Zu den Kapiteln
Bezeichnung und Vorgeschichte
Im Mittelniederdeutschen taucht der vornehmlich für Westfalen überlieferte Terminus „vest(e)“ im juristisch-administrativen Sprachgebrauch auf. Der Begriff Vest, der auch für Lüdenscheid, Gummersbach, Hagen und Schwelm sporadische Belege aufweist, spricht dabei auf einen Gerichtsbezirk, einen Jurisdiktionssprengel an, der später auch im allgemeinen Sinne eines Verwaltungsdistriktes verstanden wurde. Urkunden des 13. und frühen 14. Jahrhunderts bezeichnen das Vest Recklinghausen zunächst als iudicium; __1336 taucht in einer gegen Grenzverletzungen im Raum Dinslaken gerichteten klevischen Klageschrift erstmalig die Formulierung veste van Rekelychusen auf.
Bereits im Laufe des 8. Jahrhunderts hatte sich die Lippe zur Demarkationslinie für kölnische Missionseinflüsse im Süden und solchen aus Utrecht und Münster nördlich davon entwickelt, seit 794 zählte das (spätere) Vest Recklinghausen zum Einzugsbereich des Erzbistums Köln. Die Kölner Kirche wies spätestens seit dem 11. Jahrhundert auch einzelne grundherrschaftliche Rechte und Besitzungen im Umkreis der Pfarrei St. Peter in Recklinghausen auf, während die – insbesondere von den Grafen von Werl beeinflussten – weltlichen Machtverhältnisse im Emscher-Lippe-Raum vor dem 12. Jahrhundert kaum in Einzelheiten erkennbar sind.
Territoriale, kirchenpolitische und wirtschaftliche Entwicklung
Eine flächendeckende politische Herrschaft der Kölner Kirche über das Vest entfaltete sich erst im Zuge der Zerteilung des sächsischen ‚Großherzogtums’ Heinrichs des Löwen im Jahre 1180, wodurch die Kölner Erzbischöfe den westfälischen Dukat für sich in Anspruch nehmen konnten. Schon zwei Jahre zuvor (1178) war dem Erzbischof Philipp von Heinsberg durch päpstliches Privileg die Hoheit über die westfälischen Gogerichte zugesprochen worden, die Kölner Kirche konnte auf dieser Grundlage gräfliche Rechte nebst deren Hochgerichtskompetenzen auch im Raum Recklinghausen an sich ziehen.
Der Ausbau des werdenden Territoriums zwischen Emscher und Lippe, das auch eine eigene Ministerialität hervorbrachte, vollzog sich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. In den Pontifikaten Heinrichs von Müllenark und Konrads von Hochstaden kam es zu den beiden Stadtgründungen (oppida) Recklinghausen (1236) und Dorsten (1251). Hinzu traten im 14. Jahrhundert die Freiheiten Buer und Horst (beide heute Stadt Gelsenkirchen). Seit etwa 1400 war das Vest Recklinghausen eine kurkölnische Exklave, deren Grenzen zwischen Osterfeld (heute Stadt Oberhausen), Sterkrade (heute Stadt Oberhausen), Bottrop, Kirchhellen (heute Stadt Bottrop) sowie dem sogenannten Köllnischen Wald im Westen und Waltrop im Osten lagen, wo vor Mengede (heute Stadt Dortmund) und Brambauer (heute Stadt Lünen) das Territorium der Reichsstadt Dortmund erreicht war. Die Zerrüttung der erzstiftischen Finanzen im Episkopat Erzbischofs Dietrich von Moers (1414–1463) führte 1444 zur Verpfändung des Vestes an die Grafen von Gemen beziehungsweise Schaumburg-Holstein, aus deren Pfandbesitz es erst 1576 wieder gelöst wurde. Mit dem 15. Jahrhundert wurde das Vest Recklinghausen, das auch in die Ämterverfassung der kölnischen Territorien integriert war, Teil des rheinischen Erzstiftes; die vestischen Landstände traten 1515 förmlich der rheinischen Erblandesvereinigung bei.
Reformatorische Einflüsse blieben von Anfang an so gering, dass das Vest schon ab den 1520er Jahren ein konsistentes kurkölnisch-katholisches Kleinterritorium und damit Teil der Germania sacra blieb: Die naturräumliche „Insellage“ inmitten breiter – bis ins späte 19. Jahrhundert nahezu unbesiedelter – Bruchlandschaften an Emscher und Lippe (zugleich die Grenzflüsse zur Grafschaft Mark beziehungsweise zum Reichsstift Essen im Süden sowie zum Fürstbistum Münster im Norden), die dadurch verursachte Verkehrsarmut, die unterentwickelte Urbanität, welche den kommunalen Strang der frühen Reformation nicht aufkommen ließ, das Fehlen reformorientierter Kollegiatstifte und Konvente in den beiden Städten sowie der dominierende theologische Einfluss des Kölner Buchdrucks und der Kölner Universität auf den vestischen Säkularklerus waren die wichtigsten Faktoren für das Weiterbestehen überkommener Bindungen an die Kölner Kirche.
Tonangebend für religiöses Leben und Spiritualität blieben Franziskaner, Augustinessen und individuelle Stiftungsfrömmigkeit vornehmlich in den beiden Stadtpfarreien. Eine 1569 unter Erzbischof Salentin von Isenburg durchgeführte Visitation – die einzige, die in den rechtsrheinischen Territorien des Kölner Kurstaates durchgeführt wurde – dokumentierte in der Glaubenspraxis und beim Landklerus einige proto-reformatorische Befunde, die jedoch keinen Bestand hatten. 1577, im Zuge der gegenreformatorischen Konsolidierung des Erzbistums Köln, erhielt das Vest eine neue land- und verfassungsrechtliche Grundlage in Gestalt des Salentinischen Rezesses, der bis 1802 gültig blieb. Der Kölner Krieg bescherte Stadt und Vest Recklinghausen 1584 Kämpfe zwischen truchsessischen und bayerisch-spanischen Truppen.
Zum wichtigsten Stützpunkt der Landesherrschaft, die durch einen adeligen Statthalter auf Schloss Herten repräsentiert war, entwickelte sich in der Frühen Neuzeit die Oberkellnerei Horneburg als Sitz des kurkölnischen Fiskus, wo 1660 ein Lagerbuch aller grundherrschaftlicher Einkünftequellen angelegt wurde. Auch kirchenpolitisch verfestigten sich die Strukturen: 1612, unter Erzbischof-Kurfürst Ferdinand von Bayern, formierte sich das mit organisatorischen Sonderrechten ausgestattete sogenannte commissariatus Vestanus, das heißt ein dem Kölner Generalvikariat unmittelbar unterstellter Rest- und Rumpfsprengel des um 1570 untergegangen Dekanats Dortmund.
Die stringente Konfessionalisierung des Vestes ging mit verstärkten Hexenverfolgungen einher; dabei haben im rheinisch-westfälischen Raum die kurfürstlichen Gerichte in Dorsten und Recklinghausen im späten 16. Jahrhundert als Hochburgen dieser besonderen Strafjustiz zu gelten. 1615 wurde das Ferdinandeische Religionsedikt auch im Vest Recklinghausen in Kraft gesetzt, dessen politische und kirchliche Grenzen nun deckungsgleich waren. Die Etablierung von Franziskaner-Observanten in Recklinghausen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts führte zu weiterer gegenreformatorischer Konsolidierung im Bereich Schulwesen, Seelsorge und höherer Bildung. Insbesondere an der Emscher bildete sich im 17. Jahrhundert eine einschneidende Konfessionsgrenze gegenüber der brandenburgischen Grafschaft Mark.
Dorsten und Recklinghausen, seit 1557 formell Dortmunder Beistädte im westfälischen Hansequartier, verharrten bis an die Schwelle der Industrialisierung auf dem Entwicklungsstand von sogenannten Ackerbürgerstädten. Lokale Münzemissionen insbesondere des 13. und 17. Jahrhunderts (Denare, Weißpfennige, Stüber) blieben gegenüber der dauerhaften Dominanz Kölner, Dortmunder und Münsterischer Prägungen sporadisch. Das Vest Recklinghausen einschließlich seiner Unterherrschaften Horst und Westerholt (heute Stadt Herten) blieb bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts agrarisch-kleinbäuerlich geprägt und wurde vom Aufstieg des Ruhrbergbaus nicht erfasst. Das städtische Gewerbe produzierte vornehmlich für regionale Absatzmärkte. Der sogenannte. Gahlener Kohlenweg verband ab circa 1770 auf preußisches Betreiben das märkische Steinkohlenrevier bei Hattingen über Weitmar (heute Stadt Bochum) und Eickel (heute Stadt Herne) mit dem klevischen Gahlen (heute Gemeinde Schermbeck), einem Grenz- und Hafenort am Unterlauf der Lippe. Diese Straßenverbindung und die Lippe-Schifffahrt als solche brachten im späten 18. Jahrhundert das sogenannte Niedervest um Dorsten mit überregionalen Wirtschaftsbeziehungen in Berührung.
Säkularisation und Untergang
1794/1795 traten Max Franz von Österreich , letzter Kölner Kurfürst und Erzbischof, sowie der kurkölnische Hofrat vor anrückenden französischen Revolutionsheeren über Dorsten und Recklinghausen den Rückzug ins Herzogtum Westfalen an. Nach staatsrechtlichem Untergang Kurkölns 1802/1803 im Zuge der Säkularisation übernahmen die Herzöge von Arenberg in unveränderten Grenzen die Landeshoheit über das Vest Recklinghausen, das in kartographischen und diplomatischen Dokumenten um 1800 meist als „Grafschaft“ oder Comté (de) Re(c)klinghausen bezeichnet wurde. Den Reichsfürsten von Arenberg waren auf dem Regensburger Reichsdeputationshauptschluss rechtsrheinisch gelegene Entschädigungslande für die vollständigen Gebietsverluste in Wallonien und in der Nordeifel zugesprochen worden; ab 1803 erfolgte seitens der Arenberger die Vermögenssäkularisation der meisten geistlichen Institute.
Syndikus des Hauses Arenberg für staats- und organisationsrechtliche Belange im Vest Recklinghausen war ab Herbst 1802 der ehemalige kurkölnische Hofrat Heinrich Gottfried Wilhelm Daniels. Napoleonisch beeinflusste Reformgesetzgebung und die Zugehörigkeit des Herzogtums Arenberg-Recklinghausen zum Rheinbund ab 1806 zogen rechtliche, administrative und soziale Modernisierungen nach sich – erstmals seit Beginn des 17. Jahrhunderts ließen sich Protestanten und Juden wieder zwischen Emscher und Lippe nieder. Anfang 1811 wurde das Herzogtum Arenberg-Recklinghausen vom Großherzogtum Berg annektiert und war mit kaum mehr als 30.0000 Einwohnern nur mehr ein Kanton im Arrondissement Essen (Département Ruhr). Nach Ende des Großherzogtums Berg im November 1813 und nach preußischer Interimsverwaltung ging das vormalige Vest Recklinghausen, im Nordwesten erweitert um das Gebiet der ehemaligen Herrlichkeit Lembeck, im August 1816 als neu gegründeter preußischer Kreis an den Regierungsbezirk Münster und die Provinz Westfalen über.
Nachleben
Letzte historische Bindungen der Emscher-Lippe-Region an die Kölner Kirche lösten sich erst in den 1820er Jahren: Durch Neugestaltung der Diözesangrenzen in den Ländern des Königreichs Preußen auf Grundlage der päpstlichen Bulle „De salute animarum“ (1821) verlor das (wiederhergestellte) Erzbistum Köln seine räumliche Zuständigkeit östlich der Rheinprovinz: Der „Commissariat Recklinghausen“ wechselte daher 1823 zum neuen Bistum Münster und blieb ab 1825 als Landdekanat Recklinghausen als eigene kirchliche Verwaltungseinheit bestehen. Während über weite Strecken des 19. Jahrhunderts die alteingesessene Bezeichnung Vest Recklinghausen außer Gebrauch kam, revitalisierte sich dieser Traditionsbegriff ab 1890 durch die örtliche Heimatschutzbewegung nachhaltig, die sich der durchgreifenden Überformung der Region durch die Montanindustrie entgegenstellte. Von dort aus entstanden im Laufe des 20. Jahrhunderts regionaltypische Bezeichnungen wie Vestische Zeitschrift, Vestisches Museum, Stadt- und Vestisches Archiv und Vestische Straßenbahnen GmbH, die sich bis heute auf zahlreiche andere Institutionen, Veranstaltungen, Vereine und Korporationen ausgedehnt haben.
Quellen (Auswahl)
Scotti, J[ohann] J[osef] (Hg.), Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem vormaligen Churfürstenthum Cöln (im rheinischen Erzstifte Cöln, im Herzogthum Westphalen und im Veste Recklinghausen) über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind, Abt. 1-2 in 5 Teilen, Düsseldorf 1830-1831, abrufbar unter: https-blank://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:5:1-44 (Stand: 5.6.2019)
Litaratur
Janssen, Wilhelm, Die Erzbischöfe von Köln und ihr „Land“ Westfalen im Spätmittelalter, in: Westfalen 58 (1980), S. 82-95.
Heinz Finger, Das kurkölnische Vest Recklinghausen und seine Beziehungen zu Dompropst und Domkapitel im Zeitalter von Reformation und Katholischer Reform, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein insbesondere das alte Erzbistum Köln 212 (2009), S. 203-233.
Kordes, Matthias, Lateran 1178 und Gelnhausen 1180. Zur nominellen Herrschaftsübernahme Westfalens und des Emscher-Lippe-Raumes durch den Kölner Erzbischof Philipp I. von Heinsberg, in: Haas, Reimund (Hg.), Fiat Voluntas tua.
Festschrift zum 65. Geburtstag von Harm Klueting am 23. März 2014, Münster 2014, S. 531-545.
Kordes, Matthias, Vom Commissariatus Vestanus zum Dekanat Recklinghausen.
Der Übergang des Vestes Recklinghausen vom Erzbistum Köln zum Bistum Münster 1815–1825, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 211 (2008), S. 157-190.
Kordes, Matthias, Die Reformationszeit im kurkölnischen Vest Recklinghausen – Ein westfälisches Kleinterritorium in katholischer Resilienz, in: Geck, Albrecht (Hg.), Das Dreifachjubiläum im Evangelischen Kirchenkreis Recklinghausen. 500 Jahre Reformation – 200 Jahre Preußische Union – 110 Jahre Evangelischer Kirchenkreis Recklinghausen, Münster 2018, S. 17-46.
Pätzold, Stefan, Ortsbestimmung: Recklinghausen in den Gebotsbereichen des Adels in Westfalen, des sächsischen Herzogs und des Kölnischen Erzbischofs während des 11. Jahrhunderts, in: Vestische Zeitschrift 107 (2018/19), S. 5-27.
Neu, Peter, Die Arenberger und das Arenberger Land, Band 4: Das 19. Jahrhundert. Vom Souverän zum Standesherrn, Koblenz 2001.
Storm, Monika, Das Herzogtum Westfalen, das Vest Recklinghausen und das rheinische Erzstift Köln, in: Klueting, Harm (Hg.), Das Herzogtum Westfalen, Band 1: Das kurkölnische Herzogtum Westfalen von den Anfängen der kölnischen Herrschaft im südlichen Westfalen bis zur Säkularisation 1803, Münster 2009, S. 343-362.
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Kordes , Matthias, Vest Recklinghausen, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://rheinische-geschichte.lvr.de/Orte-und-Raeume/vest-recklinghausen/DE-2086/lido/5ca73649d2eb62.59697228 (abgerufen am 06.10.2024)