Saarbrücken im Ersten Weltkrieg
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1. Einleitung
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, besaß Saarbrücken gerade einmal fünf Jahre den Status einer Großstadt. Grundlage dafür war die Vereinigung der drei bis dahin selbstständigen Städte Saarbrücken, St. Johann und Malstatt-Burbach durch einen Vertrag, der mit Wirkung vom 1.4.1909 in Kraft trat. Die Einwohnerzahl der neuen Stadt Saarbrücken, die den Namen der früheren Residenzstadt (fortan Alt-Saarbrücken) übernahm, belief sich auf rund 105.000 und war damit die fünftgrößte linksrheinische deutsche Großstadt und eine der 50 Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern im Deutschen Reich. Zum Bürgermeister (ab 1910 mit dem Titel Oberbürgermeister) wurde der aus Wiesbaden stammende Jurist Emil Mangold (1867-1945) gewählt. Wie seine unmittelbaren Amtsvorgänger stammte er nicht aus der ortsansässigen Bevölkerung. Eine ‚importierte Bürokratie‘ war in der Rheinprovinz gang und gäbe. Mangold blieb bis zu Beginn der Völkerbundzeit im März 1919 im Amt. Seine zehnjährige Amtszeit verteilte sich je zur Hälfte auf Friedens- und Kriegsjahre. Er wurde nach Kriegsende von der französischen Militärverwaltung entlassen und im April 1919 aus dem Saargebiet ausgewiesen. Ab 1929 lebte er mit seiner Familie in Kassel, wo er 1945 verstarb.
2. Militär und städtische Gesellschaft
Mangold traf in Saarbrücken eine städtische Gesellschaft an, in der das Militärische einen hohen Stellenwert besaß. Dieses gewann nicht nur ideologisch, sondern auch realiter an Bedeutung, denn die preußische Regierung baute hier seine Verteidigung gegen potentielle Angriffe aus dem Westen aus. Die 1912 erfolgte Einrichtung des stellvertretenden Generalkommandos des 21. Armeekorps in Saarbrücken wertete die Stadt in ihrer Bedeutung auf und brachte einen Prestigegewinn. Sie stellte eine Etappe und einen Baustein auf dem Weg zur Landeshauptstadt dar. Soldaten gehörten zum Stadtbild, insbesondere in den älteren Stadtteilen. In Alt-Saarbrücken war ein Infanterieregiment stationiert, in St. Johann befand sich ein Ulanenquartier auf und in St. Arnual die Unterkunft von Artilleristen. Im Jahre 1913 erhielten die Ulanen auf dem Schlossplatz zur Erinnerung an ihre Leistungen im Krieg 1870/1871 ein eigenes Denkmal. Zu diesem Zeitpunkt, ein Jahr vor Kriegsausbruch, gliederte sich das Saarbrücker Militär in 171 Offiziere, 104 Militärbeamte, 601 Unteroffiziere, 3.553 Gemeine, denen 2.159 Militärpferde zur Verfügung standen.
Soldaten und Offiziere führten kein Leben im Ghetto, sondern gingen eine Symbiose mit der städtischen Bevölkerung ein. Gemeinsam erlebten sie den Zapfenstreich auf dem Ludwigsplatz; Militärkonzerte auf dem Neumarkt, im Ludwigspark oder im Volksgarten erfreuten sich großer Beliebtheit und zogen die Massen an. Zivilisten marschierten bei Umzügen hinter Ulanen- und Dragonerkapellen durch die Stadt. Beide gesellschaftlichen Gruppen trafen sich in den Versammlungen der zahlreichen Krieger- und Soldatenvereine und bei der Beerdigung eines Kameraden. In der exklusiven Casinogesellschaft begegneten sich die städtische und die militärische Elite bei gemeinsamen Essen und zur Pflege von Geselligkeit und Konversation. Kriegsveteranen wurden zu Vorträgen vor Schulklassen eingeladen. Gemeinsame Sonntagsausflüge führten zu Stätten der Erinnerung, zu nationalen Denkmälern und zu heroisierten Schlachtfeldern wie dem Spicherer Berg vor den Toren der Stadt, der zur touristischen Hauptattraktion geworden war. Das war der „Geist von 1914“ (Reinhard Rürup), der beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges herrschte.
3. Das Augusterlebnis
Der Militarisierung des Denkens im Wilhelminischen Nationalismus schlug sich in der Aufnahme der kaiserlichen Kriegserklärung an Russland am 1.8.1914 nieder, die den Auftakt zu einem Weltkrieg mit 17 Millionen Toten bildete. Ein kollektiver Jubel dominierte über alle Bedenken. Am 1.8.1914 versammelten sich vor der dem Verlagshaus der Saarbrücker Zeitung mehrere 1.000 Bürger in der Erwartung der neuesten Nachrichten aus Berlin. Nach dem Beginn des österreichisch-serbischen Krieges, den das Attentat vom 28.6.1914 auf den Kronprinzen Franz Ferdinand und seine Ehefrau auslöste, und die russische Generalmobilmachung vom 30. Juli sah sich die deutsche Regierung in einem Zugzwang. Um 17.45 Uhr wurde die Entscheidung, die deutsche Kriegserklärung an Russland bekannt gegeben. Die erste Reaktion der Zuschauer war ein ernstes Schweigen, dann folgten ein Hoch auf Deutschland und begeisterter Jubel.
Binnen weniger Tage breitete sich der Krieg in Europa wie ein Flächenbrand aus: Deutschland erklärte Frankreich den Krieg und bezog Belgien in den Konflikt ein, Großbritannien trat mit einer Kriegserklärung an Deutschland in das kontinentale Ringen ein. Die Saarbrücker Bevölkerung war sich durchaus bewusst, dass harte Zeiten auf sie zukommen würden. Angesichts der sich zuspitzenden internationalen Lage hatten sie sich schon im Juli auf die Alltagsprobleme des Krieges eingestellt. In den Sparkassen standen die Menschen Schlange, um Geld abzuheben, ein Run auf die Lebensmittelgeschäfte führte zum Leerkauf der Regale. Die Menschen deckten sich vor allem mit lang haltbaren Lebensmittel ein: Reis, Erbsen, Linsen und Mehl. Infolge der starken Nachfrage stiegen die Warenpreise schlagartig.
Wochenlang begleitete der Jubel der Menschen die an die Westfront ziehenden Truppen. Sie wurden mit Geschenken der unterschiedlichsten Art, so genannten ‚Liebesgaben‘ überhäuft. Infolge der Hochstimmung meldeten sich junge Männer scharenweise zum Einsatz an der Front. Der Andrang der Freiwilligen war in Saarbrücken so groß, dass das Infanterieregiment Nr. 70 bereits wenige Tage nach Kriegsausbruch, am 5.8.1914 keine weiteren Meldungen mehr entgegen nahm. Der Geist des Überschwangs erfasste vor allem das Bildungsbürgertum, das sich von einer Aufbruchstimmung tragen ließ. Es hoffte auf einen Abbau altüberkommener traditioneller ständischer Schranken.
Intellektuelle, Schriftsteller, Journalisten artikulierten öffentlich ihre Begeisterung. Mit seinem hohen bürgerlichen Anteil reagierten die Saarbrücker offensiver als die Menschen der Arbeiterstädte und auch die bäuerliche Bevölkerung auf dem Lande. Die Erwartung einer neuen Zeit und Gesellschaft erfasste auch Gruppen, die im Wilhelminischen Reich als innere Feinde galten. Sozialdemokraten und Juden suchten angesichts der großen militärischen Bedrohung zu beweisen, dass sie „von echtem Patriotismus und Opfersinn durchglüht waren“. [1]
4. Die Kirchen im Krieg
Nation und Militär wurden im Wilhelminischen Reich im Kontext des gesteigerten Nationalismus mit einer religiösen Aura umgeben. Die kirchliche Einsegnung der Kriegerdenkmäler war dafür symptomatisch. Der Segen der Kirche wurde auch bei Kriegsbeginn erteilt. In der Ludwigskirche fanden sich am 1.8.1914 unter Anwesenheit des preußischen Kronprinzen 2.000 Menschen ein. Der evangelische Pfarrer Julius Ebeling sprach von zwei Seelen, die in der menschlichen Brust in Konflikt lagen: „Die eine weint um unsere Männer, Söhne, Brüder, aber die andere jauchzt und ist stolz, auf dem Altar des Vaterlandes opfern zu dürfen.“ Der Kriegsbeginn bewirkte ein sprunghaftes Ansteigen der Religiosität, Kirchen sprachen schon von einem „deutschen Pfingsten“.[2] Wie schon lange nicht mehr strömten die Menschen in die Kirchen, um die Sakramente zu empfangen. Diese Stimmung blieb aber während der langen Dauer des Krieges nicht bestehen, sondern ‚normalisierte‘ sich.
Das Verständnis des Krieges als Verteidigungskrieg gab diesem eine moralische Legitimierung und machte den Weg frei für eine religiöse Motivation, die alle persönlichen Kräfte freisetzte. Die Evangelische wie die Katholische Kirche unterstützten die Politik der deutschen Reichsregierung in Wort und Tat. Hohe Würdenträger machten keinen Hehl aus ihrem nationalen Bekenntnis. Erst in den letzten beiden Kriegsjahren kamen vereinzelt kritische Stimmen auf, die aber nur eine sehr verhaltene Resonanz beim Kirchenvolk hervorrief. Die Päpste Pius X. (Pontifikat 1903-1914) und Benedikt XV. (Pontifikat 1914-1922) drückten zwar ihren „tiefen Kummer“ über den unheilvollen Krieg aus, doch die Stimmen aus Rom wurden von den Mächten überhört.
Der Staat band die Kirchen in die Organisation der Kriegswirtschaft ein. Sie waren an der Sammlung von Bekleidungsstücken und an der staatlichen Goldsammlung beteiligt, warben auf der Kanzel, in Vereinen und in Schulen für die Zeichnung von Kriegsanleihen und beteiligten sich mit eigenen finanziellen Mittel an der Kriegsfinanzierung. Der Staat konnte auf die Kirchen zählen, wenn es darum ging, gegen die aufkommende Kriegsmüdigkeit anzugehen. Die nationale Einbindung der Kirchen überdauerte den Ersten Weltkrieg. Der Tod von Millionen Menschen wurde auch nachträglich noch verklärt. Die Katholische Kirche begrüßte Ende 1918 die heimkehrenden Soldaten: „Ihr kehrt heim. Nicht als Besiegte <… > Euer Heldenschild ist blank, Eure Ehre unversehrt!“ Und der Präses der rheinischen Provinzialsynode, Walther Wolff, fragte rhetorisch auf einer Trauerfeier 1920: „War es nicht ein fürnehmes Sterben, in Sturm und Sieg, in Ausharren und Zurückweichen?“.[3]
5. Kriegswirtschaft
Die Bewohner Saarbrückens wurden schnell mit der Kriegswirklichkeit konfrontiert. Durch ihre strategische Lage war die Stadt eine wichtige Nachschubbasis für die Westfront, zum zweiten stand sie im Zentrum des saarländischen Montanreviers. Der Saarbrücker Bahnhof war bei Kriegsbeginn sofort für den Güter- und Zivilverkehr gesperrt worden. Die Erschwerung des Handels führte zu Umsatzeinbußen, desgleichen der Entzug von Arbeitskräften für den Dienst an der Front. Ende August 1914 meldeten 112 Saarbrücker Firmen, sie hätten 1.552 Entlassungen vornehmen müssen. Durch die Umstellung der Friedens- auf die Kriegswirtschaft trat eine Anpassungskrise ein, bei der es Gewinner und Verlierer gab. Gewinner waren z.B. die Stahlbaufirma Seibert, die sich auf Stahlhallen für Zeppeline spezialisierte. Erhard & Sehmer produzierten Pressgasminenwerfer. Die Bürstenfabrik Tiator stellte Granatbürsten her.
Mit Eisen und Stahl, Kohle und Koks lieferte die Industrie der Saar die wichtigsten Grundstoffe für die deutsche Rüstungsproduktion. Die Kriegsamtsstellen (KAST) entschieden über die Wichtigkeit einer Produktion. An der Saar gab es fünf Eisenhütten mit 31 Hochöfen, die 1913 1.375.000 Tonnen Roheisen erzeugten. Mit einer Fertigung für das Militär war vor der Reichsgründung bis Kriegsausbruch nur die Dillinger Hütte hervorgetreten, die Panzerplatten für die deutsche Marine herstellte.
Die Steinkohlenförderung erfolgte in zwölf preußischen und in zwei bayerischen Staatsgruben, darüber hinaus gab es in Preußen, Bayern und im Reichsland Elsass-Lothringen fünf Privatgruben. Die Rohförderung der staatlichen preußischen Kohlengruben im Saarbrücker Umland betrug in Millionen Tonnen: 1913 13,1; 1914 8,6; 1915 8,3; 1917 10,0. Die Ziffern zeigen den kriegsbedingten Rückgang. Bei den Saarhütten ging die Produktion von Roheisen 1914/1915 gegenüber 1913 um 51,3 Prozent zurück, in Lothringen und Luxemburg um 57,75 Prozent. Der Anteil der Saarhütten an der deutschen Roheisen- beziehungsweise Stahlproduktion relativiert ihre Bedeutung. Er betrug bei Roheisen 6,40 Prozent, bei Gießerei-Roheisen 3,77 Prozent; bei Thomas-Roheisen 9,26 Prozent; bei Flussstahl 7,40 Prozent. Durch die Massenfertigung der Endprodukte war die Saarindustrie vielfach nur Zulieferer. Nach eigener Darstellung lieferte das Hüttenunternehmen Röchling etwa 80 bis 90 Prozent des Rohmaterials für die Stahlhelme der Reichswehr.
Die gravierendste unmittelbare Folge des Kriegsausbruchs war eine hohe Massenarbeitslosigkeit. Sie trat ein, obwohl viele wehr- und arbeitsfähige Männer an die Front einberufen und zu Verteidigungssarbeiten in Metz freigestellt worden waren. Der Verlust an Arbeitern hatte eine Kettenwirkung; er zwang Betriebe zur Schließung und das hatte wiederum die Entlassung der anderen Arbeiter zur Folge. Das Hüttenunternehmen Stumm in Neunkirchen verminderte die Belegschaft von 6.000 auf 2.500, die Burbacher Hütte von 5.000 auf 1.000, die Dillinger Hütte von 6500 auf 3.000 und die Halberger Hütte von 4.500 auf 1.500. Die Produktion der staatlichen Gruben belief sich in diesen ersten Kriegsmonaten auf 15 Prozent der normalen Förderung, die Belegschaft musste von 52.000 auf 14.000 Mann zurückgefahren werden.
Hauptgrund der Arbeitslosigkeit war die Unterbrechung des Güterverkehrs, vor allem der Erzzufuhr, zu Gunsten der Militärtransporte. Von den Entlassungen waren in erster Linie die Frauen betroffen. Täglich meldeten sich hunderte von Arbeitslosen zur Vermittlung und suchten eine Beschäftigung etwa bei Erntearbeiten. Der Landkreis und die Stadt Saarbrücken litten am stärksten unter der Anpassungskrise, da sich hier die großindustriellen Betriebe konzentrierten und die Sperrung des zivilen Personen- und Güterverkehrs am Verkehrsknotenpunkt besonders auswirkte. Mitte September wurden die Beschränkungen für den zivilen Verkehr jedoch größtenteils aufgehoben und Mitte Oktober vermehrten sich die Heeresaufträge an die Saarindustrie. Die Lage am Arbeitsmarkt entspannte sich dadurch wieder.
Die zum Militärdienst eingezogenen Soldaten, die als Arbeitskräfte ausfielen, wurden im weiteren Verlauf des Krieges zum Teil durch Kriegsgefangene ersetzt. Im Ersten Weltkrieg gab es in Deutschland rund 2,5 Millionen Kriegsgefangene. Am 10.10.1918 befanden sich im westlichen Preußen 25.032 Russen, 2.926 Italiener, 203 Engländer, 121 Franzosen, 286 Angehöriger anderer Nationen. 96 englische Offiziere wurden in Saarbrücken festgehalten. Schwerpunkte der Beschäftigung von Kriegsgefangenen waren Bergbau und Hüttenindustrie, daneben Land- und Forstwirtschaft. Auf der bei Saarbrücken gelegenen Kokerei Heinitz waren zum Beispiel am 22.3.1915 50 Russen beschäftigt. 1916 erfolgte eine Bedarfsmeldung der Bergwerksdirektion, die eine Erhöhung der arbeitsfähigen Kriegsgefangenen von 3.500 auf 7.000 für erforderlich hielt. Am Jahresende beschäftigte der Saarbergbau 6.500 Gefangene. Die Militärverwaltung legte Wert darauf, dass die Ausnutzung der Arbeitskraft humanitäre Grenzen nicht überschritt. Das war ein wesentlicher Unterschied zur totalen Versklavung der Zwangsarbeiter im Dritten Reich.
6. Lebensmittelversorgung
Die Versorgung des saarländischen Ballungsraumes mit Lebensmitteln war schon in Friedenszeiten schwierig. Das Industriegebiet zählte zu den Reichsteilen, denen im Juli 1914 aus dem Ausland beschafftes Getreide zugewiesen wurde, um die Ernährung während der ersten Kriegswochen sicherzustellen. Ende Juli 1914 erfolgte eine Bestandsaufnahme der Vorräte an Vieh, Futter- und Lebensmitteln. Von Kriegsbeginn an griffen die Behörden regulierend in die Versorgungsverhältnisse ein. Die Landräte setzten Höchstpreise für die wichtigsten Lebensmittel fest.
Auch bemühten sich die saarländischen Kreise und die Stadt Saarbrücken um eine Vorratshaltung, beschafften Lebensmittel, insbesondere Mehl und Kartoffeln, um sie zum Selbstkostenpreis abzugeben. Allerdings traten Einkäufer des Heeres in den ländlichen Gebieten der Kreise St. Wendel und Saarlouis zu den Lebens- und Futtermittelbeschaffern der Kommunalverbände in Konkurrenz, was die Preise hoch trieb.
Gleichzeitig mit der kommunalen Daseinsfürsorge begann das ehrenamtliche Engagement zur Versorgung der bedürftigen Bevölkerung. Bereits im August 1914 errichteten die Frauenvereine in Saarbrücken vier Volksküchen. Diese wurden zu einer Dauereinrichtung. In erster Linie dienten die 1914 von der Stadt eingerichteten Lebensmittellager der Versorgung eben dieser Küchen, die zwischen dem 15. August und dem 30.11.1914 bereits 448.000 Essensrationen zu je einem Liter austeilten.
Durch die Knappheit der lebensnotwendigen Güter und die Festsetzung von Höchstpreisen wurden Schleichhandel und Schwarzer Markt zu einer Dauererscheinung des Krieges. Im preußischen Teil des Saargebietes waren die Preise höher als in der benachbarten bayerischen Pfalz. Der Unterschied stellte eine Einladung zum Schmuggel dar. Die Preise bei nicht zentral bewirtschafteten Lebensmitteln lagen ein Jahr nach Kriegsausbruch durchweg 100 Prozent über denen vom Juli 1914. Die Verdienste konnten mit den Preissteigerungen nicht mithalten. Die Kaufkraft wurde im Krieg einschneidend geringer, was vor allem die Bezieher von festen Gehältern traf, Rentner und verwitwete Frauen, kleine Angestellte und Beamte.
Der Bezug landwirtschaftlicher Produkte aus Nachbarregionen verlief nicht reibungslos. Die reichsweite Lebensmittelknappheit erforderte überregionale Maßnahmen und Regelungen. Mit der wachsenden Mangelverwaltung nahmen jedoch auch die Probleme einer Kompetenzabgrenzung der Behörden zu. In Saarbrücken kam es am 8.11.1915 zur Gründung von Lebensmittelämtern, um die Verteilungs- und Zuständigkeitsprobleme administrativ besser in den Griff zu bekommen. Es erfolgten Absprachen mit regionalen Verbänden und Reichsämtern. Für Schwerarbeiter waren Sonderregelungen zu beachten. Die Verpflegung der Berg- und Hüttenarbeiter des Saarreviers erfolgte großenteils auf der Basis einer Selbstverwaltung. Die Sonderstellung erklärt sich zum Teil aus ihrer Bedeutung für den Krieg, zum Teil aus ihrer gewachsenen guten Selbstorganisation. Die wöchentliche Brotzuteilung für Bergleute war mit zehn Pfund mehr als doppelt so hoch wie die durchschnittliche. Bergleute mit einem landwirtschaftlichen Nebenbetrieb, auf dem Lande die Regel, wurden mit Futtermitteln und Kunstdüngern aus den Beständen der Bergwerksdirektion beliefert. Ihre Privilegierung wurde von der übrigen Gesellschaft argwöhnisch registriert.
Den Kommunalverbänden fiel in Bezug auf die Verwaltung der Getreidevorräte die Verteilung von Mehl an Bäcker und die Überwachung des Brotbackens und Brotverbrauchs zu. Dazu wurden bis März 1915 Brotkarten eingeführt. Seit dem Spätherbst 1914 wurde das Brot in der Stadt Saarbrücken aus den eigenen Mehlbeständen in einer angemieteten Bäckerei hergestellt. Es bestand nur noch zu 40 Prozent aus Weizenmehl, ansonsten aus Roggenmehl, seit dem 1.12.1914 waren 15 Prozent frische Kartoffeln beigemischt. Anfang Januar 1915 wurde eine mindestens zehnprozentige Kartoffelbeigabe beim Brotbacken verordnet. Kartoffeln gehörten allerdings sehr schnell zu den knappen Gütern. Pro Person und Woche wurden vier Pfund dieses Mischbrots zugeteilt. Gegen Kriegsende stieg der Zusatz von Kartoffeln, die Mehlmischung bestand nur noch aus Roggen und Gerste, teils aus Mais. Ein Brot von 1.750 Gramm bestand zu 1.150 Gramm aus Mehl, also zu 65 Prozent.
Weil die Kartoffelbestände reichsweit drastisch zurückgingen, wurde im Frühjahr 1915 eine Reichskartoffelstelle gegründet. Die Kommunalverbände erhielten Quoten aus Liefergebieten zugewiesen. Dadurch, dass Saarbrücken im Mai 1915 infolge einer Fehlkalkulation auf zentrale Zuweisungen verzichtet hatte, trat im Juli 1915 ein Kartoffelnotstand ein. Im April 1916 waren überhaupt keine Kartoffeln mehr zu bekommen. Deutschland steuerte 1916/1917 auf die schlimmste Versorgungskrise der Kriegsjahre zu, die Fäule bei den Winterkartoffeln vernichtete die Ernte. Die Kälteperiode dauerte länger als üblich. Im Oktober 1916 standen in Saarbrücken nur noch sieben Pfund Kartoffeln pro Person wöchentlich zur Verfügung. Weiß- und Rotkraut sowie Möhren dienten als Ersatz, dazu Kohl- oder Steckrüben. Statt der vorgesehenen 406.000 Zentner Kartoffeln für den Zeitraum vom 15.8.1916 bis zum 15.4.1917 standen 211.300 zur Verfügung.
Die Stadt bestellte zur Milderung des Ernährungsnotstandes 80.000 Zentner Steckrüben, erhielt aber nur 8.000. Im August 1917 erfolgte dann eine reichliche, aber sehr verteuerte Zufuhr von Kartoffeln. Die Preise führten im September 1917 im Raum Neunkirchen/Sulzbach zu einem Massenstreik von 20.000 Bergleuten. Die katastrophale Ernährung ging an die Substanz der Leistungsfähigkeit der Menschen. Durch die mangelhafte Ernährung waren bei Krankheiten wie Tuberkulose, Lungenentzündung und Influenza schwere Schäden zu befürchten. Die Kranken brauchten eine längere Genesungszeit, ältere Menschen erlitten einen Kräfteverfall mit vielfach tödlichem Ausgang. Bei Frauen traten in Folge der Überanstrengungen körperlicher und psychischer Art vermehrt Blutarmut und Nervenschwäche auf.
Ab Juli 1915 bemühte sich Saarbrücken um eine Verbesserung der Fleischversorgung. Hierbei kam der Stadt eine Militärbehörde, die Stelle des Kriegsausschusses für Konsuminteressen, zu Hilfe. Sie machte den Oberbürgermeister Mangold darauf aufmerksam, dass St. Ingbert schon seit März 1915 Abfälle der Etappenschlächtereien der Armeeabteilung Falkenhausen im lothringischen Saarburg und Mörchingen bezog. Saarbrücken wurde in die Versorgung einbezogen und konnte bis 1917 sogar die Belieferung anderer Gemeinden vermitteln. Dann nahm das Militär das Fleisch für eigene Zwecke in Anspruch. Die von der Kommunalverwaltung festgelegten Rationen fielen vom August 1917 bis zum Sommer 1918 bei Fleisch von 200 Gramm auf 120 Gramm und bei Wurst von 100 Gramm auf 30 Gramm. Die Stadt gründete eigene Fleischfabriken und förderte die Produktion von Nährhefe als Fleischersatz. Ab Frühjahr 1917 wurde mit der Einkaufsgesellschaft Rhein-Mosel wieder ein neuer Fleischlieferant gewonnen.
Hilfreich erwies sich die Anwesenheit des stellvertretenden Generalkommandos des 21. Armeekorps. Dank dessen Hilfe konnten im Sommer 1916 13.000 Liter Milch aus Lothringen bezogen werden. Im April 1916 litt die Stadt unter dem Mangel an Butter und Fett. Infolge der schlechten Milchversorgung kamen bald nur noch Kleinkinder und Schwerkranke in den Genuss von täglichen Zuteilungen. Die Versorgung mit Fett, Milch und Milcherzeugnissen war eine der ersten Forderungen des Saarbrücker Kreisarztes, die dieser nach Kriegsende der französischen Besatzungsmacht vortrug.
7. Die Heimatfront
Die Saarregion blieb im Ersten Weltkrieg stets mehr als 50 Kilometer von der Front entfernt, doch der Alltag rückte den Krieg allgegenwärtig ins Bewusstsein. Einen militärischen Bezug wiesen die Schaufensterdekorationen auf, Schüler mit Sammelbüchsen appellierten auf den Straßen an die Spendenbereitschaft zur Unterstützung der Frontsoldaten, auf der Post stapelten sich für Soldaten bestimmte Pakete, Kriegsküchen verteilten Essen an die Menge der Bedürftigen, Lazarette waren voller Verwundeter, Invaliden und Kriegsversehrte begegneten allenthalben, desgleichen in Schwarz gekleidete Kriegerwitwen. Das war das Bild im Scheitelpunkt des Krieges. Am Anfang hat alles anders ausgesehen.
Beim Auszug der heimischen Regimenter in Richtung Metz wurden entlang der Saarbrücker Vorstadtstraße Tische mit Erfrischungen für die Soldaten aufgestellt, an den Bahnhöfen die durchreisenden Truppen mit Lebensmitteln und Tabak überhäuft. Die Saarbrücker Stadtverordnetenversammlung bewilligte für die zweite Kriegsweihnacht im Jahre 1915 15.000 Mark für Liebesgaben, 3.000 Mark für warme Wollsachen. In Klassenräumen und Wohnstuben strickten Frauen und Mädchen unermüdlich. Ein reger Briefwechsel herrschte zwischen der Front und der Heimat. Die von der Front eingegangenen Dankschreiben wurden stolz verbreitet. Gelegentlich war die Massenwohltätigkeit richtungslos und ging an den Bedürfnissen vorbei. Das alles wandelte sich mit der wachsenden Notlage an der Front wie in der Heimat.
Die Erfassung und Ausnutzung aller Ressourcen wurde zu einer bitteren Notwendigkeit. Symptomatisch ist ein Anschlag mit dem Wortlaut: „Sammelt Obstkerne zur Ölgewinnung! Jeder Kern ist wichtig! Jeder sammle!“.[4] Aus spontanen Liebesgaben wurde eine totale Ersatzstoff- und Wiederverwertungsgesellschaft. Organisatoren waren vor allem die Frauenvereine und die Schulbehörden. Schulen wurden im Laufe des Krieges zunehmend mit Hilfsdiensten belastet. Bereits an der „Reichswollwoche“ im Januar 1915, die ein „sehr gutes Resultat“ in Saarbrücken zeitigte, war die ältere Schuljugend beteiligt. Wollsachen wurden in den städtischen Turnhallen auf Veranlassung des Vaterländischen Frauenvereins von Kriegerfrauen gegen Lohn zu Decken, Westen und anderen Artikeln für den Heeresbedarf umgearbeitet. Zur Koordinierung war in der Fürstenstraße im Juni 1917 eine zentrale Sammelstelle eingerichtet worden, der im Kreis Saarbrücken 63 Ortsteile angegliedert waren. Obstkerne, Laub, Wildgemüse, Waldfrüchte, Haare, Gummi, Knochen und Altwaren wurden auf diesem Wege gesammelt. In der Saarbrücker Sammelstelle lagerten im November 1917 unter anderem circa 200 Zentner Eicheln, 400 Kilogramm Teeblätter, 200 Zentner Kastanien und ein mit Brennnesselstengeln gefüllter Waggon.
In einem Abwärtstrend befand sich im Laufe der Jahre der Zuspruch der Bevölkerung zur Zeichnung von Kriegsanleihen, zu der die Regierung in Berlin erstmals im Herbst 1914 aufrief. Sie spannte zur Werbung alle Staatsdiener ein, insbesondere die Lehrer, die mit der breiten Bevölkerung in ständiger Berührung standen, die Verhältnisse vor Ort kannten und die Schüler als Multiplikatoren einsetzten. In der Saarbrücker Oberrealschule warben 278 Schüler 41.600 Mark ein, ein Erfolg, der am 25.9.1914 im kaiserlichen Auftrag gefeiert wurde. Im Januar 1917 wurde ein „Ausschuss für Aufklärungsarbeit für Kriegsanleihen in Saarbrücken“ unter Vorsitz des Oberbürgermeisters Mangold gegründet, der mit allen Mitteln eine erfolgreiche Zeichnung erreichen wollte. Im Zusammenhang mit der Zeichnung der neunten Kriegsanleihe, übten die Behörden massiven Druck aus, um das mittlerweile unbeliebte Instrument der Kriegsfinanzierung zum Erfolg zu führen.
Mit vergleichbar starker Intensität betrieb die Regierung die Goldsammlungen, im Mai 1915 unter dem Motto „Vaterlandsdank“. An der Organisation beteiligten sich die Stadtverwaltung, die Saarbrücker Frauenverbände und die Jugendhilfe. 20.000 Flugblätter wurden zu Werbezwecken verteilt. Der ‚Goldfluss‘ ließ dennoch bereits im Sommer 1915 erheblich zu wünschen übrig. Spenden bildeten den geringeren Teil in der Abschöpfung der Goldreserven, im größeren Umfang fand eine Tauschaktion Gold gegen Papiergeld statt. In der Öffentlichkeit angesehene Persönlichkeiten wurden für Hausbesuche gewonnen, um die privaten Goldschätze auszuheben.
Ein Rückgriff auf den Beistand der Kirchen durfte nicht fehlen. Das Konsistorium in Koblenz und der Bischof von Trier erhielten den Auftrag, von der Kanzel herab zu werben und werben zu lassen. Die Schülerschaft der Königlichen Oberrealschule Saarbrücken tat sich auch hier hervor und konnte bis März 1916 Gold im Wert von 68.225 Mark mit Hilfe ihrer Eltern zusammentragen. Sie erhielten amtlicherseits eine Karte mit der Aufschrift: „Konnt‘ ich auch nicht Waffen tragen, half‘ ich doch die Feinde schlagen“.[5] Im Mai 1916 wurden reichsweit Goldankaufsstellen eingerichtet. Zentrale Annahmestellen an der Saar befanden sich in Saarbrücken, Saarlouis, Ottweiler und St. Wendel. In der Rheinprovinz wurde im Dezember 1917 eigens eine Goldankaufswoche ausgerufen.
An der Heimatfront ragte das Wirken der Frauenvereine in seiner Bedeutung heraus. Im Jahre 1918 zählte der Verband deutscher Hausfrauenvereine 1.800 Mitglieder. In Saarbrücken arbeiteten sie eng mit der Stadt zusammen. Sie waren eingespannt in die Kriegsideologie und proklamierten Durchhalteparolen. In Vorträgen über die sittlichen Aufgaben, die sich in der Kriegszeit stellten, gaben sie ihrem Denken und Handeln, dem Sparen, Sammeln und Spenden, wofür sie Not, Entbehrung und zusätzliche Arbeit auf sich nahmen, eine moralische Würdigung.
Der Vaterländische Frauenverein, der Katholische Frauen-Stadtverband und der Saarbrücker Hausfrauenverein besaßen zusammen mehr als 12.000 Mitglieder. Die vom Vaterländischen Frauenverein gesammelten Liebesgaben (Matratzen, Wollsachen, Tabakwaren) wurden gezielt zu den Saarbrücker Stammregimentern an die Front gesandt. Zu Hause nahm er sich der Versorgung der Verwundeten, Armen und Bedürftigen an und engagierte sich im Sanitätsdienst. Seit 1914 betrieb er vier Volksküchen.
Der Saarbrücker Hausfrauenverein ergriff 1915 die Initiative für eine Erziehung zur Selbsthilfe in Form einer Ernährungsberatung, der Durchführung von Schneiderkursen und der Verteilung von städtischem Acker- und Gartenland, das für den Kleingartenbau zum Zwecke einer Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln zur Verfügung gestellt wurde. Auf eine reichsweite Resonanz stieß ein Flugblatt, worin der Verein eine Hilfestellung für das Reparieren alter und die Herstellung neuer Schuhe bot. Im Steckrübenwinter 1916/1917 organisierte der Verein eine Kochvorführung sowie eine Ausstellung unter dem Motto „Kohlrüben statt Kartoffeln“, die einen großen Zulauf verzeichneten. Kriegskochbücher und Haushaltungsschulen klärten die Hausfrauen hinsichtlich der Zubereitung fett-, milch-, eier- und mehlfreier Kost auf.
Die Mobilisierung der Zivilbevölkerung an der Heimatfront erfolgte bereits früh, bald nach der militärischen Mobilmachung. Am 3.8.1914 erging ein Aufruf zur Teilnahme an der nationalen Arbeit. Innenminister Friedrich Wilhelm von Loebell (1855-1931) ließ im Januar 1915 einen offenen Brief publizieren, in dem er proklamierte: „Es gilt, jeden Haushalt in den Kriegszustand zu versetzen“.[6] Der Brief wurde in der Saarbrücker Zeitung abgedruckt. Was bei den Soldaten Todesmut und Tapferkeit vor dem Feind war, sollte zu Hause eine Entsprechung in Sparsamkeit und Entsagung finden.
Unzählige Leistungen wurden an der Heimatfront freiwillig oder ehrenamtlich erbracht. Die männliche Jugend wurde eingesetzt für Botengänge, für Handlangertätigkeiten bei der Milchausgabe und in Suppenküchen, die einer ehrenamtlichen Leitung unterstanden. Unbezahlte Kräfte übernahmen Verwaltungsaufgaben wie die Verteilung der Lebensmittelkarten. Ehrenamtlich wurden Kinder in Bewahranstalten versorgt. Zur Erntearbeit wurden Schüler der Saarbrücker Gymnasien eingesetzt, Kolonnen von je acht bis zehn Mann aufs Land geschickt. Von den drei Saarbrücker Gymnasien wurden im Sommer 1917 rund 350 Schüler in den Kreis Bernkastel-Kues beordert, wo sie im Weinbau und in der Landwirtschaft mithalfen. Wie die Schüler waren auch die Lehrer und Lehrerinnen mit zusätzlichen Aufgaben außerordentlich hoch belastet.
8. Die Jugend im Krieg
Für die Gymnasien dienten die Zahlen der Freiwilligenmeldungen im August 1914 als Erfolgsmaßstab der vaterländischen Erziehung. Der Rektor des – humanistischen – Ludwigsgymnasiums erklärte stolz, dass die Gymnasien trotz der Vermittlung alter Sprachen „echte deutsche Jünglinge erzogen hatten, eine von hohem Idealismus beseelte, wehrfähige Jugend“. Von den 194 Schülern der Oberklassen seiner Schule hatten sich 92 freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. In den vier Primen lag die Quote Ende September 1914 mit 58 von 67 Schülern bei rund 87 Prozent. Die Oberprima der Oberrealschule Saarbrücken trat geschlossen den Wehrdienst an. Die Jugend befand sich im August 1914 schichtenübergreifend in einem nationalen Rausch. Viele der überwiegend jugendlichen Kriegsfreiwilligen verloren allerdings durch die Konfrontation mit dem Massentod des „industrialisierten“ Krieges schnell ihre Illusionen.[7]
Nach der Aufnahme der Kampfhandlungen weitete sich die Kriegserziehung vor allem außerhalb der Schule im Bereich der Jugendpflege aus. Ideologische Speerspitze der paramilitärischen Indoktrination wurde der im November 1911 gegründete Jungdeutschlandbund, der engste Beziehungen zur Armee unterhielt. Anfang 1914 zählte er circa 750.000 Mitglieder. Die Jugendwehr wurde zum „Zukunftsheer“, wie es in einem Jugendwehrlied hieß. Sie lehnte sich stark an die örtlichen Vereine an. Nur in den vier städtischen Saarbrücker Kompanien hatten die Schüler im Herbst 1914 das Übergewicht. In den übrigen preußischen Saarkreisen stellten junge Arbeiter über 70 Prozent der Jugendwehrmitglieder. Infolge langer Arbeitszeiten war die regelmäßige Teilnahme vieler junger Bergleute von Anfang an nicht möglich. Die Jugendwehrübungen liefen generalstabsmäßig ab. Am 8.11.1914 fand eine Heerschau der Jugendkompanien aus Saarbrücken mit circa 3.000 Jugendlichen statt, bei der die Schlacht am Spicherer Berg nachgestellt wurde. Aufwand und Teilnehmerzahl dieser Übungen bröckelten im Verlauf des Krieges zwar ab, die staatliche Förderung militärischen Nachwuchseinrichtung blieb jedoch bis Kriegsende erhalten.
Unterrichtsorganisation und Unterrichtsinhalt der Schulen passten sich den Zeitläuften an. Seit Dezember 1914 verstanden sich Geschichte und Erdkunde als Gegenwartsunterricht und sollten Siegeszuversicht und Durchhaltewillen aufrechterhalten. Über die Kinder sollten die Eltern erreicht und motiviert werden. Elemente der Reformpädagogik drängten den altüberkommenen Schuldrill zurück. Die Zöglinge sollten Stunden der heiligen Erhebung und inneren Freude erleben statt Prügel und Zurechtweisungen. Fächerübergreifende Themen kamen zur Sprache, etwa Informationen über die Bedeutung des Goldgeldes für das Vaterland. ‚Kriegsstunden‘ behandelten in propagandistischer Weise einmal pro Woche die aktuelle militärische Lage.
Gegen Ende des Krieges häuften sich die Unterrichtsausfälle. An der Saarbrücker Oberrealschule erhielt die Einziehung der Oberstufe zum landwirtschaftlichen Dienst Vorrang. Die Volksschulen litten unter dem Aderlass, den die Einberufung der Lehrer zum Militärdienst verursachte. Sieben Lehrer der Evangelischen Knabenschule in Alt-Saarbrücken wurden einberufen. Im Januar 1915 mussten 20 Klassen von zwölf Lehrern betreut werden. Einzelne Schulen meldeten eine Verwilderung der Jungen. Als Ursache wurde das Fehlen des Vaters als Erzieher angesehen. Ein Burbacher Schulleiter erkannte im Dezember 1916 jedoch ein Warnzeichen, als er eine physische und psychische Erschöpfung seiner Schüler konstatierte und vor einer Übersättigung mit Kriegsthemen warnte.
9. Der Luftkrieg
Obwohl Saarbrücken im Ersten Weltkrieg mehr als 50 Kilometer von der Front entfernt lag, war es von militärischen Angriffen bedroht. Der technische Fortschritt ermöglichte Attacken aus der Luft. Wiederholte Luftangriffe führten zu einem hautnahen Erleben der Schrecken des modernen Krieges auch seitens der zivilen Bevölkerung, denn Bomben fielen auch auf Wohngebiete. Am 9.8.1915 kreiste zum ersten Mal ein feindliches Fluggeschwader über der Stadt. Infolge der staunenden Neugier der Bewohner kamen dabei 13 Menschen ums Leben und viele wurden verletzt, weil sie versäumten, sich in Sicherheit zu bringen. Angriffe und Alarmierungen wurden seit 1916 häufiger und erzeugten eine nervöse Spannung in der Stadt. Die Menschen verbrachten oft ganze Nächte in Luftschutzbunkern. Aufklärungskampagnen und Luftschutzübungen sollten die Gefahren minimieren.
Der Großraum Saarbrücken gehörte im Ersten Weltkrieg zu den bevorzugten Zielen von Luftangriffen der Ententemächte. Zwischen 1915 und 1918 war er Hunderten von Angriffen ausgesetzt, die zahlreiche Tote und Verletzte zur Folge hatten und großen Sachschaden anrichteten. Die angreifenden Flugzeuge warfen vorwiegend Splitterbomben ab. Eine Gefahr ging auch von der eigenen Abwehr aus, von den Geschossen der Flugabwehrgeschütze, die ihr Ziel verfehlten. In den beiden letzten Kriegsjahren eskalierte der Luftkrieg. Arbeiter, deren Werkswohnungen in der Umgebung der Betriebe lagen, sahen sich besonders der von oben kommenden Gefahr ausgesetzt. In Großunternehmen erhöhte sich die Zahl der Unfälle, denn die Belegschaften mussten sich in verdunkelten Werkshallen auf den Weg zu den Schutzräumen begeben.
Der Luftkrieg der Entente galt vornehmlich der Rüstungsproduktion und machte einschlägige Fabriken zu bevorzugten Zielen, des Weiteren galt er der Störung beziehungsweise Zerstörung der Eisenbahnverbindungen. Saarbrücken war als Durchgangsstation für Frontsoldaten, für in die Heimat zurückgeschickte Verwundete, für Kriegsmaterial und für Lebensmittel ständig einer großen Gefahr ausgesetzt. Bei einem Angriff auf den Saarbrücker Hauptbahnhof im Mai 1918 wurden über 60 Menschen verletzt oder getötet und mehrere Züge zerstört. Bei der Mehrzahl der Opfer handelte es sich um Soldaten, die auf dem Weg zur Front waren. Nach Luftangriffen kam es in Geschäftsvierteln wiederholt zu Plünderungen, Aufräumungsarbeiten wurden durch Blindgänger erschwert.
10. Kriegsende
Trotz des riesigen Leides, den der Krieg über die Menschen gebracht hatte, wirkte die Nachricht von der deutschen Kapitulation wie allenthalben im Deutschen Reich auch in Saarbrücken wie ein Trauma. Man klammerte sich an den Mythos des im Felde unbesiegten Heeres. Den letzten deutschen Soldaten, die am 21.11.1918 durch die Stadt zogen, wurde mit Fahnen, Girlanden und Ehrenpforten eine Kulisse geboten, die eine tiefe Reverenz zum Ausdruck brachte und zum Bestandteil der geschichtlichen Erinnerung wurde.
Den Schrecken des Krieges kaum entronnen, brachte die Wende zum Frieden für Saarbrücken eine neue unerwartete Härte, von der das Reich weitestgehend verschont blieb. Denn am 22.11.1918 rückte das französische Militär in die Stadt ein, um die Verwaltungshoheit und Exekutivmacht zu übernehmen – ein Vorgriff auf die Souveränitätsübernahme durch den Völkerbund, die der Versailler Vertrag, der am 10.1.1920 in Kraft trat, besiegelte. Die Besatzung durch eine feindliche Macht verstärkte die Wunden und die Leiden, die der verlorene Krieg geschlagen hatte. Zu einem konstruktiven Umgang mit den Lehren, die sich aus dem Ersten Weltkrieg ziehen ließen, war die zeitgenössische Bevölkerung der saarländischen Großstadt, die nun zu einem Regierungs- und Verwaltungszentrum im Völkerbundgebiet aufstieg, (noch) nicht in der Lage.
Literatur
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Gehlen, Rita, Ein einig Volk von Brüdern? Das „Augusterlebnis“ der Menschen an der Saar, S. 39-51.
Möhler, Rainer, „Ihr kämpft für uns, wir beten für Euch!“ Die evangelische und katholische Kirche im Saarrevier und der Erste Weltkrieg, S. 52-65.
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Nimmesgern, Susanne, „Konnt‘ ich auch nicht Waffentragen, half ich doch die Feinde schlagen“. Kriegsalltag an der Heimatfront, S. 81-93.
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Jacoby, Fritz, Kommunale Ernährungswirtschaft im Kriege. Das Beispiel Saarbrücken, S. 156-171.
Plettenberg, Inge, „Eine Schraube ohne Ende“. Die Saar-Industrie in der deutschen Kriegsproduktion 1914-1918, S. 172-189.
Ames, Gerhard, „Ein ungeheurer Faktor ist der Bergmann im Kriege …“ Die Saarbergleute und der Erste Weltkrieg, S. 195-205.
Laufer, Wolfgang, Kriegsgefangene im preußischen Saarbergbau, S. 206-221.
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Burg, Peter, Saarbrücken im Ersten Weltkrieg, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/saarbruecken-im-ersten-weltkrieg/DE-2086/lido/57d1376cb16501.46058993 (abgerufen am 09.12.2024)