Die Kölner Sechstagerennen
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1. Einleitung
„Viel Wehmut begleitete das letzte Sechstagerennen in der Kölner Sporthalle. Es wurde auch viel geschrieben und diskutiert. Vielen Ideen wurden geboren, das Kölner Sechstagerennen nicht sterben zu lassen. Doch es scheint vergebens. Die Chancen, daß das Kölner Sechstagerennen irgendwann irgendwo wieder gestartet wird, sind minimal.“ Am letzten Wettkampftag der 46. Kölner Sixdays brachte Hallensprecher Jakob „Köbes“ Roth die ganze Situation auf den Punkt: ‚Es ist alles so traurig.‘“ So der Nachruf auf das Kölner Sechstagerennen in der Zeitschrift „Radsport“ am 6.1.1998. Zwei Tage zuvor waren für die traditionsreiche Veranstaltung, die 1928 erstmals ausgetragen worden war, in der Sporthalle in Köln-Deutz die Lichter endgültig ausgegangen. 1999 wurde die Halle gesprengt: Das Kölner Sechstagerennen war damit Geschichte.
2. Die Anfänge in England und den USA
Die Historie des Rennens endete 1998, begann aber streng genommen nicht erst 1928 und auch nicht in Köln, sondern geht bis in das Jahr 1875 zurück. In jenem Jahr fand in Birmingham das vermutliche erste Rennen statt, das als „Sechstagerennen“ bezeichnet werden kann. Diese Veranstaltung war ursprünglich als „Produkttest“ für das neuartige Fahrzeug Hochrad gedacht. Am Start waren einzelne Fahrer, die montags bis samstags zwölf Stunden täglich um eine Radrennbahn fuhren. Wer in dieser Zeit die meisten Meilen absolvierte, war der Sieger. Am siebten Tag herrschte christliche Sonntagsruhe – so entstand der Zeitraum von sechs Tagen. Den Test mussten natürlich nicht nur die Räder bestehen, sondern auch die Menschen, die auf ihnen thronten. Die erstaunten Zuschauer waren fasziniert von deren schier unmenschlichen Leistungen und kamen in Scharen.
1879 wanderte die Idee des Sechstagerennens über den großen Teich in die USA, wo sie begeistert aufgenommen wurde, mit der Steigerung, dass diese Langzeitrennen nun von einzelnen Fahrern an sechs Tagen rund um die Uhr bestritten wurden. Schon zu dieser Zeit ging man dazu über, das Radrennen mit Musik und anderen unterhaltenden Einlagen zu umrahmen. Ab 1899 wechselten sich im New Yorker Madison Square Garden bei den dortigen Sechstagerennen zwei Fahrer ab. Man hatte erkannt, dass die körperlichen Belastungen für einen einzigen Sportler zu groß und die Rennen für die Zuschauer langweilig waren, nachdem der Reiz des Neuartigen verflogen war. Daraus entwickelte sich die Bahnradsport-Disziplin „Zweier-Mannschaftsfahren“, bis heute auch „Madison“ oder „Americaine“ genannt und seit 1995 Teil des Weltmeisterschaftsprogramms.
3. Die Anfänge in Deutschland
1909 fand in Berlin das erste Sechstagerennen in Kontinentaleuropa statt, wo es schon bald „Kultstatus“ hatte. Diese Mischung aus Sport und Unterhaltung, eine Art Riesenparty in einem abgeschlossenen Kosmos, bot vielen Menschen, auch solchen aus ärmeren Schichten, die Möglichkeit, über mehrere Tage aus dem Alltag auszuscheren. In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen hatten Sechstagerennen einen ersten Höhepunkt ihrer Popularität: Sie fanden in Städten Europas, Nordamerikas und Australiens statt, in Deutschland etwa in Breslau, Dortmund, Dresden, Frankfurt und Leipzig – aber nicht in Köln.
4. Die Sechstagerennen in Köln 1928-1933
In der Domstadt fehlte es an einer passenden Lokalität. Im Jahre 1908 plante Regierungsbaumeister Carl Moritz (1896-1944) einen Sportpalast an der Ecke Kaiser-Friedrich-Ufer (heute Konrad-Adenauer-Ufer) und Thürmchenswall, der neben einer Radrennbahn auch eine Eisbahn beherbergen sollte. Dieser Plan scheiterte an fehlenden „Financiers“. Anfang 1928 gab es gleich zwei Pläne für den Bau von Hallen mit einer Radrennbahn in Köln, das damals als „Radsporthochburg“ galt und wo im Jahr zuvor die Bahnweltmeisterschaften stattgefunden hatten. Plan Nummer eins beinhaltete die Überdachung der schon existierenden Beton-Radrennbahn in Köln-Riehl. Obwohl es sogar schon einen Renntermin im März gegeben haben soll, kam dieses Projekt nicht zustande.
Plan Nummer zwei hingegen gelangte zur Ausführung: Er stammte von dem Unternehmer, Automobil- und Flugpionier Arthur Delfosse (1883-1956), dem ehemaligen Inhaber der 1927 geschlossenen Helios-Werke in Köln-Ehrenfeld. Er ließ die große Maschinenhalle der Werke in eine Veranstaltungshalle mit Radrennbahn umbauen, taufte sie „Rheinlandhalle“ und vermietete sie für 120.000 Reichsmark an die Sporthallen-Betriebs GmbH. Mit der Miete zahlte er die Zinsen für die Hypothek, die er für den Umbau aufgenommen hatte. In den folgenden Jahren fanden in der Halle neben Radrennen auch andere Sportveranstaltungen sowie Karnevalssitzungen statt. Am 18.8.1930 hatte Adolf Hitler (1889-1945) hier vor 10.000 Zuschauern seinen ersten Auftritt in Köln.
Am 10.10.1928 wurde die Rheinlandhalle eröffnet, „[…] eine Sportstätte, die allen Anforderungen genügt“, wie der „Illustrierte Radrennsport“ („Illus“) angetan feststellte. Die von Clemens Schürmann (1888-1957) geplante Radrennbahn war ausbaubar und 166 Meter lang, „eine Haarnadel ohne Ende, bestehend aus zwei Längsseiten und zwei beängstigend kurzen Kurven“, wie ein belgischer Besucher schrieb. Wenige Wochen später, am 2. November um 22 Uhr, gab die Opernsängerin Käthe Herwig (1891-1953) den Startschuss für das erste Kölner Sechstagerennen, das allerdings zunächst unter einem schlechten Stern zu stehen schien: Just in jenem Jahr war publik geworden war, dass der niederländische Rennfahrer Piet van Kempen (1898-1985) mit Bestechungen das 20. Berliner Sechstagerennen manipuliert hatte. Van Kempen selbst, sein Manager sowie acht weitere Rennfahrer wurden daraufhin gesperrt. Um solche Schiebereien künftig zu verhindern, erließ der Bund Deutscher Radfahrer schärfere Regeln und Kontrollen, und in Köln fanden diese neuen Vorschriften erstmals Anwendung.
Der „Illus“ berichtete von diesem ersten Sechstagerennen – wie damals üblich – über mehrere Seiten und beschrieb jede einzelne Stunde des Rennens. In der „78. Stunde“ lag die Kölner Mannschaft Viktor „Fibbes“ Rausch (1904-1985) und Gottfried „Ühm“ Hürtgen (geb. 1905) eine Runde zurück hinter Erich Dorn (geboren 1907, Todesdatum unbekannt) und Erich Maczynski (geboren 1904, Todesdatum unbekannt), holten aber dann zum „großen Schlage“ aus. Nachdem sie eine Runde gewonnen hatten, „bricht ein Jubel los, wie wir ihn in unserer langen Praxis noch nicht erlebt haben. Die Menge tobt minutenlang vor Begeisterung, und Rausch-Hürtgen werden immer und immer wieder gefeiert“, so der „Illus“. Bis in die frühen Morgenstunden sollen heimkehrende Besucher in den Kölner Straßen gesungen haben.
Der Kölner Komponist Willi Ostermann dichtete voller Begeisterung: „Das war ein Spurt, das war ein Spürtchen – es lebe Rausch, es lebe Hürtgen“, der Kölner Volksmund fügte hinzu: „Dann kamen Damm und Dumm, die fuhren für das Publikum, und Oszmella/Schorn, die fuhren für ‚nen Doppelkorn.“ Willi Damm und Willy Dumm waren zwei wenig erfolgreiche, aber bei den Zuschauern beliebte Fahrer, während der baumlange und bärenstarke Paul Oszmella (1903-1967), der in den folgenden Jahren immer am Start sein sollte, eigentlich ein Sprinter war und daher von Haus aus mit wenig Siegchancen. Aber wenn der beliebte Kölner einen Sprint anzog, rief das Publikum begeistert: „Jetzt määt hä ne Puckel.“
Das erste Sechstagerennen in Köln wurde auch als erstes Sechstagerennen im Rundfunk übertragen. Der Kommentator, Sportjournalist Dr. Bernhard Ernst, wurde zu diesem Zwecke unter Anfeuerungsrufen der Zuschauer mit einem Korb bis unter das Hallendach gezogen, damit er einen besseren Überblick hatte.
Die maximale Zuschauerkapazität der Halle wurde vom „Illus“ auf 7.000 geschätzt. Im besten Jahr wurden rund 104.000 Karten verkauft: Das Rennen war für die Zuschauer in mehrere Abschnitte aufgeteilt, für die jeweils neue Tickets erworben werden mussten: Sechs Nachmittage und sieben Abende – dazwischen wurde die Halle gelüftet, die Fahrer blieben jedoch auf der Bahn und fuhren weiter. 1932 wurden Tunnel entdeckt, die vom Nachbargrundstück gegraben worden waren, um in die Halle zu gelangen, ohne Eintritt zu bezahlen.
1929 nutzten die belgischen Fahrer Pierre Goossens (1899-1973) und Roger De Neef (1906-2001) entgegen den ungeschriebenen Regeln eine solche „Lüftungspause“, um überfallartig die Spitze zu erobern. Diese verteidigten sie bis zum Ende, was auf viel Unmut stieß und für Tränen bei Rausch und Hürtgen sowie einigen Zuschauern sorgte. Die „schwarzen Husaren“ Rausch-Hürtgen gewannen das Rennen aber 1930 ein zweites Mal.
Das reine Rundendrehen wurde durch Spurts aufgelockert, bei denen die Fahrer – alle Profis - von Zuschauer oder Firmen gestiftete Preise gewinnen konnten: Es gab Geldpreise von 20 bis 300 Reichsmark, Alkohol, Tabakwaren, Käse, Magenbitter, Kartoffeln, Schuhe, Anzüge, Stoffe, Grammophone und Haartrockner, oder auch größere Preise wie Warenhausgutscheine, Erholungskuren, goldene Uhren, Brillantringe, Fahr- und Motorräder.
Auch wurde in Köln nicht streng rund um die Uhr gefahren: Es gab eine Neutralitätsphase von 6 bis 12 Uhr, in der kein Renntempo gefahren wurde, und jeder Fahrer drei Stunden schlafen konnte. Aus dieser Zeit gibt es die bekannten Bilder von Sechstagefahrern, die warm angezogen auf dem Rad frühstücken oder Zeitung lesen.
In einigen Jahren gab es die ungewöhnliche Idee, den Fahrern der führenden Mannschaften rote Baskenmützen aufzusetzen, damit die Zuschauer auf Anhieb über den Stand des Rennens im Bilde waren. Beendet wurden die Rennen immer mit drei Schüssen, abgegeben von „Knallkünning“ Heinrich Kühbacher, einem ehemaligen Hochradfahrer mit stolzem Schnurrbart.
Die Begeisterung in Köln für das Sechstagerennen hielt in den folgenden Jahren an. In den Jahren 1932 und 1933 machten sich aber die Folgen der Weltwirtschaftskrise bemerkbar. Aufgrund der politischen Entwicklung in Deutschland sowie der wachsenden Zahl von Sechstagerennen im eigenen Land kamen auch weniger Zuschauer aus den Niederlanden nach Köln. Wegen der hohen Miete wechselten mehrfach die Pächter der Rheinlandhalle; einzig das Sechstage-Rennen warf Gewinn ab.
Aber Unsicherheit und Kritik griffen in Folge der wirtschaftlichen Probleme auch im Radsport um sich. 1932 schrieb der „Illus“ vom „reinsten Sechstagetaumel“ – „wenn das eine aufhört, fängt das nächste an“: „Man ging mit Angst und Bangen, wenigstens in dem von politischen Wirren zersetzten, unter den Nöten der Zeit am meisten leidenden und verarmten Deutschland, in die Sechstagesaison.“ Den Nationalsozialisten wiederum waren die Sechstagerennen ein Dorn im Auge, galten sie doch als „amerikanische“ oder gar „jüdische“ Erfindung, zudem lehnte die NS-Ideologie Profisport ab.
Trotzdem fand das Kölner Sechstagerennen 1933 auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nochmals statt. Starter des Rennens war Peter Rösen, ein ehemaliger Straßenfahrer, Gewinner von „Rund um Köln“ im Jahre 1924 und jetziger Direktor des Rennens. Nachdem sich im Jahr zuvor die Schauspieler Käthe von Nagy (1904-1973) beim Startschuss den Zeigefinger verletzt und auf Schmerzensgeld geklagt hatte, wollte man weitere Vorfälle dieser Art offenbar vermeiden.
Reichsradsportführer Franz (Ferry) Ohrtmann (1894-1969) war beim Start in der Rheinlandhalle anwesend, der Verbands-Gauleiter Fritz Thomas hielt eine Rede, man sang gemeinsam Deutschland- und Horst-Wessel-Lied. Alle Anwesenden, auch die ausländischen Fahrer, entboten den „deutschen Gruß“: „Ein sehr schöner Augenblick, der in den Annalen der Kölner Sechstage-Rennen verewigt werden wird.“
Trotz dieses „sehr schönen Augenblicks“ im Jahr 1933 wurden im Jahr darauf auf Geheiß der neuen Machthaber neue Regeln für Sechstagerennen erlassen und auch „das widerliche Drum und Dran, das Gemisch von Theater und Publikumstäuschung kann wegfallen“, forderte der „Westdeutsche Beobachter“. So durften unter anderem keine Antrittsgelder mehr gezahlt werden, woraufhin die Stars der Szene ausblieben und die Zuschauer schließlich auch. Die Sechstagerennen 1934 in Dortmund und Berlin fanden noch statt, folgende Veranstaltungen in Deutschland gab es erst wieder 1949.
1930 war das Kölner Sechstagerennen von der „liebreizenden Künstlerin“ Friedl Münzer (1892-1967) von Kölner Schauspielhaus angeschossen worden. Als Jüdin musste sie ab 1937 in Köln untertauchen. Auch für andere Protagonisten hatte die „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten furchtbare Konsequenzen: Der jüdische Journalist Erich Kroner (um 1888-1937), der für den „Illus“ berichtet hatte, kam in Gestapo-Haft und starb 1937 an den Folgen, der Sechstagefahrer Gottfried Hürtgen war mit einer Jüdin verheiratet und wanderte nach Argentinien aus, der Sprinter Mathias Engel (1905-1994), der 1932 im Vorprogramm gestartet war, ging mit seiner jüdischen Ehefrau in die USA, und sein Gegner bei diesem Wettkampf, Albert Richter, der in Rheinlandhalle mit dem Radsport begann und hier 1932 seinen ersten Start als Profi hatte, wurde 1940 mutmaßlich von der Gestapo ermordet. An ihn erinnert heute eine Gedenktafel an der Rheinlandhalle. Der Komponist des bei Sechstagerennen gängigen Sportpalast-Walzers, Siegfried Translateur (1875-1944), kam 1944 im Ghetto Theresienstadt zu Tode.
5. Der Neubeginn in Köln ab 1957
Nach 1945 gab es zunächst Pläne, die Rheinlandhalle wieder für sportliche Zwecke herzurichten, was aber an „finanziellen, bautechnischen und verkehrstechnischen Dingen“ scheiterte. 1949 forderte der SPD-Ratsherr Heinrich Hempel erstmals eine „Hallensportstätte“, wie „jede Großstadt und zumal eine sporttreibende Stadt wie Köln sie haben müßte“. 1953 gab es Pläne für eine „Halle am Rhein“, als Architekt war Wilhelm Riphahn vorgesehen und als Hallenbetreiber Ferry Orthmann, der ehemalige Reichsradsportführer von 1933 bis 1935. Die Halle sollte am Fuße der Zoobrücke erbaut und an eine riesige gedeckte Terrasse gekoppelt werden. Auch gab es Überlegungen, eine Halle an der Venloer Straße im Grüngürtel auf dem damals stillgelegten Hubschrauberplatz bauen zu lassen.
1956 plädierte die Kölner SPD für die Nutzung einer Halle der Kölner Messe zu Veranstaltungszwecken und konnte sich mit diesem Vorhaben durchsetzen, nachdem ein von ihr favorisiertes Neubauvorhaben keine Zustimmung fand. Grund für dieses Engagement war, dass die Klientel der Partei Verbindungen zur Radsport- und Boxerszene hatte und vorrangig Veranstaltungen aus diesem Bereich dort stattfinden sollten. 1957 beschloss der Rat, die Messehalle X in der „messe- und ausstellungsfreien Zeit“ für „Sport und andere Zwecke“ zu nutzen. Für das Sechstagerennen wurde eine 166,6 Meter lange mobile Bahn eingebaut, geplant vom Münsteraner Architekturbüro Schürmann, das auch schon für die Bahn in der Rheinlandhalle verantwortlich gezeichnet hatte.
Vom 26.12.1958 bis zum 1.1.1959 fand in Köln das erste Sechstagerennen nach dem Krieg statt. Den Startschuss, der wegen einer defekten Pistole dreimal wiederholt werden musste, gab Oberbürgermeister Theo Burauen (1906-1987, Oberbürgermeister 1956-1973) ab. Nach 145 Stunden und 19.000 Runden siegten der Berliner Klaus Bugdahl (geboren 1934) und der Hochheimer Valentin Petry (1928-2016). „De Aap“ Peter Müller (1927-1992) durfte eine Ehrenrunde fahren, fand aber kein Ende und musste von der Bahn geholt werden. Die Sängerin Angèle Durand (1925-2001) war angereist und fuhr bei ihrem Schulfreund Rik Van Stenbergen (1924-2003) auf dem Rad mit. Unter den prominenten Gästen befanden sich die Mannschaften des FC Köln und des FC Kaiserslautern, der Leichtathlet Manfred Germar (geboren 1935) und Opernsänger Kenneth Spencer (1913-1964).
Abgesehen von der Prominenz kamen 60.000 Besucher auf die „Schäl Sick“ und genossen das sportliche Spektakel in einer „blauen Dunstwolke aus Tabakqualm, Massageöl und Parfümdunst“. Die „Kölnische Rundschau“ titelte: „Six-days waren ein Erfolg“, wenn sich auch der Kölner Fahrer Friedhelm Fischerkeller (1935-2008) schon nach 14 Minuten die Schulter gebrochen hatte. „Was aber geblieben ist, das ist die Erinnerung an diese Tage und Nächte, die darüber entscheiden sollten, ob Köln wieder einmal Aussichten haben kann, in die Reihe der Radsport-Hochburgen eingereiht zu werden. Nun, diese Frage, die sowohl die Freunde der surrenden Räder als auch die Stadtväter gleichermaßen bewegt, kann und muß man mit einem eindeutigen ‚Ja‘ beantworten.“ Den Zuschauern habe man indes anmerken können, dass es ihnen nach der langen Sechstage-Pause noch an Sachkenntnis fehle.
Das Konkurrenzblatt „Kölner Stadt-Anzeiger“ zeigte sich gespalten. Ein Journalist aus der Lokalredaktion zeigte sich skeptisch: „‘Wie‘, sagte der Kollege vom Sport und machte Augen so groß wie Rennräder, ‚du warst noch nie bei einem Sechstagerennen?‘ Da schämten wir uns aber sehr und gingen sofort zur rechtsheinischen Vergnügungsmühle, um die Schande abzuwaschen.‘“ Sein niederschmetterndes Fazit: „Schön ist ein Veloziped, wenn es auf der Stelle steht."
Begeisterung hingegen in der Sportredaktion: „So ein Sechstagerennen ist eine wichtige Bereicherung des Kölner Nachtlebens. Man ist an diesen Tagen nicht mehr nur auf Theken und Bars angewiesen, um sich ein paar späte Stunden um die Ohren zu schlagen, man kann nun auch seine Zelte auf einer Holzbank im Deutzer Betonpalast aufschlagen und sich die lästige Müdigkeit durch Spurts, Wertungen und Jagden vertreiben lassen.“ Der Journalist Burghard von Reznicek (1896-1971) schrieb: "Kinder, es war was gefällig in der schmucken Halle, die schier platzte, so prall gefüllt war sie. Wer nicht dabei war, ist selbst schuld daran und hole das schleunigst nach."
6. 40 Jahre lang „Auf und Ab“
In den kommenden Jahren hatte das Sechstagerennen im "kargen" Nachkriegsköln eine Monopolstellung unter den Veranstaltungen, bei der die Besucher außer den Radrennen auch Prominente aus Sport, Politik und Kultur zu Gesicht bekamen. Die Zeitungen veröffentlichten in regelmäßigen jährlichen Abständen Reportageserien unter Titeln wie "Die Bunte Schlange", "Karussell der langen Nächte", oder "Sechstagezauber".
Zwar kündigte der Veranstalter Westfalenhallen GmbH den Vertrag nach einem Jahr, es folgte aber die Gründung der städtischen Kölner Sporthallen GmbH. Ihr Geschäftsführer war bis 1978 Hans Grün (1910-1990), der später auch Kölner Bürgermeister war, und gemeinsam mit dem Veranstalter Peter Kanters (1916-1990) die Geschicke des Rennens leitete. „Seine erste Kasse war eine Zigarrenkiste. Büromöbel lieh er sich bei der Messe GmbH und Büropapier und Bleistifte hatte er sich zuvor ‚stibitzen‘ müssen.“ Da die Sporthalle als solche nur im Winter genutzt wurde, standen die hohen Kosten für den Umbau in keinem günstigen Verhältnis, weshalb 1962 beschlossen wurde, die Messehalle X ausschließlich für Veranstaltungen zu nutzen. Das lohnte sich nun, da dort zahlreiche Veranstaltungen in verschiedenen Sportarten stattfanden und sie auch als Trainingsstätte für die Bahnradsportler dienen konnte.
Auf die erste Austragung folgten 40 Jahre Sechstagerennen in Köln: Es begann immer kurz nach Weihnachten, nach der Austragung des „Großen Weihnachtspreises der Steher“ in den Dortmunder Westfallen, endete nach der Jahreswende und wurde als alsbald als „sechste Jahreszeit“ bezeichnet. In der Regel waren zehn oder elf Mannschaften aus je zwei Fahrern am Start. Das Rennen bedeutete eine willkommende Abwechslung in der besinnlichen Jahreszeit, und am 31. Dezember wurde eine riesige Silvesterparty gefeiert. In den ersten Jahren waren Karten für das Sechstagerennen nicht einmal mehr auf dem Schwarzmarkt zu erhalten.
Die zweite Austragung 1959/1960 stieß auf großes Publikumsinteresse, da es zum angekündigten ersten Profistart des populären Verfolgungs-Weltmeister Rudi Altig (1937-2016) kam. Altig war eigentlich noch Amateur bis zum Ende Jahres, aber zwei Tage vor Beginn des Rennens bekam er die notwendige Starterlaubnis. Silvester wurde in der Sporthalle groß gefeiert, und die Fahrer „waren um Mitternacht zu Scherzen aufgelegt“, doch zwei Tage später musste mit einer „Runde des Schweigens“ des am 2. Januar gestorbenen zweifachen Tour-de-France-Siegers Fausto Coppi (1919-1960) gedacht werden.
Altig musste das Rennen in der vorletzten Nacht mit Sitzbeschwerden aufgeben. 1961/1962 sorgte sein Start gemeinsam mit dem Krefelder Hennes Junkermann (geboren 1934) für einen neuen Besucherrekord, der „die kühnsten Erwartungen übertraf“, Altig musste aber ein weiteres Mal aufgeben, nun wegen eines Schlüsselbeinbruchs. In den kommenden Jahren sollte er das Rennen vier Mal gewinnen.
Zu einem ersten Einbruch der Besucherzahlen kam es Ende der 1960er Jahre, wenn auch immer wieder Schnee und Eis oder Hochwasser in manchen Jahren einen rückläufigen Besuch bescherten. Franz Wendland, langjähriger Direktor der Sporthalle: „Die kölschen Six Days waren ein ständiges Auf und Ab.“ Die Zahlen schwankten zwischen 33.000 und 60.000 Zuschauern. Die Radrennbahn wurde mit weiteren Veranstaltungen ausgelastet, wie Amateur-Sechstagerennen, Winterbahnmeisterschaften, deutschen Meisterschaften, Europameisterschaften und dem Amateur-Rennen „Silberner Adler“. Mit der Möglichkeit, auf der Bahn in der Sporthalle Amateurrennen stattfinden zu lassen, erfüllten die Sechstage aus kommunal- und sportpolitischer Sicht wichtige Aufgaben: Sie galten als Aushängeschild der "Sportstadt des Westens" und tragende Kraft für den Breitenradsport.
Zum Gelingen der Veranstaltung trugen rund 400 Mitarbeiter bei, von denen einige zum „Inventar“ gehörten, darunter die beliebte Klofrau auf der Herrentoilette, die für ihren guten Kaffee gerühmt wurde. Neben Hans Grün und Peter Kanters sowie später dessen Sohn Hans-Peter (1942-1991) in der Leitung waren dies etwa die ehemaligen Rennfahrer Jean Schorn (1912-1994), Paul Oszmella und Hans Zims (1908-1980), die Band Hardy van den Driesch und die Hallensprecher Sigmund Durst (Sidu) (1904-1974) und Köbes Roth (1927-2010), denen man einen „ovalen Blick“ nachsagte. "Die vertraute Stimme von Siegmund Durst gehört zu einem Sechstagerennen wie das Salz in der Suppe", schrieb die Presse: Ohne seine Hilfe wüssten Zuschauer mitunter nicht, wo beim Sechstagekarussell "vorne und hinten" sei. Auf Roth und Durst folgten der Schweizer Charly Schlott (geb. 1934), der den Rennfahrer gerne Spitznamen verpasste (Sigi Renz etwa war der „Bayrische Löwe“) sowie der WDR-Journalist Herbert Watterott (geboren 1941). Ab 1977/1978 leitete Franz Wendland (geb. 1933) das Sechstagerennen, Sportlicher Leiter wurde nach dem frühen Tod von Hans-Peter Kanters im Jahre 1991 Wilfried Peffgen (1942-2021).
7. Rasanter Sport und wildeste Party
Ab den 1970er Jahren wurde das Rennprogramm zunehmend aufgelockert: Das letztlich wenig ereignislose Umkreisen der Bahn zog immer weniger Zuschauer in den Bann, die nun durch Film und Fernsehen an abwechslungsreiche Angebote gewöhnt waren. Schließlich einigten sich die Mitglieder des Verbandes der Radrennveranstalter darauf, bei allen Sechstagerennen die Fahrtzeit der Fahrer zu kürzen; der Weltradsportverband UCI schrieb dabei eine Mindestfahrzeit für die Zweier-Mannschaften vor. So reduzierte sich etwa von bis 1963 bis 1969 die reine Fahrstrecke während der 145 Stunden von mehr als 4000 auf etwa 2500 Kilometer.
Die Kölner Veranstalter hatten sich zunächst geweigert: „Wir sind es unseren Besuchern […] schuldig, ein komplettes Programm zu bieten“, verkündete Grün. Aber auch sie mussten schließlich auf die sinkenden Zuschauerzahlen reagieren. Das stete Kreiseln der Zweiermannschaften, bisher nur durch eine Neutralisation zwischen 6 und 12 Uhr unterbrochen, wurde in einzelne Wettbewerbe wie Zweier-Mannschafts- und Dernyrennen, Rundenrekordfahren oder Ausscheidungsfahren aufgeteilt, weitere Disziplinen zwischen den Rennen ausgetragen und das Showprogramm ausgeweitet. Tagsüber wurde nicht mehr gefahren, das Programm begann erst abends. Folge war, dass sich der Charakter des Zweier-Mannschaftsfahren grundlegend änderte, da es nicht mehr viele Stunden am Stück ausgetragen wurde: Es spielte zwar weiterhin eine zentrale Rolle, wurde aber nur noch zeitlich begrenzt zwei oder drei Mal am Abend bestritten (etwa die legendäre „Große Kaufhofstunde“ von elf Uhr abends bis Mitternacht), wodurch sich die Taktik des Rennens grundlegend veränderte: Es wurde zunehmend schneller, und dem gekonnten „Schleudergriff“, der einen dynamischen Wechsel zwischen den beiden Fahrern einer Mannschaft ermöglichte, kam eine wachsende Bedeutung zu.
Bis 1975 gehörten die beim Publikum beliebten Steherrennen hinter donnernden Motoren zum Kölner Sechstagerennen. Am 5.12.1976 kam es bei einem Steherwettbewerb vor dem Sechstagerennen zu einem verhängnisvollen Sturz des Dortmunder Fahrers Dieter Kemper (1938-2018), der anschließend neun Tage lang im Koma lag. Noch im Januar des Jahres hatte er das Sechstagerennen gemeinsam mit Wilfried Peffgen gewonnen. Daraufhin wurde beschlossen, auch beim Sechstagerennen selbst aus Sicherheitsgründen keine Steherrennen mehr auf der kleinen Deutzer Bahn auszutragen – stattdessen kurvten von nun an die Fahrer hinter Dernys (eine Art Moped) um die Bahn. Auch diese Rennen entwickelten sich – insbesondere aufgrund der kernigen Schrittmacher-Typen – zu Publikumsrennern. Nach der Wende, als populäre DDR-Sprinter wie der bärenstarke Chemnitzer Michael Hübner (geboren 1959) und der ebenfalls aus Sachsen stammende Jens Fiedler (geboren 1970) im Profi-Bahnradsport auftauchten, wurde ein Wettbewerb für die Sprinter ausgerichtet. Die Männer mit den dicken Oberschenkeln und ihre Sechstage-Kollegen übten eine starke Anziehungskraft auf das weibliche Publikum aus, das immer reichlicher in die Kölner Halle strömte und die bisherige „Männerveranstaltung“ veränderte.
Neben diesem sportlichen Angebot gab es ab Mitte der 1980er Jahre in der Kölner Sporthalle während des Rennens weitere Unterhaltung, so etwa eine kleine Kirmes in einem benachbarten riesigen Zelt mit „Hau den Lukas“, Spielautomaten, Schießbuden und Verpflegungsständen.
Bis in die frühen Morgenstunden konnte getrunken und gegessen werden. Der Sportjournalist Jupp Müller (1923-2008) rechnete 1971 im „Kölner Stadt-Anzeiger“ zusammen: „Die während des Sechstagerennens verspeisten 30.000 Bockwürste würden aneinandergereiht eine Schlange von 7,5 Kilometer Länge ergeben. Die Angestellten […] verkauften 200 000 Glas Bier, 90 000 Flaschen alkoholfreie Getränke, Eisbein von 420 Schweinen, 20.000 Mettbrötchen, 10.000 Speckschnitten und 2.000 Flaschen Sekt.“
Auch wurde ein „Wettbewerb“ für Frauen unter dem Titel "Miss Kurve" ausgerichtet, der anfangs auf einem Klapprad ausgetragen wurde, und, nachdem es zu einem Sturz gekommen war, auf einem festinstallierten Trimmrad – ein Programmpunkt, der allerdings von den vorrangig männlichen Besuchern belächelt wurde und wohl eher deren Voyeurismus bediente.
Die Silvesternächte wurden gemeinsam von Franz Wendland und Rolf Dietmar Schuster (geb. 1944), Präsident der Karnevalsgesellschaft "Große Mülheimer", organisiert. Es gab ein Feuerwerk, leichtgeschürzte Sambadamen, Glockenklänge und Trompetensoli. In den ersten Jahren stiegen die Fahrer um Mitternacht nur für wenige Minuten vom Rad, zuletzt wurden die Rennen um 23.30 Uhr beendet, damit die Fahrer duschen, sich umziehen und mitfeiern konnten, und dann „Jubel, Trubel, Heiterkeit“ und die eine oder andere Polonaise durch den Innenraum. In manchen Jahren tauchte kurz nach Mitternacht das Kölner Dreigestirn in der Halle auf, um nahtlos die sechste Jahreszeit wieder in die fünfte übergehen zu lassen.
Rekordteilnehmer in Köln war der Berliner Klaus Bugdahl mit 20 Starts, Rekordsieger hingegen der Stuttgarter Albert Fritz (geboren 1947) mit sieben Erfolgen, gefolgt von dem belgischen „Sechstagekaiser“ Patrick Sercu (1944-2019) mit sechs Siegen. Jeweils vier Siege konnten die Fahrer Rudi Altig, der in Köln besonders populäre Belgier Etienne De Wilde (geboren 1958), sein Landsmann René Pijnen (geboren 1946), der Niederländer Peter Post (1933-2011) und der Kölner Wilfried Peffgen verbuchen – in Köln hatten Rheinländer, Belgier und Niederländer die Nase vorn.
Nicht nur über die sportlichen Ereignisse wurde berichtet. So fand 1965 ein Gottesdienst im Innenraum der Radrennbahn statt. 1973 – Altig, der 1971 seine Karriere beendet hatte, gab den Startschuss – wäre um ein Haar die freitägliche „Goldene Nacht“ ausgefallen: Zur Lüftung und Säuberung war ein Bahnstück hochgeklappt worden war, dass sich dann nicht wieder herabsenkte, weil die Hydraulik streikte, was aber auf die Schnelle repariert werden konnte.
1993/1994 musste der Frankfurter Dietrich Thurau (geboren 1954) eine Geldstrafe bezahlen, weil er trotz Verbots einen Silvesterknaller in der Halle gezündet hatte. 1996 bestritt der Australier Danny Clark (geboren 1951), der als „singender Cowboy“ in den Rennpausen auftrat, sein letztes Rennen in Köln und weinte Tränen beim Abschied. In einem Jahr stibitzte der dänische Fahrer Gert Frank (1956-2019) die Startglocke, die später in einer Kühltruhe in einer Fahrerkoje wiedergefunden wurde.
1978 fand beim 25. Sechstagerennen die „wildeste Party“ statt, da dem Anlass gemäß Kölsch und Korn zu den Preisen von 1928 für 30 Pfenning und Würstchen für 60 Pfennig verkauft wurden. Den Startschuss zu dieser Austragung gab „Fibbes“ Rausch, Sieger der Jahre 1928 und 1930. 1984 kamen die Kölner Sängerin Marie-Luise Nikuta (geb. 1938) und Franz Wendland auf Elefanten in die Halle geritten, um Werbung für einen kleinen Zirkus zu machen, der mit Tieren in der Nähe kampierte und kein Geld mehr für Futter hatte.
Der Besucherrekord von 1978 in Köln konnte indes nicht davon ablenken, dass sich die Sechstagerennen allgemein in einem Abwärtstrend befanden. Speisten sich in den 1960er Jahren Veranstaltungen dieser Art vermutlich noch von der Faszination und Begeisterung der Anfangsjahre, zeigten die steigenden Kosten durch die Ölkrise und eine zunehmende Arbeitslosigkeit ihre Folgen. Hinzu kam der wachsende Konkurrenzkampf von neuartigen Vergnügungsveranstaltungen. Auch die gesellschaftlichen Umbrüche hatten ihre Auswirkungen: Die späten 1960er und die 1970er Jahre waren geprägt von Brüchen mit Konventionen und Tabus. „Ein Sechstagerennen, das einst als Symbol für das sich ständig drehende Mühlrad einer Arbeiter-Gesellschaft galt, wirkte nun auf Teile der Bevölkerung möglicherweise veraltet und zu einseitig.“ (Sandra Schmitz)
8. Eine neue Halle, aber keine Radrennbahn
Besonders in den 1980er Jahren sank das Interesse in Köln; so waren am Neujahrstag 1985 gerademal 1.200 Besucher in der Halle, der Verlust betrug letztlich rund 70.000 Mark, so dass das Sechstagrennen ab 1986 auf fünf Tage reduziert wurde. Anfang der 1990er Jahre gab es jedoch eine Wende: So kamen Neujahr 1994 rund 6.500 Zuschauer, und 1996/1997 war an allen Tagen nahezu volles Haus. Lediglich ein Wintereinbruch verhinderte den Besucherrekord.
Das Kölner Sechstagerennen war nicht immer unumstritten, neben Anhängern gab es auch Gegner. Das lag nicht zuletzt an den Kosten: Am Ende standen nicht selten rote Zahlen, doch wurde diese stets geschickt in die Gesamtkalkulation der Sportstätten eingerechnet. Eine Abschaffung aus Kostengründen stand jedoch nie ernsthaft zur Debatte. Allerdings setzten Größe und Ausstattung des „Altertümchens“ Sporthalle auf Dauer der Veranstaltung spektakulärer Events natürliche Grenzen. Der Aufwand für den Aufbau der Radrennbahn lohnte finanziell kaum noch. Außerdem plante die Kölner Messe, zu expandieren, und dabei stand die Sporthalle im Wege.
Erste Planungen für den Neubau eines „EuroPalasts“ endeten 1989 mit dem Rückzug des österreichischen Bauunternehmens Strabag SE aus dem Vorhaben. 1995 fiel nach langjähriger Planung die Entscheidung zum Bau der „KölnArena“ durch die Philipp Holzmann AG. Bei ihrer Eröffnung 1998 war sie die größte Veranstaltungshalle Europas, nach dem Vorbild großer Mehrzweckhallen in den USA. 2008 erhielt sie den Namen „Lanxess Arena“; aufgrund der bogenförmigen Trägerkonstruktion für ihr Dach wurde sie von den Kölnern „Henkelmännchen“ getauft.
Die Radsportfreunde freuten sich zunächst auf die Aussicht einer neuen Halle, und die Bauherrin prüfte die baulichen Möglichkeiten – aber, so Wendland, „die wollten eine viereckige Halle“, da diese einfacher zu nutzen war. Statt auf Bahnradsport wurde auf Eishockey gesetzt, das über Monate Publikum anzieht und nicht nur einmal im Jahr. Im Laufe des Jahres 1996 sprach sich herum, dass es in dieser neuen Arena keine Radrennbahn geben werde, und die Freude in Radsportkreisen wandelte sich in „ungläubiges Entsetzen“. Langsam wuchs die Erkenntnis, dass es mit dem Abriss der Sporthalle in Köln auch kein Sechstagerennen mehr geben werde. Wendland: „Da haben die Funktionäre geschlafen.“ Im „Kölner Stadt-Anzeiger“ befand man, dass die privaten Geldgeber der KölnArena vor allem auf Profit aus seien und wenig Sinn für Sentimentalitäten hätten. Jahrelang habe das Kölner Rennen ohnehin ein "Mauerblümchen-Dasein" neben Bremen und Dortmund geführt, jahrelang sei klaglos ein „verstaubtes Konzept" hingenommen worden, jetzt sei man „von der Zeit überrundet worden“. In der „Kölnischen Rundschau“ hieß es: „In der Kölnarena [...] ist für den Rummel rund um die tollkühnen Männer im Sattel kein Platz. Abenteuerliche Überlegungen, im Radstadion Müngersdorf ein Ausweichquartier zu schaffen, verschwanden schnell wieder im Papierkorb. Tradition hat in Köln keine Zukunft."
9. Ein Rennen mit Herz - Kölner Sporthalle – Tschüss
Beim Start des Kölner Sechstagerennen am 30.12.1997 in der Sporthalle, angeschossen von Rekordsieger Albert Fritz, war gewiss: Dieses würde nicht nur das 46., sondern auch das letzte Sechstagerennen in Köln sein, zumindest an dieser Stelle. Es standen T-Shirts für 15 Mark zum Verkauf mit dem Aufdruck „Ein Rennen mit Herz - Kölner Sporthalle – Tschüss“, die sofort ausverkauft waren. Insgesamt kamen 38.000 Besucher („der Kölsche geht eben gerne auf Beerdigungen“). Der Kölner Andy Kappes (1965-2018) gewann das letzte Rennen mit dem Italiener Adriano Baffi (noch bis November war Kappes wegen Dopings für drei Monate gesperrt gewesen) (geb. 1962), und die Sprinter Jens Fiedler und Eyk Pokorny (geboren 1969) verabschiedeten sich mit einem spektakulären fünfminütigen Stehversuch aus Köln. Und ein letztes Mal feierten die Fans Silvester in der Kölner Sporthalle in das neue Jahr hinein.
Endgültig Schluss war am ersten Sonntag des neuen Jahres, am 4.1.1998, um 21 Uhr. Es war das letzte Sechstagerennen an dieser Stelle – und das mutmaßlich letzte in Köln überhaupt. Der „Express“ zeigte Bilder von weinenden Zuschauern beim Verlassen der Sporthalle. Ein Journalist des „Kölner Stadt-Anzeigers“ stellte die Frage, „mit welchem Sinn“ man künftig die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr füllen solle und verstieg sich – in offensichtlicher Verbitterung – zu der Aussage, dass das Kölner Sechstagerennen schon einmal abgeschafft worden sei, nämlich 1934 von „den Nazis“.
Später kamen die Umstände des Baus der 1998 eröffneten Arena sowie des benachbarten gleichzeitig erstellten Technischen Rathauses unter Klüngelverdacht: Die Bedingungen für den finanzierenden Oppenheim-Esch-Fonds wie etwa das von der Stadt bereitgestellte Grundstück waren ungewöhnlich günstig, die Miete, die die Stadt in den kommenden Jahren entrichten muss, ungewöhnlich hoch, und kurz nach Abschluss der Verträge zwischen Stadt und Fonds wechselte der maßgebliche Oberstadtdirektor Lothar Ruschmeier (1945-2012, Oberstadtdirektor 1990-1998) zu besten Bedingungen von der Stadt zum Fonds.
Der Holzmann-Konzern trat beim Arena/Rathaus-Projekt zunächst auch als Betreiber auf. Die Tochterfirma Arena Management GmbH mietete die Arena für zwölf Millionen auf 20 Jahre an, eine Verpflichtung von 240 Millionen Euro. Wie sich beim Beinahe-Konkurs des Konzerns im Dezember 1999 herausstellte, war dies einer der großen Verlustposten. Aus den Mitteln, den Bundeskanzler Gerhard Schröder (geboren 1944, Bundeskanzler 1998-2005) für die Rettung von Holzmann-Arbeitsplätzen bereitstellte, kamen 55 Millionen Euro, mit denen sich Holzmann aus dem Vertrag herauskaufen konnte.
Die „altehrwürdige“ Kölner Sporthalle wurde am 13.3.1999 unter den Augen zahlreicher Schaulustiger gesprengt, die sich jedoch zunächst „wie in einem letzten verzweifelten Kraftakt“ dagegen zu wehren schien: Die Sprengung gelang erst beim zweiten Versuch. Heute befinden sich neuere Messebauten auf dem zwischen dem Messekreisel und dem Tanzbrunnen am Rhein gelegenen Gelände. Erinnerungsstücke aus der Sporthalle kann man im Deutschen Sport- und Olympiamuseum in Köln besichtigen. Eine der hölzernen Kojen zierte jahrelang das Foyer des 2022 abgerissenen Radstadions in Köln-Müngersdorf, dessen Bahn nach Albert Richter benannt war. An ihrer Stelle soll eine moderne multifunktionale Sportstätte mit Radrennbahn entstehen, die den Namen "Albert-Richter-Velodrom" tragen wird. Die Latten der Radrennbahn wurden nach Litauen verkauft, wo sie jedoch niemals aufgebaut wurden.
Schon ab 1998 versuchten Radsportfreunde, an die Tradition der Kölner Sechstagerennen anzuknüpfen und veranstalteten mehrfach das eintägige Rennen „Die Freitag Nacht“ nach Sechstagemuster im Kölner Radstadion. Die Kölner ließen sich jedoch nur mäßig für diese Freiluftveranstaltung erwärmen, so dass die Rennserie 2001 eingestellt wurde. Ab 2012 gab es zwei weitere Versuche, auf einer mobilen Radrennbahn in einer der Kölner Messehallen das „Kölner Sechstagerennen“ wiederzubeleben. Diese Pläne kamen jedoch nie zur Ausführung.
In der Wintersaison 2018/2019 wurden nur noch zwei Sechstagerennen in Deutschland ausgetragen. Die Veranstaltung in Bremen hält sich wacker und hat ein treues Party-Publikum. Das Berliner Sechstagerennen wurde von einer britischen Firma gekauft und für moderne Bedürfnisse und Sehgewohnheiten aufgepeppt. Es ist Teil einer Rennserie von mehreren europäischen Sechstagerennen, unter anderem in London und Kopenhagen. Das Kölner Sechstagerennen bleibt indes eine Erinnerung an eine „gute alte Zeit“ – mit welcher Berechtigung auch immer.
Quellen
Interview mit Franz Wendland, 5.2.2018.
Zahlreiche Artikel in: Kölner Stadt-Anzeiger, Kölnische Rundschau, Illlustrierter Radrenn-Sport (Berlin), Radsport (Bielefeld).
Literatur
Ehlert, Florian, Die Entwicklung der Kölner 6-Tage-Rennen von 1928-1934. Diplomarbeit Deutsche Sporthochschule Köln 2012 (DA14978).
Franz, Renate, Fredy Budzinski. Radsport-Journalist-Sammler–Chronist, Köln 2007.
Franz, Renate/Schwarzer, Jan Eric , Verbot – ja oder nein? Das Ende der Sechstagerennen im Dritten Reich, in: Der Knochenschüttler. Zeitschrift für Liebhaber historischer Fahrräder und Mitgliederjournal des „Historische Fahrräder e.V.“ Nr. 46, 2009, S. 4–9.
Langen, Gabi, Geliebt–Verehrt–Vergöttert. Die Idole des Kölner Sports, Köln 2000.
Langen, Gabi, Sport- und Freizeitpolitik in Köln 1945-1975, Sankt Augustin 2007.
Schmitz, Sandra, Zur Entwicklung des Kölner Sechstagerennens 1958-1998. Diplomarbeit Deutsche Sporthochschule Köln 2012 (DA 15112).
Kölner Sportstätten GmbH, 20 Jahre Kölner Sporthalle 1958 – 1978. 20 Jahre Sport, 20 Jahre Unterhaltung, 20 Jahre Stätte der Begegnung, 1978.
Online
Rheinische Industriekultur [Online]
WDR-Reportage "Das letzte Kölner Sechstagerennen", (abgerufen am 21. Mai 2018). [Online]
KuLaDig Objektansicht der Sporthalle auf dem Messegelände in Deutz (abgerufen am 21.5.2018). [Online]
Welt-Artikel "Jetzt rückt auch die Köln-Arena ins Visier der Klüngel-Fahnder" (abgerufen am 21.5.2018). [Online]
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Franz, Renate, Die Kölner Sechstagerennen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/die-koelner-sechstagerennen/DE-2086/lido/5d31b7fdddfd36.32550260 (abgerufen am 12.12.2024)