit der Ver­gan­gen­heit, in: Na­tio­nal­so­zia­lis­mus im Kreis Eus­kir­chen, Band 2, Eus­kir­chen 2007.  

Beschluss des Berufungsausschusses für den Regierungsbezirk Köln, Juli 1950, Das Entnazifizierungsverfahren des NSDAP-Kreisleiters von Schleiden Franz Binz. (Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, NW 1051 Nr. 2706)

 
Zitationshinweis

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Faust, Anselm, Die Entnazifizierung im nördlichen Rheinland, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/die-entnazifizierung-im-noerdlichen-rheinland/DE-2086/lido/582d73e2d055e9.37648454 (abgerufen am 01.12.2024)