Der gute Werner von Oberwesel - oder die hohe Kunst, einen Heiligen zu erschaffen
Zu den Kapiteln
Schlagworte
1. Zwei mittelalterliche „Heiligenschicksale“ vom Mittelrhein
Immer wieder fragt man sich, wieso die heilige Hildegard von Bingen (1098-1179), die jüngst von Papst Benedikt XVI. (Pontifikat 2005-2013) als erst vierte Frau der Geschichte überhaupt zur Kirchenlehrerin erhoben worden ist, nach ihrem Tod über Jahrhunderte hinweg zunächst so weitgehend in Vergessenheit geraten konnte. Aus Sicht des Landeshistorikers indes ist diese „Verspätung“ erklärbar: Es lag sicher nicht (nur) an ihr, sondern vor allen Dingen an Hildegards Um- und Nachwelt, dass der rheinischen Prophetin die höchste Anerkennung aus Rom so lange verwehrt geblieben ist. Denn auch für Heilige gilt, dass sie nur so populär werden können, wie ihr Ruf von den Nachlebenden verbreitet wird. Lebe heiligmäßig, sieh’ aber zu, dass die nächste Generation auch ausreichend darüber redet – so ließe sich etwas überspitzt eine Anleitung zum Heiligwerden formulieren. Hildegard war dieses Glück nicht vergönnt. Zwar hat sie selbst in ihren letzten Lebensjahren äußerst geschickt an ihrem Nachbild gearbeitet. Nach ihrem Tod aber hatte man in Hildegards Umfeld offensichtlich kein gesteigertes Interesse mehr an einem neuen Heiligenkult. Als im Jahr 1233 zwei Mainzer Prälaten auf den Rupertsberg kamen, um Zeugenaussagen für den schließlich nur mühsam in Gang geratenen, letztlich aber doch erfolglosen Kanonisationsprozess aufzunehmen, fragten sie die Nonnen, warum man in jüngster Zeit so rein gar nichts mehr von Wundern am Grab der große Äbtissin höre. Antwort der Schwestern: Als der Herr nach ihrem Tod so viele Wunder zeigte und der Zustrom der Leute zu ihrem Grab so groß wurde, da wurden Kult und Gottesdienst durch den Lärm der Leute so sehr gestört, dass [wir] es dem Herrn Erzbischof berichteten. Deshalb kam er persönlich zu dem Ort und befahl ihr, mit den Zeichen aufzuhören.[1]
Heilige werden also gemacht – oder eben auch nicht. Dass letzteres zunächst auf Hildegard zutraf, jene elitäre, unbequeme, zudem kaum verständliche Prophetin mit geringer Aussicht auf hohe Popularitätswerte, ist im Grunde nicht weiter verwunderlich.
Ein völlig entgegen gesetztes mittelalterliches „Heiligenschicksal“ indes lässt sich nur wenige Kilometer rheinabwärts von Hildegards Wirkungsstätte studieren: Die Geschichte der Kultentstehung um den sogenannten „guten Werner“ von Oberwesel (oder Bacharach) ist geradezu das Paradeexempel dafür, wie im 13. Jahrhundert am Mittelrhein ein Heiliger ganz gezielt kreiert werden konnte – ein Heiliger zumal, der, anders als Hildegard, keinerlei besonderen persönliche Verdienste aufzuweisen hatte, sondern als bedauernswertes Verbrechensopfer lediglich Gegenstand einer durchaus unheiligen, aber sehr erfolgreichen Inszenierung durch interessierte Zeitgenossen wurde.
2. Ein angeblicher „Ritualmord“
Als im April 1287, wohl im Wald des abgelegenen Windsbachtals bei Bacharach, die Leiche eines grausam zugerichteten Knaben gefunden wurde, dauerte es nicht lange, bis schlimme Gerüchte die Runde machten.[2] Die Juden von Oberwesel, so hieß es, hätten den jungen Tagelöhner Werner aus Womrath im Hunsrück als Hilfsarbeiter angeworben, ihn so in eines ihrer Häuser gelockt und ihn dort getötet. Noch während das Mordopfer, wie es die Gerichtsordnung erforderte, drei Tage lang in Bacharach zur öffentlichen Leichenschau aufgebahrt lag, meldete sich eine Zeugin, die gesehen haben wollte, wie der Junge in dem Haus gefoltert und gekreuzigt worden sei. Der von ihr benachrichtigte Schultheiß indes habe, von Judengeld bestochen, die Tat geschehen lassen. Außerdem wurde berichtet, vom Leichnam gingen Wohlgeruch und Lichtzeichen aus, ein typisches und untrügliches Zeichen von Heiligkeit. Alles schien dafür zu sprechen, dass der Tote ein Märtyrer war, von den verstockten Juden am Karfreitag wie ein zweiter Christus hingerichtet. Und siehe da: Kaum war der Tote feierlich eingekleidet in der alten Kunibertskapelle über der Stadt Bacharach in einem Sarkophag bestattet worden, da setzten auch schon die Mirakel an seinem Grabe ein. Innerhalb von nur wenigen Wochen, zwischen dem 30.4. und dem 3.6.1287, so konnte man später auf einer Tafel neben dem neuen Heiligen lesen, seien hier 90 Wunderheilungen vonstatten gegangen. Grausam allerdings waren die Begleitumstände der schnellen Märtyrerpopularität: Innerhalb kürzester Zeit entlud sich die Wut auf die Juden, die den Knaben ermordet haben sollten, in verheerenden Pogromen. In vielen Orten an Rhein und Mosel fielen die Juden diesem Gewaltausbruch zum Opfer, so in Oberwesel, Boppard, Braubach, Oberlahnstein und Koblenz, aber auch in Cochem und Bernkastel und womöglich im niederrheinischen Kempen und in Bonn - die erste flächendeckende Verfolgungswelle des Mittelalters, der leider in den folgenden Jahrzehnten weitere folgen sollten, beendete eine bis dahin über fast zwei Jahrhunderte währende Phase relativ friedlicher Koexistenz von Christen und Juden am Rhein.
Zwar waren Juden in Deutschland auch zuvor schon verschiedentlich Ritualmordvorwürfen ausgesetzt gewesen: zuerst 1235 in Fulda, dann 1243 in Kitzingen, 1265 in Koblenz und Sinzig, 1281 und 1283 in Mainz, Kreuznach und Rockenhausen. Es kam dabei zu schlimmen Erscheinungen, zu grausamen Misshandlungen und Morden an den Juden in einzelnen Städten als Vergeltung für deren angebliche Untaten. Doch nirgendwo entfachte der Aufruhr einen judenmörderischen Flächenbrand und an keinem Ort etablierte sich ein dauerhafter Kult um das vermeintliche Ritualmordopfer - bis zu den Ereignissen vom April 1287. Mit dem in Bacharach erhobenen Vorwurf erlangte die grausame Legende vom jüdischen Ritualmord eine nie dagewesene Qualität und Popularität. Erstmals mündete hier der Vorwurf in einen Märtyrerkult, brachte bald den bekanntesten rheinischen Heiligen hervor. In Bacharach entstand ein erster topographisch verfestigter, stets judenfeindliche Gesinnung anstachelnder Erinnerungsort, das älteste Denkmal des Antijudaismus in deutschen Landen.
3. Das Vorbild: Norwich 1144
Annähernd Vergleichbares hatte es zuvor erst einmal in ganz Europa gegeben: Anno 1144 im englischen Norwich, wo Juden angeblich einen Knaben namens Wilhelm gekauft, gefoltert und ihn - wie Christus - an Karfreitag gekreuzigt und begraben hätten.[3] Nachdem ihn Gott jedoch als heiligen Märtyrer offenbarte, hätten Mönche ihn feierlich ins Kloster überführt, wo er die verschiedensten Wunder gewirkt habe und alsbald zum Ziel zahlreicher Wallfahrten wurde. Das war die Geburtsstunde der in den folgenden Jahrhunderten in ganz Europa so verheerend wirkenden Ritualmordlegende überhaupt - und zugleich eines populären Märtyrerkultes, der durch eine Schrift des Benediktinermönches Thomas von Monmouth (gestorben 1172) „Über Leben und Wunder des heiligen Märtyrers Wilhelm von Norwich“ noch maßgeblich gefördert worden war. Dieses Buch schildert in zahlreichen phantasievoll-grausamen Details die Passion des Jungen unter den Händen seiner angeblich jüdischen Peiniger, berichtet von den Ereignissen nach seinem Tod und schließt mit den zahlreichen Wundern am Grabe.
Schon mehrfach haben Forscher, die sich mit der Entstehung des Wernerkultes von Bacharach beschäftigt haben, darauf hingewiesen, welch frappierende Ähnlichkeiten manches in den Quellen geschilderte Detail der Bacharacher Ereignisse von 1287 mit dem Bericht des Thomas von Monmouth aus dem Jahrhundert zuvor aufweist. Dieser bislang eher beiläufig geäußerte Befund soll hier einmal ausführlicher gewürdigt werden, denn er ist im Grunde genommen von fundamentaler Wichtigkeit für eine noch ausstehende regional- oder stadtgeschichtlich orientierte Analyse der Kultentstehung um den „guten Werner“. Denn: Kann es wirklich Zufall oder gar göttliche Fügung sein, wenn die Leidensgeschichte des vermeintlichen Märtyrers Werner derjenigen des mehr als 100 Jahre älteren William so verblüffend ähnlich sieht? Viel eher wird man hier doch wohl sehr irdisches Walten vermuten müssen. Die Frage lautet also: Gab es in Bacharach Anno 1287 Kräfte, die gezielt unter Rückgriff auf das Heiligenbuch von Norwich einen ganz ähnlichen und vor allen Dingen ebenso erfolgreichen Heiligenkult etablieren wollten? Und ist es möglich, einzelne Akteure in diesem Schauspiel oder vielleicht sogar einen möglichen Regisseur der ganzen Inszenierung namhaft zu machen?
4. Die grausame Inszenierung von Bacharach und Oberwesel
Schauen wir uns unter diesem Gesichtspunkt die Bacharacher Ereignisse vom Frühjahr 1287 noch einmal an. Ein erstes Indiz dafür, dass die Heiligenvita aus Norwich tatsächlich als Regieanweisung am Rhein genutzt wurde, liefert schon der angebliche Ort der Auffindung von Werners Leiche: Sie lag nach Ausweis der meisten Quellen inmitten von Gestrüpp in einem einsamen Waldstück am Windsbach im Viertälergebiet zwischen Rheindiebach und Bacharach. In ebensolcher Umgebung aber war mehr als 100 Jahre zuvor auch schon der kleine William von Norwich gefunden worden. Mit diesem womöglich also bereits inszenierten Fundort aber stellte sich den Heiligenmachern von Bacharach zugleich auch schon das erste große Problem, das es zur erfolgreichen Etablierung eines Märtyrerkultes zu lösen galt: Wollte man den hier entdeckten Leichnam als jüdisches Ritualmordopfer „verkaufen“, war Kreativität gefragt, denn im Viertälergebiet lebten damals überhaupt keine Juden mehr. Erst vier Jahre zuvor, 1283, war die damals bereits stattliche Gemeinde von Bacharach einem Pogrom zum Opfer gefallen, nachdem in Mainz das Gerücht von einem Ritualmord die Runde gemacht hatte. Man musste also auf die benachbarte Oberweseler Judenschaft als Sündenbock zurückgreifen und das Mordsgeschehen nach dorthin verlagern. So ließ sich denn berichten, Werner habe als Tagelöhner bei einem jüdischen Auftraggeber in Oberwesel angeheuert, von dem er dann gefoltert und ermordet worden sei. Damit wiederum befand man sich in der Tradition von Norwich: Auch hier soll der Knabe als Aushilfshandwerker von Juden gedungen worden sein und durch sie Martyrium und Mord erlitten haben. Zwar blieb nun noch zu erklären, wie die Leiche danach an den Windsbach gekommen ist, doch das ließ sich machen: Angeblich hätten die Täter versucht, die Leiche auf dem Rhein von Oberwesel nach Mainz zu schaffen, seien jedoch – durch göttliche Fügung, versteht sich – rheinaufwärts nicht weiter als bis zur Windsbachmündung gelangt, wo sie den Toten dann kurzerhand im Wald versteckt hätten. Auch in der Heiligenvita von Norwich steht eine umfangreiche Passage, in der die Mörder den heimlichen Transport der Leiche vom jüdischen Mörderhaus an den späteren Fundort im Wald planen, diesen dann aber wie später am Rhein aufgrund störender Umstände nur notdürftig ausführen können.
Mehr Schwierigkeiten konnte den Bacharacher Heiligenmachern indes ein anderer Aspekt dieser Translations-Lesart bereiten. Wenn das Ganze sich nun in Oberwesel zugetragen hätte, hätte man doch dort auch allen Grund gehabt, den Heiligen für sich selbst zu beanspruchen anstatt ihn großzügig den Bacharachern zu überlassen. Darauf hatte bereits Ferdinand Pauly in seinem grundlegenden Aufsatz zur Werner-Legende von 1964 hingewiesen, während die nachfolgende Forschung dieses ernsthafte Problem der Bacharacher Inszenierung nicht mehr thematisierte. Ein Streit zwischen Nachbarn um den Verbleib wertvoller Reliquien wäre aber durchaus zu erwarten gewesen und ist zum Beispiel aus Bingen überliefert, wo die Bürger wohl schon vor 1200 mit den Eberbacher Mönchen über die Grabstätte eines hochverehrten Einsiedlers im Binger Wald uneinig waren. Im Fall des Wernerleichnams hören wir jedoch nichts von derartigen Unstimmigkeiten – ganz im Gegenteil: die Quellen erwecken den Eindruck eines sehr einträchtigen Vorgehens von Akteuren beider Orte. Schon der Umstand, dass sich unter den ersten 13 Wallfahrern, die am Wernergrab zu Bacharach von ihren Gebrechen befreit wurden, bereits fünf Oberweseler – darunter auch ein Mitglied des führenden städtischen Rittergeschlechts von Schönburg – befanden, lässt vermuten, dass man in Oberwesel mit dem Lauf der Dinge durchaus einverstanden war. Tatsächlich wäre es ohne vorherige Abstimmung zwischen den Nachbarn wohl kaum denkbar gewesen, dass man auf der Tafel mit der deutschen Werner-Legende neben dem Bacharacher Heiligengrab davon lesen konnte, der Oberweseler Schultheiß als Ortsrichter sei von den Juden bestochen worden und hätte so eine Aufklärung der Straftat verhindert. Denn einen derart korrupten Richter am Ort des Verbrechens verlangte die Dramaturgie der Heiligeninszenierung, wie sie aus Norwich überliefert ist – auch hier hatte nämlich angeblich der durch Judengeld gefügig gemachte Sheriff die grausame Tat gedeckt. Wollte man nun aber diesen hochrangigen, in jedem Fall ritterlichen Amtsträger zur Förderung des Märtyrerkultes in Bacharach öffentlich eines schweren Vergehens beschuldigen, so musste das Ausbleiben heftiger Reaktionen aus der Nachbarstadt doch wohl schon zuvor sichergestellt worden sein. Immerhin war die dortige Reichsvogtei und das mit ihr verbundene Schultheißenamt um die Mitte des 13. Jahrhunderts durch Erwerb an die Bürgergemeinde gelangt.
Einigen Zeugen des „Wernerprozesses“ der Jahre 1426-1429[4] ist der korrupte Richter sogar noch namentlich bekannt: sie nennen ihn Eberhard. Tatsächlich ist ein Oberweseler Schultheiß namens Eberold an erster Stelle der Intitulatio zweier städtischer Urkunden für das Kloster Eberbach aus dem Jahr 1275 überliefert. Auch von 1286, dem Vorjahr der Werner-Ereignisse, ist eine vom Oberweseler Gericht unter Vorsitz des Schultheißen besiegelte Urkunde erhalten. Leider wird der Richter hier nicht namentlich genannt, doch unter den Ausstellern befindet sich erneut ein Ritter Eberold, bei dem es sich wohl noch immer um den Inhaber des Schultheißenamtes handeln dürfte. Der nächste Beleg, 1296, verzeichnet einen Ritter Friedrich Ryngreve als Schultheiß von Oberwesel – und damit erstmals den Vertreter einer Familie, die im 14. Jahrhundert über mehrere Generationen hinweg die städtischen Führungspositionen dominieren sollte. In den dazwischen liegenden zehn Jahren, womöglich also tatsächlich 1287, wird demnach der Amtswechsel und damit verbunden vielleicht auch ein Wandel in der Struktur der Oberweseler Führungsschicht stattgefunden haben. Die Umstände dieser Ablösung indes waren mysteriös: Eberhard soll, so erinnerte sich 1427 ein Zeuge, seinerzeit einfach verschwunden sein und niemand wisse, wo seine Gebeine ruhten. Waren etwa innerstädtische Auseinandersetzungen der Grund dafür, dass man sich damals des bisherigen Schultheißen entledigte? Oder hatte Eberold/Eberhard sich tatsächlich etwas zuschulden kommen lassen und mithin gute Gründe zur Flucht? Jedenfalls dürften besondere Geschehnisse mit seiner Person in Verbindung gestanden haben, die Zeitgenossen und Nachlebende in Oberwesel offenbar jeglicher Bedenken enthoben, seinen Namen für die Konstruierung der Ritualmord-Legende zu missbrauchen.
Aber wie auch immer: Es steht fest, dass die Werner-Inszenierung von Bacharach der Nachbarstadt Einiges zumutete – Oberwesel musste als Verbrechensort herhalten, auf die Anwesenheit eines „Heiligen“ verzichten und das städtische Richteramt diskreditieren lassen. Damit aber hatte man doch wohl zumindest Anspruch auf eine Gegenleistung erworben. Diese nun dürfte darin bestanden haben, dass die Oberweseler angemessen an der Heiligeninszenierung und der angehenden Werner-Wallfahrt beteiligt wurden: So konnte Bacharach den Heiligenkorpus behalten, und Oberwesel zeigte sein Martyrium. Offenbar wurde mit dem Bau der Wernerkapelle zu Oberwesel, die an Stelle des jüdischen Mordhauses an der Stadtmauer errichtet worden sein soll und Werners angebliche Martersäule (statua ejusdem passionis) vorweisen konnte, nämlich noch vor dem Jahr 1300 begonnen. Hier entstand also schon früh ein Ort, wo die Wallfahrer auf eindrucksvolle Weise Kontakt zur Passion des „heiligen“ Werner aufnehmen konnten, wie auch in den Zeugenaussagen des 15. Jahrhunderts betont wird. Vermutlich verfiel man auf diese Form der interkommunalen Zusammenarbeit, die eine zwanglose Einbeziehung Oberwesels in eine mehrteilige Wallfahrtstopographie des neu zu schaffenden Märtyrerkultes ermöglichte, ebenfalls aufgrund intensiver Lektüre des Heiligenbuchs aus Norwich. Der Verfasser der William-Legende berichtet nämlich, er habe nach langem Suchen endlich doch das Haus identifizieren können, in dem der Mord geschehen war, und darin noch deutliche Spuren des Verbrechens gefunden. So habe man dort auch eine Balkenkonstruktion entdeckt, mittels derer der Junge gepeinigt und gekreuzigt worden war. In Norwich Anno 1144 ist also das Folterhaus und sogar die darin befindliche Martersäule bereits vorgebildet, die fast 150 Jahre später dann den Oberweselern ihren Anteil an der Werner-Wallfahrt sichern sollte - und so einen Reliquienstreit zwischen Nachbarn entbehrlich machte.
5. … und ihr Regisseur
Nur eine einzige Augenzeugin des Foltergeschehens gab es in Norwich – und auch in Oberwesel. In beiden Fällen soll eine im Haus des Juden beschäftige christliche Dienstmagd durch einen Türspalt beobachtet haben, wie der Junge gequält wurde, und hier wie dort wurde ihre Aussage später, nach Auffindung der Leiche, zum Hauptargument für die Beschuldigung der Juden. Es liegt also auf der Hand, dass eine gezielte Falschaussage der Oberweseler Magd nach dem englischen Vorbild Teil der Heiligeninszenierung von Bacharach war, wie Gerd Mentgen in seinem wichtigen Aufsatz zum Thema von 1997 betonte. Wer jedoch – so Mentgen weiter – „für diese Einflüsterungen in erster Linie verantwortlich war und damit als eigentlicher Schöpfer der Wernerlegende zu gelten hat: diese zentrale Frage wird wohl für immer unbeantwortet bleiben müssen.“ Etwas optimistischer ist in dieser Hinsicht der Historiker Thomas Wetzstein (1999): Für ihn liegt es aufgrund der „frappierende[n] Ähnlichkeit“ mit Norwich nahe, dass als Urheber des Bacharacher Wernerkults ein „mit den Ritualmordvorwürfen vertrauter Angehöriger des Klerus in Frage käme“. Dieser Verdacht nun lässt sich präzisieren, denn die Spur führt eindeutig zum Ortspfarrer von Bacharach. Dafür sprechen zunächst ganz praktische Gründe. Von grundlegender Bedeutung für die schnelle Verbreitung von Werners Heiligenruf war sicher die Entscheidung, den Leichnam in der exponiert gelegenen Kunibertskapelle zu Füßen der Burg Stahleck zu bestatten. Dies kam im wahrsten Sinne des Wortes und ganz augenfällig einer „Erhebung“ der Gebeine des Märtyrers gleich. Die enorme Ausstrahlung eines solchen Standortes oberhalb der Kulisse von Stadt- und Flusslandschaft wird man schwerlich überschätzen können; mit ihr rechneten schon die Tempelarchitekten der Antike bei der Anlage ihrer Höhenheiligtümer, und noch Monumente des 19. Jahrhunderts, allen voran das Nationaldenkmal auf dem Niederwald gegenüber von Bingen am Rhein, beziehen ihre suggestive Kraft und Popularität aus der erhabenen Lage im Flusspanorama. Doch der Zugriff auf diese bald nach dem „heiligen“ Werner benannte und spätestens ab 1289 in gotischen Formen neu errichteten Kapelle, die ja in unmittelbarer räumlicher Nähe von Pfarrkirche und Pfarrhof lag, stand von Anfang an niemand anderem zu als dem Pfarrherrn von Bacharach: Sie befand sich in propria dote Pastoriae Bacheracensis Ecclesie, wie es gelegentlich heißt, gehörte also zum „Pfarrgut der Bacharacher Kirche“.
Und auch der nächste Regie-Coup ist aufschlussreich: Sofort nach der Bestattung des angehenden Heiligen wurde damit begonnen, die am Grab erfolgten Wunderheilungen mustergültig zu dokumentieren und in einer Kiste neben dem Grab zu archivieren - wohl damit sie dereinst als Beweismittel in einem Heiligsprechungsverfahren, zumindest aber zur werbewirksamen Veröffentlichung auf Tafeln Verwendung finden konnten. Es liegt nahe, bei der sorgfältigen Aufzeichnung der Wunder am Wernergrab erneut den Ortspfarrer am Werk zu sehen – zumal der damalige Amtsinhaber als Urkundenaussteller in Bacharach nachweislich eine gefragte und erfahrene Person war: Schon im Jahre 1279 hatte Heinrich von Crumbach, so hieß damals der quellenmäßig überraschend gut belegte Pfarrer zu Bacharach, einen Weinbergsverkauf für die Bacharacher Gerichtsvorsteher dokumentiert und besiegelt. Tatsächlich ist das Siegel Heinrichs – wenn auch aus anderem Zusammenhang – im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt überliefert. Es zeigt das Brustbild des heiligen Petrus und einen knienden, betenden Geistlichen, zeugt also von einer weitreichenden Identifikation des Inhabers mit seinem Pfarrdienst an der Bacharacher Peterskirche.
Erstmals ist jener Heinrich von Crumbach seit 1273 als Pfarrer von Bacharach nachzuweisen, und er blieb es wohl bis zu seinem Tod spätestens im Jahre 1303. Doch das war nicht Heinrichs einziges Tätigkeitsfeld. Er war auch Stiftsherr im Wormser Andreas-Stift, besaß dort einen Hof und wirkte 1279 als Schiedsrichter in einem Konflikt zwischen geistlichen Einrichtungen der Kathedralstadt, deren Bischof Eberhard II. von Strahlenberg (Episkopat 1291-1293) ein Verwandter Heinrichs gewesen zu sein scheint. 1287 engagierte sich der Bacharacher Pfarrherr für das Frankfurter Deutschordenshaus in Dieburg, und schon 1277 hatte er als Zeuge in Wiesloch fungiert. Der vielfältige und langjährige Aktionsradius im Rhein-Neckar-Odenwald-Gebiet parallel zu den Bacharacher Pflichten verweist auf die Herkunft Heinrichs: vermutlich handelt es sich bei ihm um einen Spross der in Fränkisch-Crumbach an der Bergstraße im Odenwald begüterten altfreien Herren gleichen Namens mit Stammsitz (seit dem 13. Jahrhundert) auf Burg Rodenstein. Auffällig ist nun, dass auch einige der ersten 90 so wundersam am Wernergrab zu Bacharach Geheilten auch aus dieser doch immerhin einige Tagesreisen entfernten Region kamen – zum Beispiel aus Germersheim, Worms, Ladenburg, Bickenbach und Breubach im Odenwald. Auch die Tochter eines Friedrich von Stein (Fredericus de Lapide) war unter denen, die im Mai 1287 als Gelähmte das Wernergrab aufsuchten und es gesund wieder verließen: Bei ihr nun handelte es sich womöglich um eine Verwandte des Bacharacher Pfarrers, wie wir beiläufig aus einer anderen Urkunde erfahren. Das Beziehungsnetzwerk Heinrichs von Crumbach könnte daher wohl auch in anderen Fällen die Wallfahrt nach Bacharach und eine gewisse Bereitschaft der Betroffenen erklären, sich als Probanden für die medizinische „Wirksamkeit“ des neuen Heiligen zur Verfügung zu stellen. Zusammenfassend lässt sich also mit hoher Wahrscheinlichkeit der Pfarrer von Bacharach als Urheber, zumindest aber als erster Förderer der Ritualmordlegende um den jungen Werner ausmachen. Tatsächlich ist es einem Mann mit den Ambitionen, standesmäßigen Voraussetzungen und Möglichkeiten Heinrichs von Crumpach ohne weiteres zuzutrauen, dass er den Leichenfund schnell und geschickt instrumentalisierte, um eine gezielte Aufwertung seiner Pfarrei und damit seiner eigenen Stellung durch einen „eigenen“ Heiligen vor Ort zu erreichen. Vermutlich waren die Aktivitäten des Geistlichen für die Installierung des Wernerkultes aber auch durch eine ausgeprägte judenfeindliche Haltung motiviert. Denn es darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass Heinrich von Crumbach schon im April 1283 in Bacharach amtierte, als der Mord an einem Jungen in Mainz den Juden zur Last gelegt und ebenfalls bereits die Ritualmordlegende verbreitet worden war. Damals kam es zu Ausschreitungen in Mainz selbst, in Rockenhausen und – besonders verheerend - in Bacharach, wo 26 Juden, vermutlich sämtliche Gemeindemitglieder, erschlagen wurden. Sucht man nun nach einer Erklärung für das Phänomen, dass unter den zahlreichen Judenansiedlungsorten am Mittelrhein, wo seit der Jahrhundertmitte zwar insgesamt eine gereizte antijüdische Atmosphäre herrschte, ausgerechnet Bacharach innerhalb von nur vier Jahren gleich zwei Mal, 1283 und 1287, im Mittelpunkt judenfeindlicher Aktivitäten stand, so böte sich einschlägiges Wirken des nachgewiesenermaßen einflussreichen Ortspfarrers als ein mögliches Verbindungsglied zwischen den Ereignissen durchaus an.
6. Ein Fürst mit schlechtem Gewissen: Pfalzgraf Ludwig II.
Doch die Personalie Heinrich von Crumbach führt noch weiter. Die eben besprochene räumliche Herkunft des Pfarrers von Bacharach verweist nämlich auf ein Gebiet, das im 13. Jahrhundert stark im Mittelpunkt der territorialen Rivalitäten zwischen Kurmainz und Kurpfalz lag. Offensichtlich war der Crumbacher ein nicht ganz unbedeutender Parteigänger des Pfalzgrafen Ludwig II. (Regierungszeit 1253/1255-1294), denn wir treffen ihn sehr regelmäßig am beziehungsweise im Umfeld des Hofes zu Heidelberg an. Aufgrund dieser Verbindung wird überhaupt erst die Übernahme des Bacharacher Pfarramtes durch den ortsfremden, Odenwälder Adligen nachvollziehbar, die ja kaum anders als durch eine Intervention des pfalzgräflichen Stadtherren von Bacharach erklärt werden kann.
Vor allem aber bietet die offenkundige Nähe des „Heiligenmachers“ Heinrich von Crumpach zum Pfalzgrafen Anlass, auch die Rolle des Letzteren bei der Etablierung des Wernerkultes genauer zu untersuchen. Und so ist es doch sehr auffällig, dass in engem zeitlichen Zusammenhang zu den Ereignissen von 1287 zwei bedeutende Stiftungen des Pfalzgrafen für das Bacharacher Viertälergebiet überliefert sind. So richtete Pfalzgraf Ludwig II. vermutlich 1288 in Bacharach an verkehrsgünstig gelegenem Ort am Koblenzer Tor das Heilig-Geist-Hospital ein. Außerdem gründete er wohl schon im Februar desselben Jahres an jener Stelle im Windsbachtal, wo der Leichnam Werners entdeckt worden war, das Wilhemitenkloster Fürstenthal. Lokale Traditionen und die frühneuzeitliche kurpfälzische Geschichtsschreibung wissen über diese Klostergründung zu berichten, sie sei erfolgt als Sühneleistung des Pfalzgrafen Ludwig II. für die von ihm selbst verschuldete ungerechtfertigte Hinrichtung seiner ersten Gattin Maria von Brabant im Jahre 1256. Tatsächlich hatte Ludwig, der diese wohl aus unbegründeter Eifersucht begangene Untat offenbar schwer bereute und von Papst Alexander IV. (Pontifikat 1254-1261) mit einer Sühneleistung beauftragt worden war, zur Beruhigung seines geplagten Gewissens bereits 1263 das Kloster Fürstenfeld(-bruck) bei München gegründet. Jedoch erschien dem Fürsten und seinen Söhnen mit diesem einen gottgefälligen Werk die auf der Familie lastende Schuld wohl noch nicht hinreichend abgegolten, denn noch im Jahre 1308 leistete auch Ludwigs Sohn, Pfalzgraf Rudolf I. (Regierungszeit 1294-1317), Wiedergutmachungsarbeit im Namen des Vaters. Damals gelobte er gegenüber Herzog Johann II. von Brabant (Regierungszeit 1294-1312), am Grabe der Ermordeten – der Tante des amtierenden Brabanter Landesherren – eine ewige Messe und ein ewiges Licht zu stiften. Als weitere Sühneleistung wollte er ihm mit 200 Gepanzerten gegen jeden Feind zu Hilfe kommen – und außerdem vier Ritter zur geplanten Kreuzfahrt ins Heilige Land oder gegen die Ungläubigen in Europa entsenden. Es erscheint angesichts der selbst noch über die Wende zum 14. Jahrhundert hinaus fortbestehenden Exkulpierungsbemühungen der Pfälzer also durchaus denkbar, dass auch die Stiftung im Bacharacher Viertälergebiet eingedenk der Hinrichtung von 1256 erfolgt ist – zumal schon die Namensgebung des neuen Klosters im Tal unterhalb der Burg Fürstenberg an das ältere Sühnekloster erinnert, das 1263 auf des „Fürsten Feld“ bei Bruck gegründet worden war. Nach einer improvisierten Startphase in Behelfshütten waren hier, im oberbayrischen Kernland des wittelsbachischen Pfalzgrafen, seit 1270 „dauerhafte Gebäude“ für die Mönche entstanden, und 1284 war anscheinend die Kirche bereits vollendet; lediglich der Bau von Klausurgebäuden „zog sich möglicherweise noch bis Anfang der 1290er Jahre hin.“[5] Die Gründung des Klosters bei Bacharach erfolgte also womöglich direkt nach Abschluss, jedenfalls aber angesichts eines unmittelbar bevorstehenden Endes der Bauarbeiten in Fürstenfeld; sie ließe sich somit durchaus als „Anschlussmaßnahme“ (und zugleich auch als rheinische Paralleleinrichtung) des oberbayerischen Sühneprojektes deuten.
Dass die Wahl der von Pfalzgraf Ludwig ins Viertälergebiet gerufenen Mönche nun ausgerechnet auf die in Deutschland weithin unbekannten Wilhelmiten fiel, verleiht dieser Annahme zusätzliche Wahrscheinlichkeit. Deren Ordensgründer nämlich, der heilige Wilhelm von Malavalle, war seit dem späten 13. Jahrhundert als „Vorbild für Buße und Reue“ besonders populär.[6] Doch Ludwigs Entscheidung für die Wilhelmiten deckt noch einen weiteren Zusammenhang auf, denn sie lässt erkennen, dass die Gründung des Bußklosters von Fürstenthal wohl tatsächlich sogar in enger Abstimmung mit der „geschädigten“ Familie, dem Fürstenhaus von Brabant, erfolgt ist. Die Geschichte des Wilhelmitenordens im 13. Jahrhundert ist auf das Engste mit den niederländischen Fürstenhäusern von Flandern und Brabant verknüpft. In deren Territorien hatte sich unter päpstlichem Protegée das „Schwergewicht des Ordens“ verlagert, dessen Anfänge seit 1244 auf einige Eremitenniederlassungen in der Toskana zurückgingen. Bis 1287 waren in Flandern und Brabant mindestens acht weitere Niederlassungen entstanden, während im ganzen Reichsgebiet vor der Gründung von Fürstenthal nur drei Wilhelmitenklöster anzutreffen waren. Im späten 13. Jahrhundert fand auch eine (übrigens falsche) Tradition über den Ordensgründer Verbreitung, die ihn mit Herzog Wilhelm von Aquitanien identifzierte – und damit als einen Ahnherr der brabantischen Herzogsfamilie. Eine enge Anlehnung der Klosterstifter an ihre brabantischen Verbündeten war wohl auch ausschlaggebend gewesen für die Gründung der ersten Wilhelmitenniederlassung im deutschsprachigen Raum durch die Grafen von Jülich in Düren im Jahre 1252. Man wird also kaum fehlgehen, wenn man eine entsprechende Abstimmung auch im Falle des Pfälzers Ludwigs II. unterstellt.
Auch Ludwigs zeitgleiche Gründung eines Hospitals im nahen Bacharach erhält im Kontext der wilhelmitischen Klostertradition spezielle Bedeutung. Denn schon der Ordensgründer selbst, Wilhelm von Malavalle, hatte ein Hospital für Rompilger am Monte Pisano in der Toskana gegründet. In seiner Nachfolge zählte im 13. und 14. Jahrhundert der Unterhalt von Hospitälern an vielen Orten zu den vornehmsten Pflichten der Wilhelmiten überhaupt. Häufig entstanden ihre Niederlassungen deshalb an Stätten, die sich zu „Wallfahrtsorten von regionaler Bedeutung“ entwickelten, so dass „die Beherbergung und Seelsorge der Wallfahrer in den besonders häufig aufgesuchten Klöstern […] fast zur Hauptaufgabe der Mönche wurde.“ (Kaspar Elm) Damit erhält das Bacharacher Hospital zugleich auch seine nahe liegende Zweckbestimmung als Herberge, mit der die Stadt für den – sicher erhofften - Zustrom von Wernerpilgern gerüstet war.
Die Gründung von Kloster Fürstenthal und des damit wohl eng verbundenen Spitals zu Bacharach war also höchstwahrscheinlich eine Bußleistung, und sie erfolgte im Hinblick auf das Brabanter Fürstenhaus; doch dass damit zugleich auch einem neuen und explizit antijüdischen Märtyrerkult eine Heimstatt gegeben wurde, musste dem Stifter ebenfalls klar sein. Die Wernerverehrung hatte zum Zeitpunkt der Stiftungen Pfalzgraf Ludwigs im Februar 1288 ihr eminent judenfeindliches Potenzial bereits in aller Deutlichkeit offenbart, denn die meisten der mit dem „guten Werner“ in Verbindung stehenden Judenpogrome hatten bereits im Frühling und Sommer 1287 gewütet. Ludwig agierte bei seinem Bacharacher Engagement also im Wissen um ein entschieden judenfeindliches Verhalten. Damit aber ist eine Motivation gegeben, die im beschriebenen Zusammenhang der Bußstiftung ein weiteres Mal aufhorchen lässt. Im Brabanter Herzogshaus war in der Mitte des 13. Jahrhunderts eine Idealkonzeption des guten Fürsten formuliert worden, die sich nicht zuletzt in einer ausgesprochen judenfeindlichen Haltung manifestiert.[7] In seinem Testament von 1261 hatte Herzog Heinrich III., der Bruder der ermordeten Maria von Brabant, verfügt, dass alle Juden aus seinem Lande zu vertreiben seien, sofern sie nicht vom Geldhandel abließen. Tatsächlich lassen sich für einen Zeitraum von etwa zwei Jahrzehnten nach 1261 auch keine direkten Belege für mehr Juden in Brabant nachweisen. Christoph Cluse konnte darlegen, dass dieses Herrschaftsethos im späteren 13. Jahrhundert dazu beitrug, den Boden auch andernorts für landesherrliche Judenvertreibungen zu bereiten, wie sie etwa 1287, im Jahr der Werner-Pogrome, vom späteren englischen König Eduard I. (Regierungszeit 1272-1307) für die Gascogne bereits realisiert und für die britische Insel wohl beschlossen wurden. Sicher wusste Ludwig sich also bei seiner antijüdischen Stiftung zu Bacharach im Einklang mit dem Fürstenideal, wie es gerade in der Familie seiner ersten Ehefrau, deren Mord zu exkulpieren war, galt; er konnte damit ausdrücklich auch nach den Maßstäben der Geschädigten seine Bemühungen um Rehabilitierung als guter Fürst und Christenmensch demonstrieren.
Es ist also durchaus naheliegend, die Klosterstiftung Ludwigs II. im Windsbachtal als Bußleistung, zugleich aber auch als eine dezidiert antijüdische Maßnahme zu interpretieren, die sich in der deutlichen Bezugnahme auf den angeblichen Ritualmord manifestiert. Denn kaum zufällig wird die Entscheidung für den Klosterstandort an exakt jener Stelle am Windsbach gefallen sein, wo das Opfer vermeintlich jüdischer Gräueltaten im April 1287 aufgefunden worden war. Vielmehr lässt noch die Aussage des Windsbacher Priors im den Akten des „Werner-Prozesses“ von 1426-1429 erkennen, dass mit seinem Kloster damals jene Stätte entstand, die – ebenso wie das Heilig-Geist-Hospital in Oberwesel mit seiner Martersäule – den Pilgern eine unmittelbare Kontaktaufnahme zu Werners Passion ermöglichen sollte. Und mehr noch: Auch im Zusammenhang der Klostergründung lohnt ein Blick in die uns schon bestens vertraute Regieanweisung, in das „Buch zum Leben und den Wundern des heiligen William von Norwich“ aus dem 12. Jahrhundert. Denn auch in Norwich war, ebenfalls mitten im Wald, dort wo man den ermordeten Märtyrer entdeckt hatte, ein Gotteshaus gestiftet worden: St. Williams-in-the-Wood, eine kleine Kapelle, die im späten 13. Jahrhundert noch ein Zentrum des Kultes um das erste vermeintliche jüdische Ritualmordopfer Europas bildete, heute aber – ebenso wie das Kloster Fürstenthal – längst nicht mehr existiert.
Wie es scheint, war es also dem Regisseur des Heiligenspektakels von Bacharach – wir unterstellen nun, dass es tatsächlich der Pfarrer Heinrich von Crumbach war – gelungen, seinen Landesherren, den Pfalzgrafen, zur aktiven Mitarbeit an dem ehrgeizigen Projekt zu gewinnen, indem er offenkundig die fürstliche Bußstiftung mit dem Heiligen-Drehbuch in Einklang bringen konnte. Und tatsächlich führt auch im Fall der Klostergründung eine Spur zu dem ehrgeizigen Geistlichen aus ritterlichem Hause: Fürstenthal wurde – im Einvernehmen mit dem Stifter, wie ausdrücklich festgehalten wird - der Aufsicht und Jurisdiktion des Bacharacher Pfarrherren unterstellt. Dieser Vorgang ist durchaus bemerkenswert, denn das übliche Verfahren bei der Ausstattung eines Klosters war ja eher das Umgekehrte: die Bepfründung der Stiftung mit eigenen, inkorporierten Pfarrstellen. Berücksichtigt man die nur langsame Ausbreitung des Wilhelmitenordens im Reichsgebiet seit 1242 über Jahrzehnte hinweg, so muss es darüber hinaus überraschen, dass sich exakt zeitgleich mit Windsbach, genauer gesagt „zwischen 1287 und 1290“ (Kaspar Elm), auch in Worms Wilhelmiten niederließen. Dieses Haus erfreute sich ausweislich von Legaten „des Wohlwollens nicht allein der Bürger, sondern auch der Kanoniker des Dom- und Andreasstiftes.“ (Kaspar Elm) Mit dem Wormser Andreasstift aber waren die Crumbacher eng verbunden; Heinrich, der Pfarrer von Bacharach, war nicht nur – wie erwähnt – selbst Andreasherr, sondern auch im 14. Jahrhundert sind noch weitere Mitglieder der Familie als Stiftskanoniker belegt. Womöglich also hatte auch hier Heinrich die Finger im Spiel; er hätte dann an seinen beiden Wirkungsstätten für eine Ansiedlung der Wilhelmiten - sozusagen „im Doppelpack“ - gesorgt.
7. Fazit
Als Resümee unseres Blicks auf die Anfänge des Wernerkultes zu Bacharach und Oberwesel gilt es festzuhalten, dass der „gute Werner“ von Anfang an ein Geschöpf war, das nach einem nachweisbaren Vorbild – dem Knaben William von Norwich – kreiert worden ist. Auch die Urheber dieser Kreation ließen sich namhaft machen: es waren schon im 13. Jahrhundert der Bacharacher Ortspfarrer und sein Landesherr, der Pfalzgraf, die sich ihren „Heiligen“ erschufen. Damit treffen wir bereits für die Frühzeit des Wernerkults auf eine Personenkonstellation, die im 15. Jahrhundert noch einmal begegnen wird: In den Jahren zwischen 1426/1427 und 1429 waren es der berühmte Bacharacher Pfarrer Winand von Steeg (1371-1453) und Pfalzgraf Ludwig III. (Regierungszeit 1410-1436), die für eine Wiederbelebung des zwischenzeitlich erlahmten Wernerkultes sorgten. Ohne an dieser Stelle weiter auf diese Aktivitäten eingehen zu wollen – das hat jüngst ausführlich und instruktiv Thomas Wetzstein getan –, steht damit nun fest, dass die beiden Akteure des 15. Jahrhunderts sich bei ihrem Handeln schon in einer Tradition bewegten: Der „Fürstenheilige“ war nicht, wie Wetzstein meinte, ihr Geschöpf, sondern schon 140 Jahre früher begann die Geschichte vom Pfalzgrafen, seinem Pfarrer und ihrem judenfeindlichen Heiligen, dem sogenannten „guten Werner von Oberwesel (oder Bacharach)“. An diesem Beispiel lässt sich also eindrucksvoll studieren, wie das gehen konnte im Mittelalter mit der hohen Kunst, einen Heiligen zu erschaffen.
Quellen
Die wichtigsten gedruckten Quellen zum angeblichen „Ritualmord“ von Oberwesel 1287
De s. Wernhero Puero, in: Acta Sanctorum, Aprilis, Band 2, Antwerpen 1675, S. 697-740.
Christ, Karl, Werner von Bacharach. Eine mittelrheinische Legende in Reimen, in: Otto Glauning zum 60. Geburtstag. Festgabe aus Wissenschaft und Bibliothek, Band 2, Leipzig 1938, S. 1-29.
Gesta Boemundi Archiepiscopi, hg. von Georg Waitz, in: MGH SS XXIV, 1879, S. 463-488, hier S. 470.
_Quellengrundlage zum angeblichen “Ritualmord” von Norwich 1144
_ Jessopp, Augustus/James, Montague R. (Hg.), The Life and Miracles of St. William of Norwich by Thomas of Monmouth, ed. from the unique Manuscript, with an Introduction, Translation, and Notes, 1896.
Literatur (Auswahl)
Iserloh, Erwin, Werner von Oberwesel. Zur Tilgung seines Festes im Trierer Kalender, in: Trierer Theologische Zeitschrift 72 (1963), S. 270-285.
Lotter, Friedrich, Innocens virgo et martyr. Thomas von Monmouth und die Verbreitung der Ritualmordlegende im Hochmittelalter, in: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschudligung gegen Juden, hg. v. Rainer Erb, Berlin 1993 , S. 25-72.
Mentgen, Gerd, Die Ritualmordaffäre um den „Guten Werner“ von Oberwesel und ihre Folgen, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 21 (1995), S. 159-198.
Schmandt, Matthias, Der Pfalzgraf, sein Pfarrer und der „gute Werner“. Oder: Wie man zu Bacharach und Oberwesel ein antijüdisches Heiligtum erschuf (1287-1429), in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 38 (2012), S. 7-38
Pauly, Ferdinand, Zur Vita des Werner von Oberwesel. Legende und Wirklichkeit, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 16 (1994), S. 94-109.
Wetzstein, Thomas, „Ad informationem apostolicae sedis“. Die Verehrung des Werner von Oberwesel und die Kultuntersuchung von 1426, in: Wege zum Heil, hg. v. Thomas Frank, Michael Matheus, Sabine Reichert, Stuttgart 2009, S. 97-134.
Wetzstein, Thomas, Vom „Volksheiligen“ zum „Fürstenheiligen“. Die Wiederbelebung des Wernerkults im 15. Jahrhundert, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 51 (1999), S. 11-68.
Ziwes, Franz-Josef, Studien zur Geschichte der Juden im mittleren Rheingebiet während des hohen und späten Mittelalters, Hannover 1995.
- 1: Leben der heiligen Hildegard von Bingen/Kanonisation der heiligen Hildegard von Bingen, übersetzt u. eingeleitet von Monika Klaes, Freiburg 1998.
- 2: Grundlegend für die folgende Darstellung der Ereignisse vom April 1287 sind folgende Quelleneditionen: De s. Wernhero Puero, in: Acta Sanctorum, Aprilis, Band 2, Antwerpen 1675, S. 697-740; Christ, Werner von Bacharach; Gesta Boemundi Archiepiscopi, hg. von Georg Waitz, in: MGH SS XXIV, 1879, S. 463-488, hier S. 470.
- 3: Quellengrundlage zum Ritualmord von Norwich: Jessopp/Montague (Hg.), The Life and Miracles of St. William of Norwich by Thomas of Monmouth.
- 4: Die damals vorgenommene Dokumentation von 211 Zeugenaussagen in Bezug auf den „Ritualmord“ von 1287 kann nach neuesten Forschungsstand nicht länger als Bestandteil eines förmlichen Kanonisationsprozesses angesehen werden, sondern verfolgte womöglich lediglich das Ziel, den Kult gegen Tendenzen zu seiner Geringschätzung oder gar Unterbindung zu verteidigen, vgl. Thomas Wetzstein, Heilige vor Gericht. Das Kanonisationsverfahren im europäischen Spätmittelalter, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 388-391.
- 5: Altmann, Lothar, Die Baugeschichte Kloster Fürstenfelds 1263 bis 1803, in: Schiedermair, Werner (Hg.), Kloster Fürstenfeld, Lindenberg 2006, S. 109-121, hier S. 109.
- 6: Das Folgende nach der grundlegenden Darstellung zum Thema: Elm, Kaspar, Beiträge zur Geschichte des Wilhelmitenordens, Köln/Graz 1962.
- 7: Cluse, Christoph, Zum Zusammenhang von Wuchervorwurf und Judenvertreibungen im 13. Jahrhundert, in: Burghard, Friedhelm/Haverkamp, Alfred/Mentgen, Gerd (Hg.), Judenvertreibungen in Mittelalter und früher Neuzeit, Hannover 1999, S. 135-163.
Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Beitrags die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Schmandt, Matthias, Der gute Werner von Oberwesel - oder die hohe Kunst, einen Heiligen zu erschaffen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/der-gute-werner-von-oberwesel---oder-die-hohe-kunst-einen-heiligen-zu-erschaffen/DE-2086/lido/57d11ef12fbdb9.27463534 (abgerufen am 10.10.2024)