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Carl Sonnenschein arbeitete ab 1906 in Mönchengladbach beim „Volksverein für das katholische Deutschland", dem größten Sozialverband, den der deutsche Katholizismus je hervorgebracht hat. Für ihn baute er das „Sekretariat Sozialer Studentenarbeit" auf, das Studenten mit der Arbeitswelt bekannt und sie auf die mit der Industrialisierung verbundenen sozialen Probleme aufmerksam machen wollte. Ende 1918 ging er nach Berlin, wo er sich den Ruf eines „Großstadtapostels" erwarb.
Am 15.7.1876 wurde Sonnenschein in Düsseldorf als Sohn des Klempners und Installateurs Ernst Sonnenschein (1844-1878) und seiner Frau Maria Lütgenau (1852-1901) geboren. Nach seinem Abitur 1894 ging er zum Studium der katholischen Theologie nach Bonn, wurde aber schon nach einem Semester vom Erzbistum Köln nach Rom an das von den Jesuiten geleitete Studieninstitut „Collegium Germanicum et Hungaricum" entsandt und studierte an der dortigen päpstlichen Universität „Gregoriana". 1897 schloss er seine philosophischen und 1900 seine theologischen Studien jeweils mit dem Doktorgrad ab, den man ohne schriftliche Arbeit in einer Art Streitgespräch erwarb. Am 28.10.1900 wurde er in Rom zum Priester geweiht. Während seiner römischen Jahre hatte er gelernt, fließend italienisch zu sprechen und hatte Kontakt zu den führenden Vertretern der italienischen christlichen Demokratie gefunden. Von 1898 bis 1901 wirkte er an deren Zeitschrift „Cultura Sociale" mit. Hier berichtete er unter dem Pseudonym Lujo Saalenstein u.a. über Deutschland. Sein ganzes Leben blieb er journalistisch tätig und verfasste über 200 Zeitungsartikel.
1900 organisierte Sonnenschein den ersten internationalen katholischen Studentenkongress in Rom, auf dem mit päpstlicher Erlaubnis über die im Katholizismus umstrittene christliche Demokratie gesprochen wurde. Auch die führenden Kräfte dieser Bewegung, der italienische Geistliche Romolo Murri (1870-1944) und der französische Politiker Marc Sangnier (1873-1950), der Gründer der christlich-demokratischen Bewegung „Le Sillon" in Frankreich, nahmen daran teil. Beide gerieten später mit der katholischen Kirche in Konflikt.
1902 kam Sonnenschein in das Kölner Erzbistum zurück und begann seinen seelsorgerischen Dienst als Kaplan an der Pfarre St. Jakob in Aachen. Von dort wechselte er 1903 nach St. Marien in Köln-Nippes und 1904 an die Herz-Jesu-Pfarre in Wuppertal-Elberfeld. 1905 griff er in den Streik der Arbeiter beim Rathausneubau in Remscheid ein und verhinderte, dass Italiener als Streikbrecher eingesetzt wurden. Ein gegen ihn angestrengtes Ermittlungsverfahren wurde schließlich eingestellt.
Bei seinen geistlichen Vorgesetzten hatte er sich damit unbeliebt gemacht. Deshalb war man froh, dass er 1906 zum „Volksverein für das katholische Deutschland" nach Mönchengladbach ging. Hier rief er das Sekretariat Sozialer Studentenarbeit ins Leben und machte sich zur Aufgabe, die Kluft zwischen Arbeitern und Studenten zu überwinden und die zukünftigen Ärzte, Lehrer, Rechtsanwälte, Richter, Ingenieure und höheren Beamten mit den Problemen der Arbeitswelt in Kursen und durch Zeitschriften wie die „Sozialen Studentenblätter" und „Die Schildgenossen" sowie andere Veröffentlichungen bekannt zu machen. Er hielt manchen Studenten wegen ihres dünkelhaften Verhaltens schonungslos den Spiegel vor.
Während des Gewerkschaftstreits innerhalb des deutschen Katholizismus setzte sich Sonnenschein kompromisslos und wortgewaltig für die christlich-überkonfessionellen Gewerkschaften ein. Daraufhin beschuldigten ihn die Gegner des „Volksvereins" zu Unrecht, vom gebotenen katholischen Glauben abzuweichen und verdächtigten ihn, ein Abtrünniger zu sein. Mit dem Generaldirektor des „Volksvereins", dem Geistlichen August Pieper (1866-1942) bekam er Schwierigkeiten, weil diesem Sonnenscheins impulsive Art fremd blieb und er ihn für einen flüchtigen „Fassadenmaler" hielt. Zu einem offenen Zerwürfnis kam es aber nicht.
Während des Ersten Weltkriegs verlor Sonnenschein nicht anders als Pieper sein Gespür für das rechte Maß und ließ sich von der allgemeinen nationalen Kriegsbegeisterung anstecken. 1915 wurde er Vorstandsmitglied der Deutsch-Flämischen Gesellschaft, welche die Flamen in ihrem Sprachenkampf unterstützte.
Nach der Besetzung der Stadt Mönchengladbach durch belgische Truppen im November 1918 musste Sonnenschein die Stadt fluchtartig verlassen. In Berlin fand er Zuflucht. Sein Interesse für die studentische Bewegung blieb erhalten. 1921 wurde er Mitarbeiter der internationalen katholischen Studentenorganisation „Pax Romana", an deren erstem Kongress er in Rom teilnahm. 1922 übernahm er das Amt des Berliner katholischen Studentenseelsorgers. Außerdem scharte er Studenten um sich, die er für praktisch-soziale Tätigkeiten gewann, und die er durch seine unermüdliche Tatkraft begeisterte. 1925 kam es zum endgültigen Bruch mit dem „Volksverein", der seine Tätigkeiten nicht mehr weiter finanzieren wollte.
In der Großstadt Berlin entfaltete Sonnenschein eine rastlose Geschäftigkeit. Er gründete den „Kreis der Freunde des Sekretariats Sozialer Studentenarbeit", das „Allgemeine Arbeitsamt", den „Kreis katholischer Künstler", die „Katholische Volkshochschule", die „Akademische Lesehalle", den „Geschichtsverein Katholische Mark", den „Märkischen Wassersportverein" u.a. Ab 1924 betreute er das Berliner Kirchenblatt. Er war zudem politisch tätig und kandidierte bei den Reichstagswahlen vom 20.5.1928 auf der Liste der Berliner Zentrumspartei, ohne aber gewählt zu werden. Dem Kaiserreich trauerte er nicht nach und hatte keine Schwierigkeiten, sich zur Weimarer Republik zu bekennen. Die Fürstenentschädigung nach dem Ersten Weltkrieg lehnte er ab und trat für eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten auf Reichsebene ein.
Sonnenschein verstand es, das Vertrauen vieler Menschen zu finden, für die er sich selbstlos einsetzte und deren Nöte er zu lindern versuchte. Er führte eine große Namenskartei, auf der er vermerkte, wen er für was einsetzen konnte. Sonnenschein kam mit wenig aus, verlangte nichts für sich und galt deshalb als moderner Franziskus. Er war eine stadtbekannte Persönlichkeit, die gläubige und ungläubige Menschen in ihren Bann zog. Sonnenscheins Predigten, mit denen er ein breites Publikum erreichte, wurden gerühmt. Von 1925 bis 1929 erschienen in zehn Heften seine heute noch lesenswerten „Notizen" im Verlag der Berliner Tageszeitung „Germania". Sie führen den Untertitel „Weltstadtbetrachtungen" und sind erkennbar vom expressionistischen Sprachstil seiner Zeit beeinflusst.
Sonnenschein starb am 20.2.1929 in Berlin an einem Nierenleiden, noch nicht ganz 53 Jahre alt. An seinem Begräbnis nahmen viele Tausend Menschen teil. Der Trauerzug zog sich stundenlang hin. Sein langjähriger Sekretär Wilhelm Deling (1888-1962) fand die richtigen Worte, als er meinte: "Sonnenschein lebte wie ein Bettler und starb wie ein König". Seine letzte Ruhestätte fand der Verstorbene auf dem Alten Domfriedhof der St.-Hedwigsgemeinde an der Liesenstraße.
Quellen (Werke)
Aus dem letzten Jahrzehnt des italienischen Katholizismus, Wuppertal-Elberfeld 1906.
Die sozialstudentische Bewegung, Paderborn 1909.
Notizen. Weltstadtbetrachtungen, 10 Hefte, Berlin 1925-1929.
Notizen aus den aus den Weltstadtbetrachtungen, hg. von Maria Grote, 2 Bände, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1951/1952.
Sonntagsevangelien, 3. Auflage, Berlin 1935.
Literatur
Grote, Maria, Dr. Carl Sonnenschein in Berlin, Berlin 1957.
Grothmann, Detlef, „Sonnenschein, Carl", in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 10 (1995), Sp. 793-796.
Löhr, Wolfgang, Carl Sonnenschein, in: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Band 4, Mainz 1980, S. 92-102, 271.
Schwedt, Herman H., Carl Sonnenschein, in: Geschichte im Bistum Aachen, Beiheft 5 (2007), S. 65-93.
Thrasolt, Ernst, Carl Sonnenschein, München 1930.
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Löhr, Wolfgang, Carl Sonnenschein, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/carl-sonnenschein/DE-2086/lido/57c9534632f287.65827685 (abgerufen am 13.12.2024)