Thomas Mann und die Rheinlande
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1. Einleitung
Die Rheinlande sind nicht die Region, die in Thomas Manns (1875-1955) Leben und Werk einen besonderen Platz eingenommen hat, kein Vergleich mit Lübeck, München, der Schweiz oder den Vereinigten Staaten. Auch seine Romane und Erzählungen spielen überwiegend an anderen Orten; die Rheinlande fallen, wie es Hans R. Vaget treffend formuliert, „völlig aus dem Rahmen des Thomas Mannschen Œuvres“[1]. Dennoch gibt es neben zahlreichen Besuchs- und Vortragsreisen zwischen 1903 und 1932 sowie 1954 einige bemerkenswerte biographische Beziehungen des Schriftstellers zum Rheinland, namentlich seine Freundschaft mit dem Germanisten und Schriftsteller Ernst Bertram (1884-1957) sowie das philosophische Ehrendoktorat der Universität Bonn. Auch in seinem Spätwerk finden sich rheinische Bezüge: So spielt seine letzte Erzählung „Die Betrogene“ (1953) in Düsseldorf, und „Felix Krull“ (1954) verbringt seine Kindheit im Rheingau. Einige Aspekte dieser facettenreichen Beziehungen seien im Folgenden skizziert.
2. Die Besuche Thomas Manns im Rheinland
Thomas Manns erster Besuch im Rheinland datiert in das Jahr 1903. Am 1. Oktober besuchte er im Düsseldorfer Stadttheater die Premiere von Schillers „Kabale und Liebe“, in der seine Schwester Carla (1881–1910) mitwirkte. Er wohnte im Park-Hotel, einige seiner Eindrücke dieses Hotels flossen später in den Roman „Königliche Hoheit“ ein. Im Januar 1911 weilte er erneut im Rheinland, vor allem zu Vorlesungen, in Koblenz, Bonn, Düsseldorf und Mülheim an der Ruhr. In Bonn kam er in Kontakt zur dortigen Literarhistorischen Gesellschaft und zu dem Germanisten Berthold Litzmann (1857–1926) und dessen Kreis, in Mülheim an der Ruhr vermutlich mit Adeline Stinnes (1844–1925), Witwe von Hugo Stinnes (1842–1887). Die Reise „war anstrengend, bot aber viel Anregendes und Lehrreiches“[2]. Im Rahmen einer 17-tägigen Vortragsreise quer durch Deutschland und in das besetzte Belgien las er am 8.1.1918 in Essen im Kunstverein. Eine mehrwöchige Vortragsreise durch Westdeutschland vom 3.-21.11.1920 führte ihn unter anderem nach Barmen (heute Stadt Wuppertal), Elberfeld (heute Stadt Wuppertal), Düsseldorf, Essen, Bonn, Köln und Koblenz. Ebenfalls überwiegend zu Vorträgen und Lesungen besuchte er im Oktober 1922 Mülheim an der Ruhr, Duisburg und Kleve. Fraglich ist eine für Ende Januar 1924 kolportierte Lesung in Aachen. Belegt ist erst wieder ein Besuch bei Ernst Bertram in Köln-Marienburg Mitte Januar 1926 und eine Lesung in Bonn. 1927 weilte Thomas Mann zweimal im Rheinland: im Mai in Köln mit einem Abstecher zu einer Lesung in Essen und einer Besichtigung der Kruppwerke sowie eine Vortragsreise im November, im Dezember mit Terminen in Aachen, Gladbach (heute Mönchengladbach), Krefeld, Düsseldorf, Trier und Koblenz. 1928 besuchte er im Mai Ernst Bertram in Köln, las in Düsseldorf, hielt im November einen Vortrag in Duisburg und möglicherweise auch in weiteren Orten. Im November 1929 reiste Thomas Mann, dem kurz zuvor der Nobelpreis für Literatur zuerkannt worden war, erneut in das Rheinland, las in Düsseldorf und Köln, nahm an der ihm zu Ehren veranstalteten Thomas-Mann-Feier der Universität Bonn teil und beteiligte sich an einem Aufruf für ein Heinrich-Heine-Denkmal in Düsseldorf. Erst im November 1932 kehrte Thomas Mann in das Rheinland zurück, zu einem Besuch von Ernst Bertram in Köln, zu Vorträgen in Wuppertal-Elberfeld und Essen sowie zu einer Lesung im Kölner Rundfunk über die Entstehung der Buddenbrooks. Sein letzter Besuch fand erst 22 Jahre später statt, im August 1954, mit Besuchen und Lesungen in Köln und Düsseldorf und einem letzten Besuch von Ernst Bertram.
Im Einzelnen besuchte Thomas Mann folgende rheinischen Städte:
Aachen
31.1.1924 (Lesung; fraglich)
3.12.1927 (Lesung)
Barmen (heute Stadt Wuppertal)
9.11.1920 (Besuch/Lesung)
Bonn
14./17.1.1911 (Lesung)
Herbst 1918 (Besuch, fraglich)
14.–19.11.1920 (Besuch/Lesung)
14.1.1926 (Lesung)
28.11.1929 (Thomas-Mann-Feier)
Düsseldorf
1.10.1903 (Besuch)
18.1.1911 (Lesung)
11.11.1920
16.11.1922
7.12.1927 (Aufenthalt/Lesung)
24.5.1928 (Lesung)
27.11.1928 (Lesung)
25.–27.8.1954 (Besuch/Lesung)
Duisburg
5.11.1920 (Lesung/Besuch)
25.11.1928 (Lesung)
Elberfeld (heute Stadt Wuppertal)
10.11.1920 (Lesung)
8.11.1932 (Lesung)
Essen
8.1.1918 (Lesung)
13.11.1920 (Besuch/Lesung)
4.5.1927 (Lesung)
9.11.1932 (Lesung)
Gladbach (heute Mönchengladbach)
4.11.1927 (Lesung)
Kleve
18./19.11.1922 (Lesung)
Koblenz
12.1.1911 (Lesung)
9.12.1927 (Lesung)
Köln
16.11.1920 (Lesung)
13.–16.1.1926 (Besuch Ernst Bertam)
3.–6.5.1927 (Besuch)
22.–24.5.1928 (Besuch Ernst Bertram)
29.11.1929 (Lesung)
8.–11.11.1932 (Besuch Ernst Bertram/Lesung)
24.–25.8.1954 (Besuch Ernst Bertram/Lesung)
Krefeld
6.12.1927 (Lesung)
Mönchengladbach – s. Gladbach
Mülheim a.d. Ruhr
15.1.1911 (Besuch)
4.–6.11.1920 (Besuch/4.11. Lesung)
15.–17.11.1922 (Besuch)
Trier
8.12.1927 (Lesung)
Wuppertal – s. Barmen und Elberfeld
3. Die Beziehung zu dem Germanisten Ernst Bertram
Der Germanist und Schriftsteller Ernst Bertram, geboren am 27.7.1884 in Elberfeld, lebte nach seiner Promotion 1907 als Privatgelehrter in München und Elberfeld. 1910 kam es zu einem persönlichen Kontakt zwischen ihm und Thomas Mann, der sich „sehr bald von einem bloß sachlich-literarischen Gespräch zu einer Freundschaft mit dem Hause Mann, den Kindern und der Familie, entwickelte“[3] und häufigere Besuche Thomas Manns im Rheinland bedingte, wo Bertram, seit 1919 Privatdozent in Bonn und seit 1922 Professor in Köln, lebte. Bertram hatte durch seinen Lebensgefährten Ernst Glöckner Kontakte zum Kreis um Stefan George (1868-1933), ohne selbst als Georgianer zu gelten. Für das Werk Thomas Manns bedeutsam ist der enge Kontakt mit Bertram während des Ersten Weltkrieges und dessen Einflüsse auf Manns Werk „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918), das fast zeitgleich mit Ernst Bertrams „Nietzsche. Versuch einer Mythologie“ erschien. Beide sahen sich als „typische Vertreter der künstlerischen und akademischen Intelligenz, waren sich in ihrer deutsch-nationalen, anti-französischen Gesinnung einig, beide sahen sich durch die Bedrohung von außen zur Auseinandersetzung mit den Werten der eigenen Vergangenheit veranlaßt“[4]. Das mit Bertrams Unterstützung geschaffene Werk bezeichnete Thomas Mann in einem 1930 geschriebenen Rückblick als „Gedankendienst mit der Waffe, zu welchem […] nicht Staat und Wehrmacht, sondern die Zeit selbst mich ‚eingezogen‘ hatte. […] Ernst Bertram war der Vertraute meiner uferlosen politisch-antipolitischen Grübeleien“[5]. In der Zeit der persönlichen und weltanschaulich engen Vertrautheit übernahm Bertram auch die Patenschaft für Manns Tochter Elisabeth (Mann-Borgese, 1918–2002). Den Paten beschreibt Mann im „Gesang vom Kindchen“ (1919) durchaus mit Sympathie:
„Der anhängliche Freund, im wohlgeschnittenen Gehrock,
Bürgerlich vornehm, ein wenig altfränkisch, der deutsche Gelehrte
Und Poet, voll kindlich artigen Frohmuts, jedoch dem
Leiden vertraut, dem Geiste enger verbunden durch Krankheit,
Die ihm dem Leben vermählt und periodisch ihn martert.“[6]
Die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ mit ihren „oft wahrhaft fragwürdigen Meinungen“[7] waren aber mit ihrem Erscheinen kurz vor Kriegsende für Thomas Mann fast schon überholt, für ihn war der Komplex seines „geistigen Beitrags zum Kriege“ abgeschlossen[8]. Für Thomas Mann war in der Folgezeit „Nutzbarmachen der gewonnenen Einsicht, formende Verwandlung der einmal gegebenen Realität […] das Gebot der Stunde“. Dieser Weg hat die Meilensteine seiner Reden beziehungsweise Aufsätze „Von deutscher Republik“ (1922), „Pariser Rechenschaft“ (1926) und „Deutsche Ansprache (1930). Thomas Mann stand fortan auf dem Boden des demokratisch verfassten Gemeinwesens, repräsentierte einen „humanen Kosmopolitismus, der sich großzügig über alle Grenzen der Nationalität, des Glaubens und der Rassenzugehörigkeit hinwegsetzte“[9]. Bertram indes verharrte auf einem sturen Nationalismus, der möglicherweise durch Erfahrungen in dem von den Kriegsgegnern besetzten Rheinland noch verstärkt wurden. Die zunehmende politische Entfremdung hinderte Thomas Mann und Ernst Bertram nicht, ihre Beziehung auf menschlicher und literarischer Basis fortzusetzen und sich wechselseitig in Köln und München zu besuchen, auch wenn es hin und wieder zu politischen Meinungsverschiedenheiten kam. Zu einer ernsteren persönlichen Verstimmung kam es 1927, als Ernst Bertram einen Ruf als Ordinarius für Literaturgeschichte nach München, der mutmaßlich von Thomas Mann unterstützt worden war, aus persönlichen Gründen (Freundschaft zu Ernst Glöckner) ablehnte.
Das Jahr 1933, nachdem Thomas Mann ins Schweizer Exil gegangen war, brachte ein auf großer menschlicher Enttäuschung beruhendes tiefgehendes Zerwürfnis. In einem Brief an Bertram aus Küsnacht bei Zürich stellte Thomas Mann am 19.11.1933 fest: „Zu vieles steht zwischen uns, dessen briefliche Erörterung uferlos, peinlich und nicht einmal ungefährlich wäre.“ Er beklagte, Bertram habe „in all den vergangenen Monaten, den schwersten meines Lebens, da der Choc des Verlustes von Heim, Habe und Vaterland mir in allen Gliedern saß, […] nicht ein Wort des Zuspruchs und der Anteilnahme gefunden für einen Menschen und Geist, dem Ihre Jugend einiges zu danken hatte, und als Sie im Tessin eine Eisenbahn-Stunde von mir entfernt waren, haben Sie sich nicht überwunden, mich zu besuchen.“[10] Der Brief endete: „Lieber Bertram, leben Sie wohl in Ihrem völkischen Glashause, geschützt vor der Wahrheit durch eine Brutalität, die so wenig die Ihre ist. Sie wollten sich, sagten Sie des Rechtshabens nicht überheben. Nun, das wäre ja auch verfrüht. Das Leben geht weiter, und wir werden sehen, – Sie nach menschlichem Ermessen mehr als ich.“ Beigefügt sind die beiden letzten Verse aus dem Gedicht „Es sehnt sich ewig dieser Geist ins Weite“ des von beiden hochgeschätzten August von Platen (1796–1835):
„Doch wer aus voller Seele haßt das Schlechte,
Auch aus der Heimat wird es ihn verjagen,
Wenn dort verehrt es wird vom Volk der Knechte.
Weit klüger ist’s, dem Vaterland entsagen,
Als unter einem kindischen Geschlechte
Das Joch des blinden Pöbelhasses tragen.“
In den folgenden Jahren bis 1935 gab es dennoch eine gelegentliche Korrespondenz zwischen Mann und Bertram, auch ließ man sich gegenseitig Veröffentlichungen zukommen. Der briefliche Kontrakt lebte nach dem Krieg wieder auf, als Thomas Mann 1949 zum ersten Mal wieder in Deutschland weilte, auch setzte sich Mann in diskreter Form zugunsten Bertrams in dessen Entnazifizierungsangelegenheit ein. Eine letzte persönliche Begegnung in Bertrams Heim in Köln-Marienburg ergab sich bei Thomas Manns Besuch im Rheinland am 25.8.1954, über die Mann in seinem Tagebuch notierte[11]: „Freundlicher Aufenthalt in seiner sinnig-schönen Wohnung, voller persönlicher und künstlerischer Andenken. Sein Gesicht gealterte Vergangenheit. Seine gesprächige, sympathisch-altmodische Art unverändert. Herzliches Verhältnis, herzliche Verabschiedung.“
4. Die Bonner Ehrenpromotion
Der Doktor phil. h.c., den die Philosophische Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn aus Anlass der Jahrhundertfeier der Universität im August 1919 Thomas Mann verlieh, war die erste von später zahlreichen weiteren akademischen Würden und wäre als solcher kaum mehr als eine biographische Marginalie. Herausragende Bedeutung bekam dieser Ehrendoktor durch seine Aberkennung 1936, die Thomas Mann zum Anlass nahm, ernreut in aller Deutlichkeit mit dem Nationalsozialismus abzurechnen.
Zwischen Thomas Mann und der Universität Bonn bestanden in der Person des dort lehrenden Germanisten Berthold Litzmann seit 1906 Kontakte. Anfang des Jahres trat Thomas Mann der von Litzmann geleiteten Literarhistorischen Gesellschaft Bonn bei. Ernst Bertram referierte dort 1909 über Thomas Manns neuen Roman „Königliche Hoheit“. Im Januar 1911 nahm Mann an einer Sitzung der Gesellschaft teil und lernte Litzmann und seinen Kreis kennen. Die Initiative zur Bonner Ehrenpromotion ging von Litzmann aus. Ob im Vorfeld des Verfahrens Thomas Mann im Herbst 1918 mit dem Dekan der Philosophischen Fakultät zusammengetroffen ist, lässt sich nicht belegen, es gibt aber entsprechende Hinweise. Das Ehrendoktordiplom vom 3.8.1919 nennt Thomas Mann „eine[n] Dichter von großen Gaben[,] der in strenger Selbstzucht und beseelt von einem starken Verantwortungsgefühl aus innerstem Erleben das Bild unserer Zeit für Mit- und Nachwelt zum Kunstwerk gestaltet“[12]. Die tatsächlichen Hintergründe der Ehrenpromotion lässt die verlesene Laudatio genauer erkennen, die vordergründig die „Buddenbrooks“ nennt, tatsächlich aber auf den „Dichter und Schriftsteller“ zielt, der „aus innerstem Erleben Erscheinungsformen und Kräfte deutschen Wesens unserer Zeit zum Kunstwerk gestaltet“[13] und nur die bereits erwähnten „Betrachtungen eines Unpolitischen“ meinen kann. Zur Feier der Ehrenpromotion konnte Thomas Mann nicht nach Bonn reisen, er schrieb aber dem Dekan am 27. September, dass er „den mir verliehenen Titel mit Stolz und dem Bemühen führen [werde]. der Fakultät, der ich nun verbunden bin, durch das Tagwerk meiner Hände Ehre zu machen“[14]. Zehn Jahre später, am 28.11.1929, veranstaltete die Universität Bonn eine Thomas-Mann-Feier, an der der Geehrte beziehungsweise zu Ehrende teilnahm. In seinem „Lebensabriß“ (1930) erinnerte sich Mann: „Das Stockholmer Vorkommnis [Literaturnobelpreis] verlieh einer von längerer Hand her verabredeten Vortragsreise ins Rheinland einen besonderen, festlichen Akzent. Die Feier in der Aula der Universität Bonn, deren philosophische Fakultät mich kurz nach dem Kriege zum Doktor h.c. promoviert hatte, bleibt mir unvergesslich durch einen jugendlichen Zudrang, der nach Aussage besorgter Professoren den Fußboden des alten Saales auf eine bedenkliche Belastungsprobe stellte.“[15]
Der nächste unmittelbare Kontakt zwischen der Universität Bonn und ihrem Ehrendoktor war eine dürre Mitteilung des Dekans der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn vom 19.12.1936 an „Herrn Schriftsteller Thomas Mann“: „Im Einverständnis mit dem Herrn Rektor der Universität Bonn muß ich Ihnen mitteilen, daß die Philosophische Fakultät der Universität Bonn sich nach Ihrer [am 2.12.1936 erfolgten] Ausbürgerung genötigt gesehen hat, Sie aus der Liste der Ehrendoktoren zu streichen. Ihr Recht, diesen Titel zu führen, ist gemäß § 8 unserer Promotionsordnung erloschen.“[16]
Thomas Mann nahm diese Mitteilung zum Anlass einer ausführlichen Antwort an den Dekan der Philosophischen Fakultät, den er aber „nur als Zufallsadressaten dieser Ihnen kaum zugedachten Äußerung“ bezeichnete[17], um mit dem Nationalsozialismus gründlich abzurechnen. Diese als „Briefwechsel mit Bonn“ außerhalb Deutschlands rasch verbreitete Stellungnahme, die bis heute einer der Höhepunkte in seiner schriftstellerischen Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ ist, nannte Mann in seinem Tagebuch am 1.1.1937 als „wichtige[n] und mich beglückende[n] Schritt, von de[m] ich mir weitreichende innere Wirkungen verspreche“. Eine dieser weitreichenden inneren Wirkungen war gewiss, dass Thomas Mann sich spätestens 1940 entschloss, auf Dauer nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren.
Die Aberkennung des Ehrendoktorats von Thomas Mann erwies sich nach Kriegsende als ein großer Imageschaden für die Universität Bonn. So verwundert es nicht, dass die Philosophische Fakultät sich bereits im Jahre 1945 beeilte, diesen Schritt rückgängig zu machen. Allerdings brauchte es dann über ein Jahr, bis man es für geboten ansah, Thomas Mann davon zu unterrichten, weil es die „Würde der Fakultät verboten“ habe, „den Eindruck einer billigen Geste zu erwecken oder gar eine Ablehnung zu erfahren“, wie es im Schreiben der Fakultät vom 5.12.1946 an Thomas Mann hieß[18]. Es war die Rede von den „peinlichen Umstände[n], unter denen Ihnen im Dezember 1936 das Ehrendoktorat […] entzogen wurde“, den die Fakultät vollmundig als „kulturfeindlichen Akt der nationalsozialistischen Zeit“ bezeichnete, der ihr „aufgezwungen worden war“, was eine gelinde Übertreibung ist. Der frisch erneuerte Bonner Ehrendoktor Thomas Mann dankte am 28.1.1947[19] aus dem kalifornischen Pacific Palisades „herzlich und feierlich […] für die Erneuerung des Ehren-Doktor-Diploms und für die schönen, alles sagenden Briefe“, was er gewiss mehrdeutig meinte, und fuhr fort: „Wenn etwas meine Freude und Genugtuung dämpfen kann, so ist dies der Gedanke an den entsetzlichen Preis, der gezahlt werden mußte, ehe Ihre berühmte Hochschule in die Lage kam, den erzwungenen Schritt von damals zu widerrufen. Das arme Deutschland! Ein so wildes Auf und Ab seiner Geschichte ist wohl keinem anderen Land und Volk beschieden gewesen.“ Zu näheren Beziehungen zwischen Thomas Mann und der Universität Bonn ist es in den Folgejahren nicht mehr gekommen, abgesehen von Glückwünschen zu Thomas Manns 80. Geburtstag 1955. Die Teilnahme an einer von der Universität angeregten besonderen Thomas-Mann-Feier aus diesem Anlass lehnte Mann letztlich aus terminlichen Gründen ab[20].
5. „Die Betrogene“
Thomas Manns letzte, 1953 erschienene Erzählung ist seine einzige Dichtung, deren Handlung ausschließlich im Rheinland spielt, genauer gesagt in Düsseldorf. Die Erzählung handelt von einer Rosalie von Tümmler, einer etwa 50-jährigen, vom Klimakterium geplagten Witwe, die mit ihren zwei Kindern (Sohn und Tochter) in den 1920er Jahren in Düsseldorf lebt. Sie verliebt sich in den amerikanischen Sprachlehrer ihres Sohnes, Ken Keaton. Sie gesteht ihm ihre Liebe gelegentlich eines Besuches im Schloss Holterhof, für das als Vorbild Schloss Benrath gedient hat. Bevor es jedoch zur für denselben Abend verabredeten körperlichen Vereinigung kommt, erleidet Renate von Tümmler eine starke Blutung, die sie zunächst für eine Menstruation hält, die tatsächlich aber von einer fortgeschrittenen Krebserkrankung stammt, an der sie wenig später stirbt.
Der Sachverhalt stützt sich auf eine Thomas Mann von seiner Frau Katia (1883–1980) im April 1952 erzählten tatsächliche Begebenheit aus der guten Münchner Gesellschaft. Die Adaption des Themas durch Thomas Mann erfolgt in der für ihn charakteristischen Art der Vermengung des eigentlichen Geschehnisses mit auch autobiographischen Elementen (auf die vielfältigen anderen Aspekte, die zudem in die Erzählung eingeflossen sind, wird im Rahmen dieses Beitrags nicht näher einzugehen sein). Das Element einer tödlichen oder zumindest potentiell tödlich verlaufenden Krebserkrankung war Manns eigene Krankheitserfahrung 1946, als bei ihm ein Lungenkrebs erkannt und operativ entfernt werden konnte, obwohl er von der Art seiner Krankheit nie etwas wissen sollte (oder wollte). Der Bezug hierzu liegt auf der Hand, denn Mann, 1952 noch in Kalifornien lebend, ließ sich über den Gebärmutterkrebs von dem Arzt informieren, der seinerzeit bei ihm den Lungenkrebs diagnostiziert hatte, dem aus Berlin stammenden Internisten Fredrick Rosenthal (geboren 1902). In tiefere (homoerotische oder bisexuelle) Schichten der eigenen Biographie greift die Wahl Düsseldorfs als Ort der Handlung. Aus Düsseldorf stammte Klaus Heuser (1910–1994), Sohn eines Professors an der Düsseldorfer Kunstakademie, den Thomas Mann 1927 in Sylt kennenlernte, sich in ihn verliebte und später mehrfach zu sich nach München einlud. Das Erlebnis Klaus Heuser verwob sich mit Manns „letzte[r] Liebe“ zu einem aus Bayern stammenden Kellner in einem Schweizer Hotel 1950, in deren Zusammenhang er nicht ohne Grund auch auf Heuser – „der mir am meisten Gewährung entgegenbrachte“[21] – zu sprechen kam. Nachdem somit Handlung, Ort und Leitmotiv der Erzählung feststanden, orientierte sich Mann näher über Details des Ortes, den er möglichst authentisch schildern wollte. Seine aus dem Rheinland stammende Bekannte, die Sängerin Grete Nikisch (1887–1950), orientierte ihn auf Befragen über nähere Einzelheiten, schickte ihm unter anderem das gerade erschienene Merian-Heft über Düsseldorf, das eine Fülle von wertvollen historischen und topographischen Details enthielt. Ergänzende Hinweise gab Nikischs Neffe, der Düsseldorfer Rechtsanwalt Dr. Rudolf Oberloskamp (gestorben 1996), unter anderem zur Düsseldorfer Pegeluhr und zu einer Schifffahrt von Düsseldorf nach Benrath. Eine weitere von Mann ausgiebig genutzte Quelle war der 1939 erschienene Roman „Der Wandelstern“ von Emil Barth (1900–1958). In dem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass nicht nur Schloss Benrath als Ort der erwähnten Begegnung hätte in Frage kommen können: Thomas Mann erkundigte sich bei Grete Nikisch auch nach linksrheinischen Gegebenheiten, etwa nach Haus Meer und der dorthin bestehenden Straßenbahnverbindung.
Das Thema Düsseldorf, Thomas Mann und Klaus Heuser, wie erwähnt einer der autobiographischen Hintergründe der „Betrogenen“, hat im Jahre 2013 eine hier zumindest anzumerkende weitere literarische Adaption gefunden. In seinem Roman „Königsallee“ schildert Hans Pleschinski (geboren 1956) recht phantasievoll den Besuch Thomas Manns in Düsseldorf im August 1954 und ein fiktives Wiedersehen mit Klaus Heuser.
Literatur
[BrHM] Thomas Mann – Heinrich Mann, Briefwechsel 1900–1949, hg. v. Hans Wysling, 3. erweiterte Auflage, Frankfurt am Main 1991.
Bürgin, Hans/Mayer, Hans-Otto, Thomas Mann. Eine Chronik seines Lebens, Frankfurt am Main 1974.
Heine, Gert/Schommer, Paul, Thomas Mann Chronik, Frankfurt am Main 2004.
Hübinger, Paul Egon, Thomas Mann, die Universität Bonn und die Zeitgeschichte. Drei Kapitel deutscher Vergangenheit aus dem Leben des Dichters 1905–1955, München/Wien 1974.
Jens, Inge (Hg.), Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–1955, Pfullingen 1960.
Kurzke, Hermann, Die Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Thomas-Mann-Handbuch, S. 678–695.
Mann, Thomas, Erzählungen. Fiorenza. Dichtungen (Gesammelte Werke 8), Frankfurt am Main 1974.
[Tagebücher] Mann, Thomas, Tagebücher 1918–1921, hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1979; Tagebücher 1953–1955, hg. v. Inge Jens, Frankfurt am Main 1995.
Thomas-Mann-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann, 3. aktualisierte Auflage, Stuttgart 2001
Vaget, Hans Rudolf, Die Betrogene, in: Thomas-Mann-Handbuch, S. 610–618.
- 1: Vaget, S. 614.
- 2: BrHM, S. 156.
- 3: Jens, S. 294.
- 4: Jens, S. 295.
- 5: Zitat nach Jens, S. 295.
- 6: Mann, Erzählungen, S. 1095.
- 7: Kurzke, S. 695.
- 8: Zitat nach Jens, S. 296.
- 9: Jens, S. 297.
- 10: Jens, S. 177.
- 11: Tagebücher 29.8.1954.
- 12: Hübinger, S. 370.
- 13: Hübinger, S. 370.
- 14: Hübinger, S. 372
- 15: Zitat nach Hübinger, S. 381.
- 16: Hübinger, S. 561-562.
- 17: Hübinger, S. 563.
- 18: Hübinger, S. 593-594.
- 19: Hübinger, S. 596-597.
- 20: Ein Akt besonderer Vergangenheitsbewältigung des gesamten Themas ist die von dem Bonner Historiker Paul Egon Hübinger (1911–1987) ab 1964 vorbereitete und 1974 veröffentlichte Dokumentation „Thomas Mann, die Universität Bonn und die Zeitgeschichte“.
- 21: Tagebücher, 16.7.1950.
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Lilla, Joachim, Thomas Mann und die Rheinlande, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/thomas-mann-und-die-rheinlande/DE-2086/lido/5d0ca47a2ac694.83774961 (abgerufen am 06.10.2024)