Die Entnazifizierung im nördlichen Rheinland
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1. Einleitung
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges hatten sich die Alliierten darauf verständigt, Deutschland nicht nur militärisch zu entmachten und die NSDAP und ihre Gliederungen aufzulösen; darüber hinaus sollte jeglicher nationalsozialistische Einfluss aus dem politischen, kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben ausgeschaltet werden. Zu einem einheitlichen Vorgehen kam es jedoch nicht, obgleich der Alliierte Kontrollrat im Januar 1946 mit der Verordnung Nr. 24 betreffend "Entfernung von Nationalsozialisten und Personen, die den Zielen der Alliierten feindselig gegenüberstehen, aus Ämtern und verantwortlichen Stellungen" gemeinsame Rahmenrichtlinien veröffentlichte. Allerdings nahm die Entnazifizierung in allen Besatzungszonen die gleiche eigentümliche Mittelstellung zwischen Strafverfolgung, politischer Säuberung und ideologischer Umerziehung ein, von denen sie jeweils einzelne Elemente in sich vereinte, indem gegen weltanschauliche Überzeugungen und politisch motivierte Handlungsweisen rechtliche und materielle Sanktionen verhängt wurden, die aber durch politisches und gesellschaftliches Wohlverhalten abgemildert werden konnten.
Bei der Festlegung der Besatzungszonen im Sommer 1945 wurde der nördliche Teil der Rheinprovinz als „Nord-Rheinprovinz“ mit den Regierungsbezirken Düsseldorf, Aachen und Köln der britischen Zone zugeordnet, während der südliche Teil als „Mittelrhein-Saar“ an die französische Zone ging. Demnach bestimmten die Briten in den drei nördlichen Regierungsbezirken Grundsätze und Organisation der Entnazifizierung, woran sich faktisch wenig änderte, als im Sommer 1946 die Bezirke Verwaltungseinheiten der mittleren Ebene des neuen Landes Nordrhein-Westfalen wurden und Ende 1947 die Briten die weitere Durchführung der Entnazifizierung weitgehend in deutsche Hände legten.
2. Die Phasen der Entnazifizierung
Phase 1: Im nördlichen Rheinland gaben die Besatzungsmächte - zunächst die Amerikaner, bis sie im Juni 1945 von den Briten abgelöst wurden - schon bald erste Fragebogen aus, doch entwickelte sich (neben "wilden" Säuberungen alliierter und deutscher Stellen) erst allmählich ein geordnetes Überprüfungsverfahren, in dem die lokalen und regionalen Militärbehörden mit Unterstützung verschiedener deutscher Stellen, Komitees, Antifa-Ausschüsse und Betriebsräte, die nicht selten auch selbständig vorgingen, über die Tragbarkeit des Personals bestimmter Berufe, Ämter oder Dienststellen entschieden. Noch fehlte eine einheitliche Linie, so dass man in jeder Stadt und in jedem Kreis anders vorging. Hierzu trug auch das Verhalten der drei Regierungspräsidenten bei, die – wie das Beispiel des zupackenden Arnsberger Regierungspräsidenten Fritz Fries (1887-1967), der schon im Mai 1945 die sofortige Entlassung der „Alten Kämpfer“ aus dem öffentlichen Dienst anordnete, zeigt – eine treibende Rolle hätten spielen können. Doch scheinen sie sich zurückgehalten zu haben; allein der Aachener Präsident forcierte wenigstens die Bereinigung der Verwaltung.
Phase 2: Anfang 1946 ergingen dann vereinheitlichende Richtlinien der britischen Militärregierung. Gemäß ihrem Prinzip, sich bei umfassender Kontrolle auf eine indirekte Herrschaft zu beschränken, wurden im Frühjahr des Jahres die Deutschen auch formal an der Arbeit und der Verantwortung für die Entnazifizierung beteiligt. In allen Stadt- und Landkreisen wurden deutsche Entnazifizierungsausschüsse eingerichtet, die sich in einen Haupt- und einen Berufungsausschuss gliederten. Ihre von den Stadt- beziehungsweise Kreisvertretungen entsandten Mitglieder sollten die wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Richtungen vertreten; in der Praxis wurden sie vor allem von den Parteien und Gewerkschaften entsandt. Ausschüsse bei den Regierungspräsidenten waren für überörtliche Verfahren zuständig. Die Kirchen und die Hochschulen konnten eigene Ausschüsse durchsetzten, und für den Bergbau gab es Sonderausschüsse. So entstanden im Regierungsbezirk Aachen acht, im Bezirk Düsseldorf 22 und in Köln zehn Stadt- oder Kreisausschüsse, sowie jeweils die Regierungsbezirksausschüsse.
Die Befugnisse der deutschen Ausschüsse beschränkten sich zunächst auf die Formulierung von Empfehlungen für die Militärregierung. Deren Entscheidungen kannten anfangs nur die Alternative "Entlassung" oder "Belassung", wurden aber im Frühjahr 1947 mit der Einführung eines fünfstufigen Kategoriensystems differenzierter, zumal das System mit einem Katalog abgestufter Sanktionen verknüpft wurde. In Kategorie V wurden die "Unbelasteten" beziehungsweise "Entlasteten" eingereiht. In Kategorie IV kamen die "Mitläufer", und die Kategorie III war für die politisch schwerer belasteten "Aktivisten" vorgesehen. Die Sanktionen waren der Entzug des Wahlrechts, die Einschränkung der Freizügigkeit und gegebenenfalls eine Vermögenssperre bei Kategorie IV; darüber hinaus Berufsverbot oder die Entlassung aus bestimmten beruflichen Positionen bei Kategorie III.
Phase 3: Ende 1947 ging in der gesamten britischen Zone die Entnazifizierung weitgehend in deutsche Verantwortung über; die Besatzungsmacht reservierte sich lediglich die Oberaufsicht sowie die Alleinkompetenz für die Kategorien I ("Verbrecher") und II („Übeltäter“). Da Bemühungen um gleichlautende Entnazifizierungsgesetze in den vier Ländern der Britischen Zone scheiterten und ein vom Düsseldorfer Landtag verabschiedetes Entnazifizierungsgesetz nicht die erforderliche Zustimmung des Militärgouverneurs fand, blieben die britischen Verfahrensgrundsätze weiter in Kraft, so dass die Überprüfungen im Wesentlichen unverändert weiter liefen. Allerdings war seit Dezember 1947 ein beim nordrhein-westfälischen Justizminister ressortierender "Sonderbeauftragter für die Entnazifizierung" für die Organisations- und Rechtsangelegenheiten der Ausschüsse zuständig, was sich unter anderem in zahlreichen vereinheitlichen Organisationserlassen und in der laufenden Überprüfung aller Berufungsentscheidungen bemerkbar machte.
Phase 4: Die Briten waren zunächst davon ausgegangen, die Überprüfungen in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen abwickeln zu können – währenddessen sie gleichzeitig mit immer neuen Richtlinien zur Verlängerung beitrugen. Seit 1948 verstärkte sich auf britischer wie auf deutscher Seite aber der Wille, sie nun zügig zu beenden. Im April 1949 wurden alle bestehenden Ausschüsse aufgelöst und eine kleinere Anzahl neugebildet. Im Regierungsbezirk Düsseldorf gab es jetzt nur noch sieben und in den Regierungsbezirken Aachen und Köln jeweils nur noch einen Ausschuss. Weitere Zusammenlegungen folgten. Im September wurde die Dienststelle des Sonderbeauftragten aufgelöst und im Februar 1952 als letzter Ausschuss der Haupt- und Berufungsausschuss für den Regierungsbezirk Düsseldorf. Er war zum Schluss für alle noch anstehenden Verfahren in NRW zuständig gewesen. Im selben Monat verabschiedete der Landtag das „Gesetz zum Abschluss der Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen“.
3. Ablauf und Ergebnis der Entnazifizierung
Da die Briten auf eine allgemeine Entnazifizierungspflicht verzichtet hatten, wurden in ihrer Zone neben denjenigen Personen, deren politische Belastung auf Grund ihrer Betätigung in öffentlichen Funktionen offenkundig war, im Kern vor allem Berufstätige in herausgehobener Position überprüfungspflichtig, wovon es eine Reihe von Ausnahmen gab. Als hervorgehoben galten grob gesprochen alle Beschäftigte, die Einfluss auf Untergebene nehmen konnten, also etwa Positionen ab Vorarbeiter, Polier, Meister, Bürovorsteher usw. aufwärts bekleideten, während einfache Arbeiter, Angestellte und Beamte in der Regel nicht überprüft wurden. Einer frühen und intensiven Überprüfung wurde der öffentliche Dienst (vor allem Justiz, Polizei und Erziehungswesen) unterzogen, während bei der Landwirtschaft, beim Handwerk und beim Einzelhandel, die für Versorgung der Bevölkerung unverzichtbar waren, ganze Gruppen außen vor gelassen wurden. Mit Rücksicht auf die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens wurden auch die Ärzte eher nachsichtig behandelt.
Das Überprüfungsverfahren begann gewöhnlich mit der Aufforderung der Militärregierung beziehungsweise der deutschen Ausschüsse, gegebenenfalls auch von Arbeitgebern und Dienststellenleitern, an die zu Überprüfenden, einen Fragebogen auszufüllen und einzureichen. Dieser im Laufe der Jahre wiederholt modifizierte Fragebogen enthielt in seiner bekanntesten Version 131 Fragen vor allem zur Mitgliedschaft in Parteien, Verbänden und Vereinen vor und nach 1933, zum beruflichen Werdegang sowie zu den Einkommensverhältnissen. Dokumente, Stellungnahmen und sonstige Unterlagen konnten beigefügt werden, wovon insbesondere die politisch Belasteten mit der Vorlage von Entlastungszeugnissen, die von Bekannten, Nachbarn, Vereins- und Arbeitskollegen ausgestellt worden waren, Gebrauch machten.
Auf der Grundlage dieser Unterlagen trafen anfangs die kommunalen und regionalen Instanzen der Militärregierung ihre Entscheidung über Entlassung oder Weiterbeschäftigung respektive Neueinstellung. Seit Frühjahr 1946 übernahmen die deutschen Ausschüsse die Überprüfung der Unterlagen, wozu sie stadtteil-, betriebs- oder branchenbezogene Unterausschüsse einrichteten, denen die Erstbegutachtung oblag. Auf deren Urteil hin formulierten die Ausschüsse ihre Empfehlung für die Militärregierung, seit Ende 1947 dann ihre eigenen Entscheidungen. Eine Anrufung der Berufungsausschüsse war möglich und wurde häufig genutzt.
Dem Ziel der Briten, vor allem Politik, Wirtschaft und Verwaltung zu säubern, entsprach die Altersstruktur der Überprüften. Die ganz jungen und die ganz alten Jahrgänge waren unterrepräsentiert, was wegen ihrer geringeren Erwerbsquote auch für die Frauen zutraf, die zudem überwiegend in den nicht entnazifizierungspflichtigen unteren beruflichen Hierarchien beschäftigt waren. Demgegenüber zeigt das Sozialprofil der Entnazifizierten eine deutliche Ausbuchtung bei den höheren Angestellten und den mittleren und höheren Beamten, wogegen die Arbeiter und die unteren Angestellten und Beamten klar unterproportional vertreten waren. Bei der Entnazifizierungsklientel handelte es sich also überwiegend um den männlichen Mittelstand im erwerbsfähigen Alter.[1]
In NRW wurden insgesamt circa 800.000 Personen überprüft, das heißt etwa 10 Prozent der Bevölkerung über 18 Jahre. Etwa 75 Prozent wurden in die Kategorie V ("entlastet"), circa 20 Prozent in die Kategorie IV ("Mitläufer") und nur circa 4 Prozent in die mit empfindlichen Sanktionen gekoppelte Kategorie III ("Aktivist") eingestuft. Dabei ist zwischen 1947 und 1950 ein deutlicher Trend zur Milde zu beobachten: Der Anteil der „Aktivisten“ sank von 6,1 Prozent auf 2,1 Prozent und derjenige der „Mitläufer“ von 20,7 Prozent auf 16,5 Prozent. Wie viele insbesondere der beruflichen Sanktionen umgesetzt wurden, lässt sich nicht beziffern, doch waren die Eingriffe der Besatzer in Wirtschaft und Verwaltung vor allem in den ersten Monaten offenkundig recht rigoros, wurden dann jedoch unter pragmatischen Gesichtspunkten eingeschränkt.
4. Die Entnazifizierung im zeitgenössischen Urteil
Die Entnazifizierung und insbesondere ihre Durchführung waren von Anfang an umstritten. Im Interesse an funktionsfähigen deutschen Verwaltungsstrukturen und einer materiellen Basisversorgung der Bevölkerung rückten die Besatzungsinstanzen bald von ihrer in den ersten Monaten praktizierten rigorosen Entlassungspraxis ab. Erst recht überwog auf deutscher Seite je länger je deutlicher die Kritik. Im Dezember 1948 bilanzierte Justizminister Artur Sträter (1902-1977), die Arbeit der Entnazifizierungsausschüsse sei „für einen Rechtsstaat auf die Dauer untragbar und müsse als gescheitert anerkannt werden“.[2] Diese Stimmung fand zum Beispiel in exemplarischer Weise in dem Erfolgsroman des Jahres 1951 „Der Fragebogen“ von Ernst von Salomon Ausdruck, der sich allerdings auf die amerikanische Säuberungspolitik bezog, für die der Autor, der in den 1920er Jahren selbst an rechtsradikalen Umtrieben beteiligt gewesen war, nur Hohn und Spott übrig hatte.
Organisation und Ablauf der Entnazifizierung gaben in der Tat viel Anlass zu Kritik. Der Aufbau einer zonenweit einheitlichen Überprüfungsstruktur, der einen gehörigen planerischen Aufwand und hohe organisatorische Präzision erforderte, war unter den Bedingungen der ersten Nachkriegsmonate und –jahre kaum zu bewältigen. Die Vorgaben der Besatzer änderten sich häufig, waren teils unvollständig, teils widersprüchlich, teils ungenau, was eine Flut präzisierender, ergänzender, gegebenenfalls auch sich widersprechender Erlasse zu Folge hatte. Die zeitbedingten Übermittlungsprobleme trugen das Ihrige zum Durcheinander bei.
Allerdings sind die Kritiker der Entnazifizierung zu unterscheiden in:
– Diejenigen, die unter dem Deckmantel der Kritik an Organisation und Ablauf eigentlich die gesamte Überprüfung als Rachejustiz der Siegermächte grundsätzlich ablehnten und die deutschen Mitglieder der Entnazifizierungsausschüsse, „welche die Geschäfte der Sieger besorgten“,[3] verachteten.
– Diejenigen, die wie insbesondere manche Kommunalpolitiker und Verwaltungsleiter sich primär um das Wiederingangkommen des öffentlichen Lebens sorgten und deshalb für eine zügige Abwicklung und pragmatische Urteile plädierten. Schließlich erklärte auch die Militärregierung, „dass bei der Entnazifizierung die Belange der Wirtschaft berücksichtigt werden, so dass keine lebensgefährlichen Störungen entstehen“.[4] Ebenso drangen die Gewerkschaften mit Rücksicht auf das „Wirtschaftsleben“ schon Ende 1946 auf eine schnelle Beendigung der Überprüfungen.
– Diejenigen Großorganisationen, die – wie die Kirchen und die politischen Parteien – zwar die Notwendigkeit einer politischen Reinigung betonten, aber mit Blick auf ihre Klientel schon früh für eine Begrenzung der Säuberung und für Nachsicht mit den „Mitläufern“ plädierten. So konstatierte Ministerpräsident Rudolf Amelunxen bereits im Dezember 1946, der gegenwärtige Zustand der Entnazifizierungsei sei „für alle Beteiligten unerträglich geworden“. Das Volk verlange „die Bestrafung der großen Sünder und wirklich Schuldigen“, die Verfahren gegen „alle die kleinen Mitläufer“ sollten jedoch eingestellt werden.[5]
– Diejenigen, die vom Organisationswirrwarr, der schieren Masse der Überprüfungen und der zähen Dauer vieler Verfahren, mitunter auch von mancher skandalös milden Einstufung entmutigt wurden. Sie waren nicht zuletzt unter den Mitgliedern der Entnazifizierungsausschüsse selbst zu finden, die je länger je weniger Sinn in ihrer Tätigkeit sahen und resigniert dem Ruf nach reibungsloser Abwicklung und milden Urteilen nachkamen. So sah der Berufungsausschuss Wuppertal im Herbst 1948 seine Hauptaufgabe nur noch darin, das „Unrecht“ der ersten Jahre wieder gut zu machen.[6]
5. Die Entnazifizierung im wissenschaftlichen Urteil
Ein Teil der Geschichtswissenschaft - sofern sie die Entnazifizierung überhaupt für erwähnungswert hielt – machte sich die negative Einschätzung der Zeitgenossen zunächst zu Eigen. Laut einer Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung von 1972 hatte die Entnazifizierung einen „in jeder Hinsicht unbefriedigenden Verlauf“ genommen. Irmgard Lange sprach 1976 in ihrer grundlegenden Dokumentation über die Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen von einem "trostlosen Kapitel deutscher und englischer Verwaltungsgeschichte" und Clemens Vollnhals nannte sie 1991 ein „gescheitertes Experiment“ – eine Einschätzung, die so oder ähnlich einige Lokal- und Regionalhistoriker noch in jüngster Zeit vertreten (zum Beispiel Weinforth, Schmidt/Burger, Weitz).
Dem gegenüber hatte schon 1969 die erste erwähnenswerte Studie über die Entnazifizierung von Justus Fürstenau die Richtung der wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung vorgezeichnet, indem sie „als einzigen brauchbaren Maßstab“ für die Beurteilung von Erfolg beziehungsweise Misserfolg die Frage zuließ, „ob die Entnazifizierung die Entwicklung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Deutschland gefördert oder gehemmt hat“, was sie - trotz aller Mängel bei Konzeption und Durchführung – bejahte. Vergleichbar differenziert analysierte Peter Hüttenberger 1973 die Entnazifizierung als politischen Zielkonflikt zwischen der notwendigen Absicht, den neu entstehenden Staat von nationalsozialistischen Elementen zu befreien, ohne aber dadurch zugleich deklassierte Randgruppen entstehen zu lassen. Auch Wolfgang Krüger betonte 1982 in seiner Untersuchung der Praxis der Urteilsfindung bei den Ausschüssen für die Regierungsbezirke Arnsberg und Düsseldorf neben den vielen Mängeln des Verfahrens manche positiven Effekte insbesondere für die Stabilität der entstehenden westdeutschen Demokratie.
Abgesehen von einer Dissertation über die Entnazifizierungspolitik der nordrhein-westfälischen Parteien (Krämer) und kleineren Lokalstudien, sind weitere Darstellungen der Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen beziehungsweise im nördlichen Rheinland seitdem nicht erschienen. Neue Literatur- und Forschungsberichte, zusammenfassende Überblicksartikel sowie Darstellungen zur Landeszeitgeschichte bestätigen – bei Betonung andauernder Forschungsdefizite – die im Großen und Ganzen positive Bilanz der politischen Säuberungen. Zu Recht forderte zum Beispiel Cornelia Rauh-Kühne, den Erfolg der Entnazifizierung nicht nur quantifizierend danach zu beurteilen, wie welche und wie viele Belastete welchen Sanktionen unterworfen wurden. Vielmehr komme es darauf an, „die Funktionalität der Säuberungskonzepte und ihrer Durchführung daran zu messen, ob sie zum einen den Zielsetzungen alliierter Deutschlandpolitik, zum anderen den Erfordernissen und den Möglichkeiten der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Zusammenbruchsgesellschaft entsprachen.“[7]
6. Die Bedeutung der Entnazifizierung für die deutsche Nachkriegsgesellschaft
Trotz eines wissenschaftlichen Grundkonsens über die begrenzten Möglichkeiten der Entnazifizierung und ihrer positiven systemstabilisierenden Wirkung bleiben manche Fragen insbesondere nach der gesellschaftlichen und der langfristig wirkenden sozialpsychologischen Rolle der Entnazifizierung in der deutschen Nachkriegsgesellschaft auch weiterhin offen. Nach Hüttenberger hat sie „mit größter Wahrscheinlichkeit bei der Masse der Betroffenen und deren Solidargemeinschaften einen psychisch-politischen Schock“ ausgelöst und laut Fürstenau und Krüger war sie für eine „langjährige apolitische Einstellung breiter Bevölkerungskreise“ mitverantwortlich.
Eine besondere Rolle im Prozess der kollektiven Auseinandersetzung der Bevölkerung mit ihrer Vergangenheit wird seit je den Entlastungszeugnissen zugeschrieben. Sie konnten sinnvoll sein, weil konträr zu sonstigen rechtsstaatlichen Prozeduren, bei denen einem Verdächtigen die Schuld nachgewiesen werden muss, andernfalls er als unschuldig anzusehen ist, bei der Entnazifizierung der Überprüfte seine Unbedenklichkeit selbst nachweisen musste. Dies geschah zunächst durch das Ausfüllen des Fragebogens und bei ersichtlicher politischer Belastung zum Beispiel durch die Mitgliedschaft bei NS-Organisationen gegebenenfalls durch die Vorlage ergänzender Entlastungsschreiben, die bezeugten, dass der Betreffende trotz formaler Belastung politisch tragbar sei. Angesichts mancherlei Missbrauchs kam für diese Schreiben bald die Bezeichnung „Persilschein“ auf, und auch die Wissenschaft hält das „Persilscheinunwesen“ (Hüttenberger) für ein „unseliges Kapitel“ (Prior) der Säuberungen; sie identifizierte vor allem Politiker und Geistliche als „Entnazifizierungs-Agenturen“, die in großer Zahl Gefälligkeitszeugnisse ausgestellt, und „Solidargemeinschaften“, die sich gegenseitig „weißgewaschen“ hätten. Tatsächlich aber legten – wie das Wuppertaler Beispiel zeigt – überhaupt nur 15 Prozent der Überprüften Entlastungszeugnisse vor. Nur ein einziger von ihnen „tauschte“ mit einem anderen Belasteten Zeugnisse, so dass von gegenseitigem „Weißwaschen“ keine Rede sein kann; ebenso spielten Politiker und Pfarrer für die Entlastung eine erheblich geringere Rolle, als zumeist angenommen wird. Im Übrigen spricht vieles für Krügers Beobachtung, dass die Leumundszeugnisse an Bedeutung verloren, je länger die Verfahren dauerten. „In den Vordergrund rückte das persönliche Auftreten der Betroffenen vor den Ausschüssen."
Rund ein Zehntel der Bevölkerung über 18 Jahren musste sich zwischen 1945 und 1952 einer politischen Überprüfung unterziehen. Drei Viertel von ihnen durchliefen sie ohne jegliche Beanstandung. Für die große Mehrheit der Überprüften beschränkte sich die Erfahrung mit der Entnazifizierung demnach auf das Ausfüllen eines Fragebogens und die Entgegennahme eines positiven Bescheides, so dass nur circa 3 Prozent der erwachsenen Bevölkerung nachhaltig von der Überprüfung ihrer politischen Vergangenheit tangiert wurde, sei es in Form eines langwierigen Verfahrens mit mündlicher Verhandlung und der Vorlage von Entlastungszeugnissen, sei es durch Sanktionen (die aber auf dem Weg der Berufung o.ä. häufig wieder abgeschwächt wurden).
Dass die Bedeutung der Entnazifizierung für die Befindlichkeit der Bevölkerung nicht überschätzt werden sollte, legt auch eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach in der westdeutschen Bevölkerung (also nicht nur Nordrhein-Westfalens) aus dem Jahr 1951 nahe. Auf die Frage nach dem größten Fehler der Besatzungsmächte in Deutschland taucht unter den verschiedenen Antworten die Entnazifizierung mit 6 Prozent erst an siebter Stelle auf, nach den Demontagen mit 21 Prozent, nach dem falschen Verhalten gegenüber den Russen, nach der Lebensweise der Alliierten, nach der Diffamierung und ungerechtfertigten Beschuldigung der Deutschen, der Vorenthaltung der Souveränität und den Kriegsverbrecherprozessen.
7. Fazit
Von den Briten mit unrealistischen Erwartungen über die voraussichtliche Dauer und mit unzulänglichen organisatorischen Vorgaben eingeleitet, von den Deutschen mit unterschiedlichen Erwartungen hinsichtlich Radikalität und Reichweite durchgeführt und kommentiert, von andauernden administrativen Unzulänglichkeiten behindert, im ständigen Zwiespalt zwischen Prinzipientreue und pragmatischen Kompromissen uferte die Überprüfung schnell zu einer nur routinemäßig abzuwickelnden Massenabfertigung aus, die gleichwohl lediglich eine kleine Minderheit der Bevölkerung direkt betraf. Vor allem ihre sozialpsychologische Bedeutung sollte deshalb nicht überschätzt werden; womöglich hat sie Politiker und Publizisten mehr in Anspruch genommen als die Bevölkerung selbst.
Gleichwohl war sie nicht erfolglos. Sie trug zur Konstituierung der westdeutschen Demokratie bei, indem sie mithalf, in der wichtigen Gründungsphase Nationalsozialisten eine Zeitlang von den höheren Positionen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung fernzuhalten. „Sie hat das hochgesteckte Ziel der moralischen Selbstreinigung des deutschen Volkes nicht erreicht. Aber durch sie erfolgte eine Weichenstellung, der wir heute unter anderem die Stabilität unseres politischen Systems verdanken.“[8]
Literatur
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Fritzsch, Robert, Entnazifizierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Nr. 24, 10.6.1972, S. 11-30.
Fürstenau, Justus, Entnazifizierung. Ein Kapitel deutscher Nachkriegspolitik, Neuwied 1969.
Gödde, Joachim, Entnazifizierung unter britischer Besatzung. Problemskizze zu einem vernachlässigten Kapitel der Nachkriegsgeschichte, in: Geschichte im Westen 6 (1991), S. 62-73.
Henke, Klaus-Dietmar, Die Trennung vom Nationalsozialismus. Selbstzerstörung, politische Säuberung, „Entnazifizierung“, Strafverfolgung, in: Henke, Klaus-Dietmar/Woller, Hans (Hg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991, S. 21-83.
Hüttenberger, Peter, Entnazifizierungim öffentlichen Dienst Nordrhein-Westfalens, in: Schwegmann, Friedrich Gerhard (Hg.), Die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums nach 1945. Geburtsfehler oder Stützpfeiler der Demokratiegründung in Westdeutschland? Düsseldorf 1986, S. 47-64.
Hüttenberger, Peter, Nordrhein-Westfalen und die Entstehung seiner parlamentarischen Demokratie, Siegburg 1973, S. 391.
Krüger, Wolfgang, Entnazifiziert! Zur Praxis der politischen Säuberung in Nordrhein-Westfalen, Wuppertal 1982.
Krämer, Jörg D., Das Verhältnis der politischen Parteien zur Entnazifizierungin Nordrhein-Westfalen, Frankfurt/Main [u.a.] 2001.
Lange, Irmgard (Bearb.), Entnazifizierungin Nordrhein-Westfalen. Richtlinien, Anweisungen, Organisation, Siegburg 1976, S. 58.
Martinsdorf, Eva Maria, Von den Schwierigkeiten, die Gegenwart von ihrer Vergangenheit zu "säubern" - Entnazifizierung in Köln, in: Matzerath, Horst [u.a.] (Hg.), Versteckte Vergangenheit. Über den Umgang mit der NS-Zeit in Köln, Köln 1994, S. 125-162.
Noelle, Elisabeth/Neumann, Erich Peter (Hg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, Allensbach 1956.
Prior, Anne, Entnazifizierung im Landkreis Dinslaken nach 1945. Politische Säuberung und juristische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, in: Marzin, Gisela M. (Hg.), Nationalsozialismus in Dinslaken und seine Nachwirkungen. Neue Forschungsergebnisse, Essen 2008, S. 305-391.
Rauh-Kühne, Cornelia, Die Entnazifizierung in der deutschen Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 35-70.
Schmidt, Bernhard/Burger, Fritz, Tatort Moers: Widerstand und Nationalsozialismus im südlichen Altkreis Moers, Moers 1994.
Vollnhals, Clemens (Hg.), Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949, München 1991.
Weinforth, Friedhelm, „Naziterror zwang mich…“ Über das Entnazifizierungsverfahren in Kempen, in: Heimatbuch des Kreises Viersen 45 (1994), S. 103-128.
Weitz, Reinhold, Die Entnazifizierung oder Über den Umgang mit der Vergangenheit, in: Nationalsozialismus im Kreis Euskirchen, Band 2, Euskirchen 2007.
- 1: Die Angaben erfolgen auf der Basis einer statistischen Auswertung der Entnazifizierungsakten für Wuppertal, deren Ergebnisse als repräsentativ für Nordrhein-Westfalen angesehen werden kann; Faust, Entnazifizierungin Wuppertal.
- 2: „Bilanz der Säuberung“, in: Rhein-Echo, Nr. 148 vom 18.12.1948.
- 3: So der Krefelder Unternehmer Paul Kleinewefers, Jahrgang 1905. Eine Bericht zur Zeit- und Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart/Herford 1984, S. 212.
- 4: „Die Entnazifizierung kommt“, in: Rhein-Echo, Nr. 12 vom 17.4.1946.
- 5: „Schnelle, gerechte Entnazifizierung“, in: Rhein-Echo, Nr. 79 vom 7.12.1946.
- 6: Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland, NW 1037-Gen. 101.
- 7: Rau-Kühne, Entnazifizierung, S. 35-36.
- 8: Krüger, Entnazifiziert!, S. 160.
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Faust, Anselm, Die Entnazifizierung im nördlichen Rheinland, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/die-entnazifizierung-im-noerdlichen-rheinland/DE-2086/lido/582d73e2d055e9.37648454 (abgerufen am 01.12.2024)